Am 15. April endete die Zeit der herkömmlichen Kernkraftwerke in Deutschland. Damit geht das Atomzeitalter allerdings nicht zu Ende. Neue Reaktortypen und Forschung an Kernfusion könnten eine neue Ära einleiten.
Für die einen war es ein Meilenstein, für die anderen ein „schwarzer Tag“ (Friedrich Merz, CDU), wahlweise auch „kompletter Irrsinn“ (Wolfgang Kubicki, FDP).
Kurz bevor in den letzten drei Atomkraftwerken Deutschlands der Abschaltknopf gedrückt wurde, haben alle noch einmal pflichtgemäß ihre Haltung kundgetan, vor allem Kritiker des Ausstiegs, Wirtschaftsverbände und -vertreter, die den Verzicht auf den „relativ günstigen“ Atomstrom (Mittelstandsverband) für einen Fehler halten. Die Argumente Für und Wider sind hinlänglich bekannt. Mit dem russischen Angriffskrieg in der Ukraine hatten sich die Rahmenbedingungen massiv geändert, deshalb die Verschiebung des endgültigen Abschieds um fünf Monate.
Die Diskussionen waren wie ein letztes Aufbäumen. Was aber bleibt, sind die nach wie vor ungelösten Fragen, Probleme und Herausforderungen, die das Atomzeitalter hinterlässt. Es sind aber auch andere Strategien der unmittelbaren Nachbarn in Europa in Sachen Atomenergie – und die intensive Forschung an neuen Generationen von Reaktortypen („Mini-Atomkraftwerke“) sowie an der Kernfusion.
Das Argument vom „relativ günstigen“ Atomstrom ist durch Gesamtrechnungen widerlegt. Die Kosten für ein Endlager, so denn überhaupt einmal ein Standort gefunden ist, können seriös derzeit allenfalls erahnt werden. Allein der Rückbau der bisherigen Meiler wird auf knapp 50 Milliarden Euro geschätzt. Eine Kommission ging zuletzt von 48,8 Milliarden für Rückbau (Abriss), Transport und (Zwischen-)Lagerung von Atommüll aus. Betreiber waren verpflichtet, dafür finanziell Vorsorge zu tragen. In entsprechenden Fonds sind aber bislang „nur“ 24 Milliarden Euro eingezahlt. Für den Rest dürfte der Steuerzahler herangezogen werden – wie zuvor bereits bei Forschung und Förderung.
Viele Diskussionen um den Atomausstieg
Das Thema Energiesicherheit dürfte ebenfalls geklärt sein. Bundesnetzagentur und der private Netzbetreiber Amprion erklären unmissverständlich: Die Abschaltung der letzten AKWs bringe keine erhöhte Gefahr für Stromausfälle.
Zwei Themen werden die Diskussionen um die (friedliche) Nutzung von Atomkraft in der Zukunft allerdings offen halten: Klimaschutz und technologische Entwicklung.
Die zwiespältige Haltung zu der Frage, ob Kernkraft einen Beitrag zum Klimaschutz leisten kann, ist in der EU besonders ausgeprägt. Grob eingeordnet, setzt die eine Hälfte der Mitgliedstaaten auf einen Beitrag der Kernkraft zur CO2-Reduktion und plant Neu- und Ausbau, die übrigen gehen einen anderen Weg. Für manche ist das ein Beleg für die Spaltung in Energiefragen, andere sehen dagegen einen vielfältigen Energiemix in Europa, um Klimaschutz und Energiesicherheit gleichermaßen zu gewährleisten. Energiepolitik ist Sache der Mitgliedstaaten, zugleich geht es mehr als zuvor um mehr Abstimmung und Koordination, nicht zuletzt befördert durch die Erfahrungen seit dem 24. Februar 2022.
Ein eindrucksvolles Beispiel lieferte das vergangene Jahr: Während insbesondere in Deutschland fieberhaft daran gearbeitet wurde, Gasimporte aus Russland zu ersetzen, und zur Absicherung für den Winter AKW-Laufzeiten im „Streckbetrieb“ verlängert und Kohlekraftwerke aus der Reserve geholt wurden, fielen in Frankreich zwei Drittel (zeitweise 32 von 56) der Atomkraftwerke zumeist wegen Wartungsarbeiten aus. Damit fiel mitten in der kriegsbedingten Energiekrise Frankreich als Stromlieferant aus, Deutschland (und andere) lieferten nach Frankreich, während Frankreich selbst erstmalig Gas nach Deutschland exportierte. Zwar explodierten die Strompreise in der Doppelkrise, aber die Versorgung blieb gesichert.
