Welche Ursachen können Schmerzerkrankungen haben? Und welche Behandlungsmöglichkeiten bestehen bei Nervenschmerzen? Über diese Fragen und viele mehr hat Schmerzexperte Prof. Dr. Sven Gottschling mit FORUM gesprochen.

Herr Prof. Dr. Gottschling, welche Ursachen können chronische Schmerzen haben?
Die Ursachen sind hier genauso vielfältig wie die verschiedenen Formen chronischer Schmerzen. Es reicht von chronischen Kopfschmerzen vom Spannungstyp – wenn man zum Beispiel dauernd Stress mit seinem Chef hat – bis hin zu chronischen Hüftschmerzen oder Kniegelenkschmerzen bei Abnutzungserscheinungen. Ein riesengroßer Punkt sind auch chronische Rückenschmerzen. Hierzu ist zu sagen, dass rund 85 Prozent aller chronischen oder chronifizierten Rückenschmerzen gar nicht auf echte strukturelle Störungen zurückzuführen sind. Das heißt, es ist gar nichts wirklich kaputt, sondern es finden sich Blockaden oder Muskelverspannungen, die diese Probleme dann bedingen. Wichtig ist zu wissen, dass man Akutschmerzen unbedingt von chronischen Schmerzen unterscheiden muss.
Worin unterscheiden sie sich?
Akutschmerzen sind eine wesentliche und auch überlebensnotwendige Schutz- und Warnfunktion des Körpers, die zum Beispiel dafür sorgen soll, dass man mit einem gebrochenen Zeh eben keinen Marathon-Lauf absolviert oder dass es eine gute Idee wäre, die Hand möglichst schnell von der heißen Herdplatte zu ziehen.
Chronische oder chronifizierte Schmerzen sind eine eigenständige Erkrankung. Hier hat der Schmerz seine eigentliche Warn- und Schutzfunktion verloren und wird zu einer zum Teil sehr beeinträchtigenden eigenen Erkrankung.
Welche Therapien und Medikamente werden bei chronischen Schmerzen meist angewandt?
Das ist so global ein bisschen schwierig zu beantworten, weil man natürlich bei der chronischen Migräne ganz andere Methoden anwendet, als zum Beispiel beim chronischen Schmerz des unteren Rückens. Es gibt eine Vielzahl verschiedener Behandlungsmethoden. Das reicht von Physiotherapie, Entspannungsverfahren, Akupunktur, transkutaner elektrischer Nervenstimulation bis hin zu Quaddelungen. Man kann auch mit verschiedensten Medikamenten chronische Schmerzen angehen. Es gibt Medikamente, die sich direkt schmerzlindernd auswirken. Die Klassiker, die man so kennt, wie Ibuprofen, Diclofenac, aber auch stärkere Medikamente, zum Beispiel aus der Familie der Opioide, etwa Morphin. Es gibt aber auch eine ganze Reihe von Medikamenten, die nicht per se Schmerzmedikamente sind, zum Beispiel muskelweichmachende Substanzen bei Verspannungen, aber auch Substanzen aus der Familie der Antidepressiva oder der antiepileptischen Medikamente, die sich zum Teil schmerzdistanzierend oder schmerzantichronifizierend auf das Schmerzgedächtnis auswirken können. Es braucht in jedem Fall aber eine entsprechende vorangeschaltete Diagnostik, damit man auch wirklich erfassen kann, mit welchem Schmerz man es zu tun hat. Ist es ein reiner Oberflächenschmerz? Ist es ein tiefer Gewebeschmerz? Sind da Nervenschmerzanteile dabei? Sonst greife ich unter Umständen zu den falschen Methoden und kann Beschwerden damit sogar noch verschlechtern.
Warum müssen Nervenschmerzen anders behandelt werden?
Weil die eigentliche Schmerzart, ob normale Gewebe- oder Oberflächenschmerzen oder eben Nervenschmerzen völlig andere Ursachen haben und einer völlig anderen Behandlung zugeführt werden müssen. So reagieren Nervenschmerzen typischerweise kaum bis überhaupt nicht auf frei verkäufliche Schmerzmedikamente aus der Apotheke. Hier haben wir Nervengewebe, das in der Regel durch eine Verletzung oder auch Entzündung eine Schädigung erfahren hat und dadurch reagiert, in dem es verschiedene Rezeptoren verändert und oftmals hochreguliert. Das heißt, wir haben besonders empfindsames Gewebe. Man muss sich das ungefähr so vorstellen wie normale gesunde Haut, die einen Sonnenbrand abbekommt. Die wird ja auch dramatisch viel empfindlicher und genauso werden auch im Nervengewebe Schmerzrezeptoren hochgeregelt.

Welche Medikamente helfen?
Gerade Nervenschmerzen sprechen insbesondere gut an auf Substanzen, die dafür gar nicht entwickelt wurden und die eigentlich auch keine echten Schmerzmedikamente sind.
