Adel Tawil hat geschafft, wovon viele Musiker träumen: Seine Songs sind aus der deutschen Radiolandschaft nicht mehr wegzudenken. Der 44-jährige Berliner mit ägyptischen und tunesischen Wurzeln hat gerade mit „Spiegelbild“ sein viertes Soloalbum veröffentlicht.
Herr Tawil, verstehen Sie das neue Album als ein Spiegelbild Ihrer Seele?
Alle meine Alben haben einen persönlichen Bezug. Aber jeder Hörer soll sich darin wiederfinden. Die ein oder andere Zeile auf der neuen Platte hätte ich früher vielleicht nicht verwendet, weil sie mir zu düster gewesen wäre. Die Leute haben ja das Gefühl, mich zu kennen und denken in der Regel, dem Adel muss es ja gut gehen, weil er erfolgreich ist und durch die Welt reist.
Trügt der Schein da ein bisschen?
Wir Künstler sind ganz normale Menschen mit Aufs und Abs. In unserem Leben gibt es auch Dramen und freudige Dinge. Und darüber schreibe ich.
In dem Lied „Autobahn“ geht es um „dunkle Schatten auf der kaputten Seele“. Wie autobiografisch ist das?
Diese Zeilen stammen aus dem Jahr 2015. Zu der Zeit lebte ich alleine, und es ging mir ganz dreckig. Ich war jahrelang auf der Überholspur, aber als dann die Pandemie ausbrach, war mein Leben plötzlich leer. Mir wurde bewusst, dass es kein gesunder Zustand ist, wenn ich von der Bühne und vom Applaus so abhängig bin. Ich fiel dann in ein Loch, was sehr unangenehm war. Ich begann, mich zu fragen, was von mir übrig bleibt, wenn die Musik und die Bühne wegfallen.
Wie haben Sie die Lücke füllen können?
Mit Selbstdisziplin. Es war harte Arbeit und ein langer Weg, zum Beispiel noch eine Fremdsprache zu erlernen oder mir noch ein Instrument draufzuschaffen. Yoga hat mir sehr geholfen und natürlich auch meine Familie. Ein Kind ist eine Extramotivation. Dann fielen mir diese Zeilen aus dem Jahr 2015 wieder ein. Im Studio habe ich dazu einen neuen Chorus geschrieben. „Autobahn“ ist ein Synonym dafür, wie das Leben an einem vorbeirast. Wenn man aber mal ganz entspannt mit weniger Tempo fährt, sieht man mehr vom Leben.
Hatte das Schreiben für Sie etwas Therapeutisches?
Absolut. Vor zehn Jahren hat mir Annette Humpe ihren Lebenscoach empfohlen. Seitdem begleitet er mich mit seinem hohen Verständnis für diese Drucksituationen – wenn man eine Tour vor der Brust hat oder eine Platte macht und nicht loslassen kann. Für all diese Ängste und Erwartungshaltungen. Wenn man klarer und sortierter im Kopf ist, kann man das alles sehr gut in Songs verarbeiten.
Wie kam es zu dem Lied „Stolz“?
Ich bin mein größter Kritiker und schaffe es kaum, mir einen meiner Auftritte anzuschauen. Es bereitet mir körperliche Schmerzen, weil ich mir nicht erlaube zu sagen, dass ich etwas gut gemacht habe.
Sie sind jetzt seit 27 Jahren Musiker. Ist der Beruf des Künstlers immer eine Achterbahnfahrt gewesen, auch vor Corona?
Ja. Das Leben generell ist ein Auf und Ab. Ich habe mich immer gefragt, warum wir Künstler nach Konzerten so durchdrehen. Jedes Lied, das ich bisher geschrieben habe, erzählt eine persönliche Geschichte. Entweder hoffnungsvoll, freudig, sehnsuchtsvoll oder traurig. In dem Moment, wo ich ein Lied live singe, gehe ich wieder in diese Stimmung rein. Ich könnte nichts einfach nur runtersingen und dabei an etwas ganz anderes denken. Wegen dieser emotionalen Ausschläge ist man nach einem Konzert manchmal so drüber.
Wie gehen Sie damit um?
Ich lerne immer noch, dem nicht nachzugeben, indem ich mit der Band feiern gehe. Dann hätte man diesen Zustand relativ schnell zur Seite geschoben und verdrängt. Aber nach der Show ist der Moment der Wahrheit, und ich versuche wirklich, diese emotionalen Ausschläge alleine im Hotelzimmer auszuhalten.
Bringt Sie das mental auch weiter?
Es macht mich stabiler. Wenn man jeden Tag zwei Stunden lang über sein Leben in den letzten 20 Jahren nachdenken würde, über jede Trennung, jeden Liebeskummer, jedes Gefühl, würde man verrückt werden. Aber genau das machen wir Künstler ja, weil wir diese Emotionen jedes Mal auf der Bühne reproduzieren. Ich will, dass es echt ist. Den Song „Universum“ von Ich + Ich habe ich zum Beispiel für meine Schwester gesungen, die damals gerade ihr Abitur machte und in die weite Welt hinauswollte. Jedes Mal, wenn ich ihn singe, denke ich an meine Schwester und diesen Moment.
