Mit „Crimes of the Future“ zeigt David Cronenberg einmal mehr, warum er Kanadas Horrormeister ist. Das Science-Fiction-Drama mit Viggo Mortensen und Kristen Stewart lief bereits in den Kinos und ist nun zum Streamen verfügbar.
Wenn ein Kind einen Plastikeimer isst, ist irgendwo irgendetwas gründlich schiefgelaufen. Wenn die eigene Mutter daraufhin den Sohnemann im Schlaf mit einem Kissen erstickt und den leblosen Körper dem Vater überlässt, liegt die Vermutung nahe, dass es sich um einen Film von David Cronenberg handelt. Der 80-jährige Kanadier kehrte mit „Crimes of the Future“ auf den Regiestuhl zurück, den er zuletzt 2014 mit „Maps to the Stars“ besetzt hatte.
Es ist die vierte Zusammenarbeit zwischen dem Regisseur und seinem Star Viggo Mortensen, der wie immer ein verlässlicher Ruhepol in dem aufwühlenden Cronenberg-Kosmos ist. Diesmal erreicht er jedoch nicht die Eindrücklichkeit seiner Rollen in „A History of Violence“ oder „Tödliche Versprechen – Eastern Promises“. Als sich stets räuspernder Künstler, den es wortwörtlich im Hals kratzt, liefert er dennoch eine solide Vorstellung ab. Ebenso wie Léa Seydoux als seine Assistentin, die zu einem gewissen Zeitpunkt der Versuchung einfach nicht mehr widerstehen kann, einen nächsten Schritt zu gehen. Kristen Stewart als Künstler-Fangirl hat nicht viel Filmzeit, zeigt aber einmal mehr eine weitere faszinierende Facette ihrer Schauspielkunst.
Neue Organe dank Evolution
„Crimes of the Future“ spielt in einer nicht näher genannten Zukunft, in der viele Menschen das „Beschleunigte Evolutionssyndrom“ durchlaufen. Das hat den angenehmen Nebeneffekt, dass ein Großteil der Bevölkerung keine Schmerzen mehr empfindet und infektiöse Erkrankungen so gut wie nicht mehr stattfinden. Dummerweise hat das aber auch zur Folge, dass Menschen mitunter neue Organe wachsen. Einer, der Kapital daraus schlägt, das sein Körper ständig etwas Neues bildet, ist der Performance-Künstler Saul Tenser (Viggo Mortensen). Seine Kunst-Partnerin Caprice (Léa Seydoux; „Spectre“, „Keine Zeit zu sterben“) hilft ihm dabei, die Organe, die er sich vor den Augen seines Publikums operativ entfernt, zu kennzeichnen und per Film für die Nachwelt zu archivieren.
Tenser, der unter starken Schmerzen leidet, bekommt bald Besuch von zwei Beamten der National Organ Registry, einer Behörde, die sich um die Einhaltung der Gesetze zur menschlichen Entwicklung kümmert und neue Organe katalogisiert. Timlin (Kristen Stewart; „Spencer“) ist ständig hypernervös, da sie offensichtlich eine Bewunderin von Tensers Kunst ist. Parallel taucht Detective Cope (Welket Bungué; „Berlin Alexanderplatz“) auf und fordert den Künstler auf, eine Gruppe von radikalen Evolutionisten zu infiltrieren. Deren Anführer Lang Dotrice (Scott Speedman; „Underworld“, „The Strangers“) ist der Vater des eingangs erwähnten Jungen. Dotrice überredet Tenser zu einer allerletzten Kunst-Veranstaltung.
Keine Frage: „Crimes of the Future“ ist ein wilder, bizarrer Ritt durch menschliche Abgründe. Beinahe schon satirisch geht Cronenberg Themen wie Umweltverschmutzung, kosmetische Operationen, Sinnsuche, Evolution an – allerdings ohne befreienden Humor. Der Film ist bierernst gehalten und wird mit seiner fast schon bedächtigen Erzählweise nicht jedem gefallen. Doch er ist gleichzeitig auch eine Augenweide: Ausstattung, Kostüme, Drehorte – alles ist ebenso unaufdringlich wie eindrücklich festgehalten.
Filmgenre des „Body-Horrors“
Die Effekte sind grotesk und brillant wie in Cronenbergs „Naked Lunch“. Etwa der Stuhl, der dabei hilft, Saul Tensers Schmerzen beim Essen zu lindern. Ein knochiges, auf dessen Beschwerden eingestelltes Etwas, das sich Tensers Bewegungsapparat anpasst. Oder die Maschine, in der Caprice immer wieder an ihm herumschnippeln kann. Die Schocks und Ekelszenen sind wie immer wohldosiert und ebenso kurz wie effektiv gehalten. Den Gesamteindruck honorierte das Publikum beim Filmfestival in Cannes mit einer sechs Minuten dauernden stehenden Ovation.
Der Streifen ist erst mal ein Drama, doch Cronenberg kehrt mit dem langsamen Schocker auch zu dem zurück, was ihn einst beim Publikum populär und bei der FSK berüchtigt machte. „Crimes of the Future“ ist ein weiterer Eintrag in sein Schreckenskabinett des „Body-Horrors“. In diesem Subgenre des Horrorfilms stehen radikale Veränderungen des menschlichen Körpers im Mittelpunkt – mit oftmals unerfreulichen Konsequenzen, wie der Regisseur sie auch bereits in „Die Fliege“, „Videodrome“ oder „eXistenZ“ zeigte. Der Film hat übrigens nichts zu tun mit dem Film gleichen Namens, den Cronenberg 1970 veröffentlichte – vielmehr ist er eben ein komplett einzigartiges Werk.