Selbst Mediziner sind zuversichtlich, mit Semaglutid einen Gamechanger gefunden zu haben. Der Wirkstoff soll erfolgreichs bei der Behandlung von Übergewicht sein.
Die ewige Sehnsucht nach der Traumfigur könnte wohl schon bald gestillt werden. Diesen Eindruck weckt jedenfalls der Hype, der vor allem in den USA seit etlichen Monaten rund um einen Wirkstoff ausgebrochen ist, der ursprünglich nur für die Behandlung von Diabetes vorgesehen war. 2021 wurde er aber in den USA und ein Jahr später auch in der EU für den Einsatz im Kampf gegen starkes Übergewicht zugelassen. Spätestens seit der 51-jährige Tech-Milliardär Elon Musk die Frage nach dem Geheimrezept für sein jugendliches, fit-gesundes Aussehen mit „Fasten. Und Wegovy“ beantwortet hatte, gab es in den sozialen Medien kein Halten mehr. Allein auf Tiktok verzeichneten die Hashtags #Ozempic und #Wegovy über 600 Millionen Aufrufe. Dabei handelt es sich um Handelsnamen für Medikamente mit dem Wirkstoff Semaglutid. Kein Wunder, dass auch eine ganze Reihe von Hollywood-Stars das Wundermittel gleich mal ausprobiert hat, und dass natürlich Kim Kardashian an vorderster Front ganz begeistert vom mühelosen Dahinschmelzen überschüssiger Pfunde berichtet hatte.
Im Unterschied zu den unzähligen Abnehm-Pillen, die seit vielen Jahren mit wohlklingenden Versprechen genau diesen erwünschten, aber niemals erreichten Effekt herausposaunen, kann Semaglutid wirklich liefern. Dies konnte zusätzlich durch aktuelle wissenschaftliche Studien bestätigt werden. Eine gewährleistete Gewichtsreduktion von 15 bis 20 Prozent ist ein schlagendes Argument für Semaglutid. Renommierte hiesige Mediziner haben allerdings unisono die vorschnellen Hoffnungen auf eine neue Lifestyle- oder Beauty-Geheimwaffe gedämpft. Semaglutid ist nämlich in dem Markenprodukt Wegovy des dänischen Pharma-Unternehmens Novo Nordisk ein verschreibungspflichtiges und hochpreisiges sowie von den hiesigen gesetzlichen Krankenkassen nicht übernommenes Medikament gegen Adipositas.
Hochpreisiges Medikament
Ob es jedoch auf Dauer aus der Lifestyle-Ecke herausgehalten werden kann – zumal die internationale Pharma-Industrie bereits effektivere Medikamente als Wegovy in der Pipeline hat – dürfte doch ziemlich fraglich sein. Wer es sich finanziell leisten kann, wird künftig wie Musk oder Kardashian Wege finden, an das Wundermittel heranzukommen. Das lässt derzeit die bereits gigantische Nachfrage nach Wegovy in den USA vermuten. Der Hersteller kommt mit dem Produzieren kaum mehr hinterher und konnte daher das Medikament auch noch nicht nach Deutschland ausliefern. Selbst die renommierte deutsche Übergewichts-Spezialistin Anja Hilbert, Professorin für Verhaltensmedizin und psychologische Leiterin der Adipositas-Ambulanz am Universitätsklinikum Leipzig, hielt es in einem MDR-Beitrag für relativ wahrscheinlich, dass Semaglutid und Co. zu Lifestyle-Medikamenten aufsteigen könnten: „Ich sehe das immer so ein bisschen ähnlich wie die Trends zu Fettabsaugung oder plastischer Chirurgie. Das wird sich, denke ich, auf Dauer nicht wirklich verhindern lassen.“
Zunächst einmal wird Semaglutid aber zur Bekämpfung von Adipositas eingesetzt werden. Laut dem Robert-Koch-Institut sind mehr als die Hälfte aller deutschen Frauen und zwei Drittel aller Männer von Übergewicht betroffen. Ein Viertel der hiesigen Erwachsenen leidet an Adipositas, die gerade auch bei jüngeren Menschen und Jugendlichen auf dem Vormarsch ist. Schließlich gelten hierzulande bereits etwa 15 Prozent der unter 18-Jährigen als übergewichtig. Übergewicht und Adipositas werden längst als Mitursache für viele Beschwerden und Förderer für die Entwicklung chronischer Krankheiten angesehen, beispielsweise von Bluthochdruck, Herz-Kreislauf-Störungen, Diabetes, Fettgewebe-Störungen oder Leber- und Nierenerkrankungen.