Ein sehr emotionales Lied auf dem Album ist „Menschenkinder“ – ein Plädoyer für eine Welt ohne Vorurteile und Fremdenhass. Ist es mit einem persönlichen Erlebnis verbunden?
Es ist während des Lockdowns entstanden, als die Stimmung im Land sehr schlecht war. Hiobsbotschaften in den Nachrichten, Verschwörungstheorien, Negativität. Am meisten erschreckt hat mich der Umgang der Leute miteinander. Als ich einmal mit meiner kleinen Tochter im Supermarkt war, ist sie aus dem Kinderwagen rausgekrabbelt und hat sich Spielsachen angeschaut. Darüber regte sich eine ältere Dame heftig auf, weil sie meinte, meine Tochter käme ihr zu nahe. Auf der anderen Seite gab es bei uns auch junge Menschen, die für ältere die Einkäufe erledigten. Und dann brach auch noch der Krieg in der Ukraine aus und ich bin mit „Menschenkinder“ zwei Wochen später bei einem Charitykonzert vor dem Brandenburger Tor aufgetreten.
Glauben Sie, dass die Menschheit es schaffen kann, Fanatismus, Rassenhass und Nationalismus zu besiegen?
Ich glaube felsenfest daran, weil ich immer wieder von der Gutherzigkeit der Menschen fasziniert bin. Natürlich gibt es auch andere Beispiele, aber ich liebe es zu sehen, wie Menschen zusammenhalten. Aber vielleicht brauchen sie den ein oder anderen Schubser. Auch ich stelle Dinge infrage.
Der Song „Nirvana“ ist – wie das gesamte Album – ein Tribut an Ihren langjährigen Produzenten Andreas Herbig. Er ist Anfang 2022 im Alter von nur 55 Jahren nach langer Krankheit in einem Hamburger Hospiz gestorben. Wie haben Sie von ihm Abschied genommen?
Ich habe ihn noch besucht, was für mich eine neue Erfahrung war. Es war nicht geplant, dass unser letztes gemeinsames Lied „Nirvana“ heißt. Eigentlich sollte Andreas das ganze Album mischen. Der rote Faden bei meinen Platten war immer meine Stimme und er, der das Ganze wie aus einem Guss hat klingen lassen. Bis heute frage ich mich bei jedem neuen Song, was Andreas dazu gesagt hätte. Weil ich schon so lange dabei bin und viele Erfolge hatte, trauen sich viele nicht, mich zu kritisieren. Aber Andreas konnte immer alles argumentativ belegen. Wir waren ein super Team.
War Andreas Herbig ein Produzent mit einer ganz eigenen Handschrift?
Andreas Herbig war ein echtes Genie, das weiß auch jeder in der Musikwelt. Wenn er etwas abgemischt hat, war man von dem Ergebnis oft baff. Weil es qualitativ so hochwertig klang, musste es einfach von Andreas sein. Er konnte das aber genauso bei a-ha, Deichkind oder Jan Delay machen. Das Schönste ist, wenn du als Sänger die Aufgabe des Produzierens abgeben kannst an jemanden, dem du vertraust. Dann kannst du dich auf deine künstlerische Arbeit konzentrieren.
Ist ein Weiterleben der Seele für Sie eine tröstliche Vorstellung?
Der Gedanke ist sehr tröstlich, dass es unter Umständen so sein könnte. Dieses Leben und der Geist müssen ja irgendwo hingehen.
Auch Ihre Zusammenarbeit mit Annette Humpe war sehr wichtig für Ihre Karriere. Stehen Sie mit ihr noch in Kontakt?
Wir sind generell immer in Kontakt und besprechen vieles, auch Privates. Sie ist für mich wie eine große Schwester und hat immer eine gute Zeile parat. Bei Ich + Ich hatten wir den Song „Dienen“. Irgendwann sagte die damalige Bundeskanzlerin den Satz: „Ich möchte diesem Land dienen.“ Ich habe Frau Dr. Merkel einmal bei einer Schulveranstaltung persönlich getroffen, aber ich würde sie zu gern einmal fragen, was sie zu dieser Aussage bewogen hat. Annette Humpe hat einfach ein Gespür für das, was gesellschaftlich gerade in der Luft liegt.
Vor Kurzem reisten Sie wieder in das Heimatland Ihrer Mutter, Tunesien. Welche Erkenntnisse bringen Ihnen diese Reisen?