An Stelle eins sind hier zu nennen: Antidepressiva und Medikamente gegen Epilepsie. Das Warum ist relativ einfach zu verstehen: Bei einer Epilepsie oder bei einer Depression haben wir zum Beispiel Übererregbarkeitszustände im Gehirn beziehungsweise ein Ungleichgewicht verschiedener ausgeschütteter Neurotransmitter. Und genau diese gleiche Imbalance existiert auch in einem verletzten oder entzündeten Nervengewebe, und daher wirken die genannten Substanzen auch auf diese Nervenstrukturen beruhigend. Wenn diese Substanzen nicht helfen, kann man auch mit oberflächlichen Antinervenschmerz-Medikamenten helfen, die es als Pflaster oder Cremesysteme gibt. Die nächste Stufe wäre dann die Gabe von Opioiden. Und auch Cannabinoide spielen insbesondere bei Nervenschmerzen durchaus auch eine hilfreiche Rolle.
Viele greifen bei Schmerzen oft zu Ibuprofen, Acetylsalicylsäure (ASS) oder Novaminsulfon. Wie oft sollte man diese Mittel einnehmen?
Ganz grundsätzlich möchte ich bei den drei genannten noch ein bisschen feiner differenzieren. Ibuprofen und Acetylsalicylsäure gehören in eine Medikamentenfamilie, unter die man zum Beispiel auch noch Diclofenac hinzunehmen kann. Diese Substanzen haben im Vergleich zu Novaminsulfon ein erheblich höheres Risiko, Magen-Darm-Blutungen auszulösen beziehungsweise auf die Dauer Nierenschäden zu setzen und sie gehen – außer bei Acetylsalicylsäure – auch mit einem etwa dreifach erhöhten Herzinfarkt- und Schlaganfallrisiko für die Konsumenten einher. Von dem her sollte man gerade als Gefäßpatient besonders vorsichtig sein.
Meine persönliche Faustregel ist eigentlich, dass man eine Medikamenteneinnahme pro Monat von maximal fünf Tagen anpeilen sollte. Ich weiß, dass es viele Kollegen gibt, die sagen, auch bis zehn Tage wäre in Ordnung. Man sollte sich aber dessen bewusst sein, dass sich der Körper jede einzelne Ibuprofen-Tablette im Leben merkt und dass schon bei zehn Einnahmetagen im Monat bereits nach 15 bis 20 Jahren ein Nierenversagen auftreten kann. Ganz generell sind das einfach keine Substanzen für eine Daueranwendung. Das bedeutet, wenn ich das Gefühl habe, ich muss diese Substanzen eigentlich täglich nehmen, um mit meinen Schmerzen klarzukommen, sollte man unbedingt auf andere Substanzklassen eingestellt werden. Das kann dann aber auch nur über den Arzt erfolgen, weil alle anderen Schmerzmedikamente, insbesondere auch potentere, verschreibungspflichtig sind.
Welche Wechselwirkungen müssen Menschen beachten, die Schmerzmittel einnehmen?
Es gibt zum Beispiel Wechselwirkungen bestimmter Schmerzmedikamente mit Cortison, was zu einer dramatischen Erhöhung des Magen-Darm-Blutungsrisikos führen kann. Menschen, die niedrig dosiert als Herzinfarkt- oder Schlaganfallprophylaxe ASS einnehmen, sollten nicht zeitgleich zum Beispiel Ibuprofen oder Diclofenac einnehmen, weil damit die Gefäßschutzwirkung unter Umständen aufgehoben wird. Und besondere Vorsicht sollte man natürlich auch immer dann walten lassen, wenn Vorschädigungen der Niere bekannt sind.
Sie haben einmal gesagt, dass bei chronisch gewordenen Schmerzerkrankungen opioidhaltige Schmerzmittel anstelle nicht opioidhaltiger Schmerzmittel sinnvoll sind. Besteht hier nicht Gefahr, abhängig zu werden?
Es ist richtig, dass es ein gewisses Risiko für die Entwicklung von Abhängigkeiten unter der Einnahme von Opioiden gibt. Aber: Wenn wir jetzt nach USA schielen und uns die wirklich dramatische Opioid-Krise anschauen und hier dann zu uns nach Deutschland blicken, dann fällt ja schon durchaus auf, dass wir diese Probleme, die es in den USA unbenommen gibt, nicht haben.
Warum ist das so?