Semaglutid zählt zu einer ganzen Gruppe von Wirkstoffen, die ursprünglich für die Behandlung von Diabetes Typ 2 entwickelt wurden. Es beeinflusst das Sättigungsgefühl, zudem verlangsamt es die Magenentleerung und kann durch die Aktivierung bestimmter neuronaler Regelkreise im Gehirn den Appetit zügeln. Der Wirkstoff Semaglutid wurde erstmals 2018 in einer klinischen, im Fachjournal „The Lancet“ publizierten Studie mit 900 Teilnehmenden mit einem BMI über 30 gezielt als mögliches Medikament gegen Adipositas getestet. In der höchsten Dosierung konnte dabei eine Gewichtsabnahme von bis zu 17 Prozent erzielt werden, ohne dass dabei kritische Nebenwirkungen aufgetreten waren. Schon damals hatten die an der Studie beteiligten Forschenden von einer „neuen Ära der pharmakologischen Adipositas-Therapie“ gesprochen.
Urpsrünglich für Diabetes Typ 2
Das zuvor bereits genannte Medikament Wegovy von Novo Nordisk konnte auch das in Deutschland zugelassene Liraglutid (Handelsname: „Saxenda“) in den Schatten stellen. Denn Wegovy, mit dem Wirkstoff Semaglutid zur Gewichtsreduzierung, ist nicht nur deutlich effizienter, sondern es muss nur einmal wöchentlich injiziert werden, während Liraglutid täglich verabreicht werden muss. Ein wichtiges Erfolgskriterium von Wegovy ist natürlich auch, dass es explizit als Medikament zur Behandlung von Adipositas zugelassen wurde – in der EU ab einem BMI über 30 oder ab einem BMI größer als 27, sofern schon zusätzlich gewichtsbedingte Gesundheitsprobleme wie Diabetes oder Bluthochdruck vorliegen.
Gepusht wurde der Hype um Semaglutid durch eine im März 2021 im Fachmagazin „The New England Journal of Medicine“ veröffentlichte Studie, an der 1.961 erwachsene Probanden mit einem BMI von 30 oder höher (aber ohne Diabetes-Erkrankung) über einen Zeitraum von 68 Wochen teilgenommen hatten. Ein Teil der Gruppe injizierte einmal wöchentlich in kontinuierlicher Dosis-Steigerung, um die Nebenwirkungen mit Übelkeit an der Spitze möglichst klein zu halten, bis zu 2,4 Milligramm Semaglutid unter die Haut. Bei der Kontrollgruppe handelte es sich jeweils um ein Placebo. Im Median lag die Gewichtsreduktion der Semaglutid-Gruppe nach Studien-Ende bei 14,9 Prozent (oder im Schnitt bei 15,3 Kilogramm), bei einem Drittel der Probanden sogar bei mehr als 20 Prozent. Bei der Placebo-Gruppe lag der Wert bei 2,4 Prozent (2,6 Kilogramm). „Kein anderes Medikament hat bisher auch nur annähernd eine derartige Gewichtsabnahme erreicht“, so das Resümee des Studien-Teams.