Für mich ist es faszinierend, auf Wurzelsuche zu gehen. Auf der anderen Seite begeistert es mich, wie modern die Menschen dort sind. Sie reden genauso über die Gleichstellung der Frau wie wir es hier tun, aber natürlich vor einem anderen Hintergrund. Ich möchte dort regelmäßiger hinfahren, um besser zu verstehen, warum ich manchmal innerlich so zerrissen bin. Ich bin dafür, Probleme klar und deutlich anzusprechen, aber die Vornamen-Abfrage nach den Silvesterkrawallen in Berlin hat mir einen Rückschlag versetzt und mich wütend gemacht. Ich dachte auf einmal, ich sei kein Deutscher, sondern nur einer mit einem deutschen Pass. Und in Tunesien und Ägypten bin ich auch kein Einheimischer, sondern der Deutsche. Ich sitze einfach zwischen drei Stühlen und nehme mir von allem das Beste.
Welche Traditionen, Rituale und Bräuche Ihrer Eltern leben Sie weiter?
Zum Beispiel, dass man sich sehr bewusst bedankt für das Essen, was man hat. Bei uns ist es ganz normal, dass man während des Fastenmonats Ramadan Bedürftigen hilft. Ich habe ewig nicht mehr gefastet, weil es wirklich hart ist, den ganzen Tag nichts zu trinken. Meine Mutter zieht das aber immer durch. Es ist verpönt, sich abends der Völlerei hinzugeben. Es g
eht eher um Askese. Bei solchen Traditionen mache ich gern ein paar Tage lang mit. Ich liebe auch traditionelle Gerichte.
In „Silberstreif“ besingen Sie eine „Wüste aus Stahl und Beton/Nur Staub, wo es früher Blumen waren“. Sind Sie als gebürtiger Berliner des Großstadtlebens überdrüssig?
Jeder Berliner ist das! Ich kann da wirklich für alle sprechen. Peter Fox sagt ja in einem seiner Lieder: „Guten Morgen Berlin/Du kannst so hässlich sein/So dreckig und grau.“ Jeder waschechte Hauptstädter kommt irgendwann an den Punkt, wo einem diese Stadt auf den Keks geht und man für ein paar Tage wegmuss. Wenn ich heute in Mitte bin, habe ich das Gefühl, in London oder Paris zu sein. Ich höre fast nur noch Englisch, Französisch, Italienisch und Spanisch, was auch cool ist. Aber viele aus meinem Umfeld sind nach Brandenburg oder Spandau gezogen, wo ich zur Schule gegangen bin. Der Stadtteil erlebt eine Renaissance. Ich liebe auch Potsdam. Da draußen war man in der Lockdown-Zeit definitiv im Vorteil.
In „Labyrinth“ singen Sie, dass Sie nicht mehr wissen, wohin die Reise gehe und Sie in einem Labyrinth gefangen seien. Was war passiert?
Als wir 2020 die ganzen Konzerte absagen mussten, war ich in einer Schleife, die nicht gesund ist. Ich hatte alles abgelegt: kein Sport mehr, nur noch schlechte Ernährung, definitiv zu viel Alkohol, Gewichtszunahme, zu wenig Selbstliebe. Das Höchste war, mit dem Hund Gassi zu gehen. Man weiß, dass das alles falsch ist, aber man ist in dieser Schleife drin. Ich habe nicht gesehen, wie ich aus dieser blöden Situation wieder rauskomme.
Ist der Beruf des Künstlers für Sie eher Fluch oder Segen?
Beides. Ich mache das, was ich liebe und bereue es auch nicht. Aber ich hatte lange alles andere hinten angestellt, da konnte kommen, wer wollte. „The Show must go on“ hatte ich mir quasi auf die Haut tätowiert. Als dann die Zwangspause kam, habe ich selbstkritisch hinterfragt, ob das alles immer richtig war. Ich weiß es nicht. Ich bin da, wo ich heute bin, weil ich genauso gehandelt habe. Ich kann nicht zählen, wie viele Geburtstage ich verpasst habe. Ich bin an Mariä Himmelfahrt geboren, das ist in Süddeutschland ein Feiertag. Aber da hatte ich immer ein Konzert. Ich liebe das. In den letzten 30 Jahren habe ich vielleicht vier meiner Geburtstage mit Freunden und Familie gefeiert.
Und wie sieht es dieses Jahr aus?
Noch habe ich an dem Tag keinen Termin – und da der Geburtstag dieses Jahr auf einen Dienstag fällt, sieht es ganz gut aus, dass diesmal gefeiert werden kann.
Kann Ihre Tochter schon verstehen, dass ihr Papa ein Popstar ist?
Sie versteht das Ausmaß noch nicht in der Gesamtheit und die leichte Arroganz, die mit so einem Satz einhergehen kann. Aber Kinder haben es an sich, von ihren Eltern in den höchsten Tönen zu sprechen. Ich möchte meinen Kids aber mitgeben, dass mein Beruf nicht immer ein Zuckerschlecken ist. Es ist etwas, wofür man sich bewusst entscheiden muss und auch einen Preis bezahlt.