Die unterschiedlichen Bewertungen der Atomkraft hatten sich eindrucksvoll auch in der Debatte um die sogenannte Taxonomie niedergeschlagen, mit der die EU Investoren eine Orientierung geben wollte, inwieweit geplante Projekte als nachhaltig eingestuft werden können, um die Klimaschutzziele zu erreichen. Nach intensiven Debatten wurde auch die Atomkraft dort als „nachhaltig“ eingestuft, weil sie – unter bestimmten Umständen – als eine Art Brückentechnologie angesehen wurde.
Vor diesem Hintergrund plant eine Reihe von Mitgliedstaaten weiter mit Atomkraft. Allen voran natürlich Frankreich, das mit einem Atomstromanteil von rund 70 Prozent ohnehin weltweit eine einsame Sonderstellung hat. Zeitweise war von einer Reduzierung des Anteils auf 50 Prozent die Rede, inzwischen ist der Neubau von sechs bis acht Anlagen im Gespräch. Polen plant den ersten Bau eines AKWs, auch in Litauen wird der Einstieg diskutiert, Belgien hat seinen Atomausstieg verschoben, in den Niederlanden steht der Neubau zweier Anlagen zur Debatte. Auch in Bulgarien, Finnland, Tschechien und Ungarn sind neue Reaktoren in Planung.
Umgekehrt hat Italien den Ausstieg bereits vollzogen, in Österreich wurde eine fertiggestellte Anlage nach Volksentscheid nicht in Betrieb genommen, Deutschland steigt jetzt aus, Spanien will bis 2035 folgen. Spannend bleibt auch die technologische Entwicklung.
Energie aus einem Höllenfeuer
Als Alternative zu den bisherigen Großanlagen ging der Trend zuletzt in Richtung Mini-Atomkraftwerke, sogenannte SMR (Small Modular Reactors). Die derzeit beispielsweise in Tschechien und Estland geplanten Anlagen sollen eine Leistung von 300 kW haben (zum Vergleich: die Leistung eines Reaktorblocks im französischen Cattenom beträgt rund 1.300 kW).
Die große visionäre Hoffnung liegt in der Kernfusion. Die Idee ist, simpel ausgedrückt, Energie durch ein Höllenfeuer wie in der Sonne zu produzieren – allerdings mit noch höheren Temperaturen. Anders als bei der bisher praktizierten Kernspaltung würde dabei kaum Müll anfallen und die Energiequelle wäre enorm ergiebig. An dieser Technologie wird seit Jahrzehnten geforscht. Der Internationale Experimentalreaktor ITER im südfranzösischen Cadarache (60 Kilometer von Marseille) soll zeigen, dass es physikalisch und technisch möglich ist, durch Kernverschmelzung Energie zu gewinnen. Das Projekt hat globale Dimension, beteiligt sind neben der EU auch die USA, Japan, China, Russland, Südkorea und Indien.
Die Technologie ist eine gigantische Herausforderung. Seit gut hundert Jahren wird daran geforscht. Im vergangenen Jahr soll es Forschenden in den USA gelungen sein, bei einer Kernfusion mehr Energie zu erzeugen, als zuvor für den Prozess verbraucht wurde. Von einer „Sensation“ war die Rede. Renommierte Wissenschaftler halten die Kernfusion gar für den „Heiligen Gral der Energieprobleme auf der Welt“ (Physikprofessor Gianluca Gregori, Oxford).
In Deutschland hat das Thema rund um den endgültigen Atomausstieg Konjunktur. Vor allem im bayerischen Wahlkampf. Ministerpräsident Markus Söder (CSU) hätte zwar am liebsten die letzten drei AKWs noch länger weiterlaufen lassen, nun aber hat er seine neue Liebe in der Kernfusion entdeckt und kündigt gleich mal an, dass Bayern in die Forschung zur Kernfusion einsteigen wolle – Forschungsreaktor inklusive denkbar. Was nicht ganz so neu wäre. In Bayern beschäftigen sich bereits neben renommierten Forschungseinrichtungen (etwa Max Planck Institut für Plasmaphysik, Garching) unter anderem einige Start-ups mit der konkreten Umsetzung, das wohl bekannteste ist „Marvel Fusion“, 2019 gegründet.
Ansonsten wird in Deutschland schon seit Jahren in diesem Bereich geforscht. Ende 2015 ist das Kernfusionsexperiment Wendelstein 7-X am Max-Planck-Institut für Plasmaphysik (IPP) in Greifswald mit den ersten Tests gestartet. Nach Institutsangaben war Wendelstein 7-X zu diesem Zeitpunkt das modernste und neben einer Anlage in Japan das weltweit größte Fusionsexperiment vom Typ Stellarator.
Ein weitere renommierte Adresse ist das Kernforschungszentrum Jülich, das wiederum am Eurofusion-Konsortium (mit 4.800 Experten, Studierende und Mitarbeitern aus ganz Europa) beteiligt ist, das im Joint European Torus, einer Versuchsanlage in Culham (Großbritannien), die Forschung und Entwicklung vorantreibt.