Weil wir hier in der Regel eine sehr viel verantwortungsvollere Therapie durchführen. Das bedeutet, dass wir Opioid-Schmerzmedikamente im Wesentlichen als langwirksame Tabletten oder Pflastersysteme anwenden, wohingegen in den USA häufig schnell und kurzwirksame Substanzen eingesetzt werden. Diese fluten viel schneller an, machen durchaus auch beim ein oder anderen ein entsprechendes High-Gefühl, und darüber steigt das Risiko dramatisch, immer häufiger immer höhere Dosierungen haben zu wollen, weil das Gefühl so schön ist. Bei niedrig dosierten langwirksamen Opioiden ist dieses Risiko dramatisch niedriger. Man muss unterscheiden zwischen der körperlichen Abhängigkeit und der psychischen Abhängigkeit, die im Volksmund dann auch Sucht genannt wird. Bei entsprechend kontrolliert eindosierten Opioiden mit Langzeitwirkung kann man den Aspekt der psychischen Abhängigkeit mehr oder minder abhaken, der wird nicht eintreten. Was aber passiert, ist ein körperlicher Gewöhnungseffekt.
Was heißt das?
Das bedeutet, wenn ich so ein Medikament über einen gewissen Zeitraum gebe und dann abrupt absetze, wird sich der Körper beschweren im Sinne einer Entzugssymptomatik. Daher sollte man Opioide, wenn man sie über einen gewissen Zeitraum gegeben hat, auch nochmal behutsam ausschleichen. Dann passiert hier in der Regel überhaupt nichts. Die allermeisten von uns sind schon irgendwann in ihrem Leben operiert worden oder haben irgendeinen anderen Eingriff im Krankenhaus erfahren, und ich verrate Ihnen ein Geheimnis: Alle haben während der Operation oder während des Eingriffs ein Opioid bekommen. Und was ist passiert? Nichts! Also es ist immer eine Frage der Dosis und auch der Therapiesteuerung. Von dem her sollten diese Substanzen auch wirklich nur von Ärzten eingesetzt werden, die sich damit auskennen. Dann sind das extrem segensreiche und auch sichere Medikamente.
Sie haben schon vielen Menschen mit langer Leidensgeschichte die Schmerzen genommen. Welche Erfolge sind Ihnen besonders in Erinnerung geblieben?
Das sind so viele schöne kleine Geschichten. Wenn einen Kinder in den Arm nehmen, weil es ihnen besser geht. Wenn man gerührte Eltern vor sich sitzen hat, die sagen, dass sie endlich nochmal ein fröhliches Kind vor sich sitzen haben. Ich hatte kürzlich eine junge Frau, 20 oder 21 Jahre alt, vor mir sitzen, die – nachdem wir gut drei Monate intensivst an ihrer Schmerztherapie gefeilt haben – gesagt hat, sie fühlt sich erstmals in ihrem Leben wieder wie eine unbelastete Frau Anfang 20 und nicht wie ein hilfloses Häufchen Elend, das sich am liebsten den ganzen Tag nur in seinem Zimmer verkriechen möchte. Und ein besonders schönes Erlebnis ist ein Patient von mir, mittlerweile darf ich durchaus sagen ein Freund, dem zum Beispiel eine cannabinoidhaltige Schmerztherapie so geholfen hat, dass er nochmal Freude am Leben gefunden hat und wir regelmäßig zusammen DJ-Auftritte feiern können. Vor der Optimierung der Schmerztherapie absolut undenkbar und für diesen Patienten Anfang 30 schon seit dem Kindergarten der Nummer-eins-Berufswunsch.

Was mir auch immer wieder riesigen Spaß macht, sind wirklich so Kleinigkeiten. Das heißt, jemand kommt mit einem akuten Hexenschuss, ich setze drei, vier Akupunkturnadeln und dieselbe Person, die kaum in den Raum reinlaufen konnte, tanzt wieder aus dem Zimmer.
Sollten sich Menschen mit chronischen Schmerzen am besten gleich gezielt an einen Schmerzmediziner wenden?
Ich bin der Meinung, dass immer dann, wenn Schmerzen chronifizieren, tatsächlich der Fachmann hinzugezogen werden sollte. Spätestens hier wird es dann nämlich zunehmend komplizierter und für alle Beteiligten auch frustrierend. Der wirkeffektivste Ansatz ist ein multimodaler, unter Einbezug verschiedener Fachdisziplinen. Der einzige Wermutstropfen ist, dass über 20 Millionen chronisch schmerzkranken Menschen in Deutschland gerade mal 1.200 weitergebildete Schmerztherapeuten zur Verfügung stehen. Hier müssten eigentlich viel mehr Kollegen weiterqualifiziert werden und auch entsprechende Anreize geschaffen werden, damit das auch für die Kollegen attraktiv ist. Denn Bedarf, sprich schmerzgeplagte Menschen, gibt es unfassbar viele. Man sollte auch bedenken, dass gut gemachte individuelle Schmerztherapie eben auch nicht ganz so trivial ist, wie der ein oder andere sich das vorstellt. Nicht ohne Grund ist das eine einjährige Vollzeit-Weiterbildung plus noch ein zusätzlicher 80-Stunden-Theoriekurs. Schmerzmedizin ist wirklich nichts, was man sich an zwei Wochenendkursen draufschaffen kann.