Aus dem Kreis der wichtigsten deutschen Adipositas-Experten waren keinerlei kritische Töne bezüglich Semaglutid oder Wegovy zu vernehmen. Ganz im Gegenteil wurde das Medikament beziehungsweise der Wirkstoff begeistert gefeiert. Professorin Anja Hilbert: „Das ist ganz klar ein Game-Changer in der Adipositas-Therapie. Wenn wir die Therapie tatsächlich für die Adipositas abrechenbar machen können, wird es uns, denke ich, im Gesundheitswesen sehr viel weiterhelfen. Die Menschen werden gesünder und schlanker werden.“ Prof. Jens Aberle, Präsident der Deutschen Adipositas Gesellschaft und ärztlicher Leiter des Adipositas-Centrums des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf: „Game-Changer ist ein Schlagwort, das hier absolut zutrifft. Wir hatten noch nie Medikamente, die auch nur in der Nähe einer Effektivität waren, wie wir es jetzt erleben. Dazu sind sie auch noch sicher, mit guten Endpunktstudien, die uns vorliegen.“ Der Gesetzgeber müsse dringend den Weg für die Kostenübernahme des Medikaments durch die Krankenkassen freimachen. Dass Menschen mit starkem Übergewicht ihre Behandlung aus eigener Tasche bezahlen sollen, sei, so Prof. Aberle, ein „Ausdruck der allgegenwärtigen Stigmatisierung der Betroffenen“. Nur wenige Betroffene könnten die Kosten für die Behandlung langfristig aus eigener Tasche bezahlen: „Die fehlende Kostenübernahme erschwert eine evidenzbasierte Behandlung enorm“, so Prof. Aberle.
Bisher keine Kostenübernahme
Möglichst schnell geklärt werden müssen etwaige Effekte einer Langzeit-Einnahme von Semaglutid, weil es sich dabei um eine lebenslange Therapie handelt. Denn ein Absetzen birgt sogleich die Gefahr einer neuerlichen Gewichtszunahme, sofern die Patienten während der Einnahme ihren Lebensstil und ihre Ernährungsgewohnheiten nicht grundlegend geändert haben, zeigte eine weitere Studie. Bei der Abwägung zwischen möglichen Nebenwirkungen wie Übelkeit, Verdauungsstörungen oder einem erhöhten Risiko zur Ausbildung von Gallensteinen und den positiven Gesundheitsauswirkungen bei den Betroffenen schlagen sich sämtliche Mediziner auf die Seite der Verabreichung von Semaglutid, das bald wohl auch in oraler Form eingenommen werden kann.
Der mögliche Gewichtsverlust durch Semaglutid hat alle Experten überrascht, denn bis vor wenigen Jahren wurde schon eine Reduktion der Pfunde um fünf Prozent als großer Erfolg einer medikamentösen Behandlung angesehen. „Die medikamentöse Therapie von Adipositas war lange Zeit sehr schwierig in Deutschland“, so Prof. Matthias Blüher, Leiter der Adipositas-Ambulanz für Erwachsene der Universitätsmedizin Leipzig. „Wir haben dringend nach Medikamenten gesucht, die besser verträglich und wirksamer sind.“ Allein durch eine Magenverkleinerungs-Operation konnte das Körpergewicht bei den meisten Betroffenen um rund 30 Prozent gesenkt werden. Die mit Risiken behaftete Magen-Operation könnte demnächst der Vergangenheit angehören. In den Forschungsabteilungen einiger Pharmaunternehmen sind bereits Arbeiten an Medikamenten weit fortgeschritten, die die Abnehmwirkung von Wegovy noch deutlich übertreffen könnten. Der heißeste Kandidat ist derzeit der bislang nur als Antidiabetikum zugelassene Wirkstoff Tirzepatid (Handelsname Mounjaro) des Pharmakonzerns Lilly. In ersten Tests konnten Gewichtsabnahmen von durchschnittlich 21 Prozent erzielt werden. Mit einer baldigen Zulassung zur Behandlung von Adipositas durch die US-Arzneimittelbehörde FDA wird allgemein gerechnet.