Der Name Wembley wird wohl immer mit dem umstrittensten Tor der Fußball-Geschichte verbunden bleiben. Aber auf dem heiligen Rasen des vor 100 Jahren eingeweihten Londoner Stadions spielten sich noch viele andere sportliche Dramen ab. Und es war auch Schauplatz legendärer Konzerte.
Für ein Provisorium brachte es das in Wembley – einem Teil des Londoner Stadtbezirks Brent – am 28. April 1923 eröffnete Bauwerk auf eine verblüffend lange Geschichte. In rekordverdächtiger Zeit von exakt 300 Tagen und unter Einhaltung der veranschlagten Kosten von 750.000 Pfund war es errichtet worden. Eigentlich sollte das ursprünglich auf den Namen „British Empire Exhibition Stadium“ getaufte Gebäude nach Erfüllung seines vorgesehenen Zwecks gleich wieder abgerissen werden. Das Stadion sollte eines der architektonischen Glanzstücke im Rahmen der British Empire Exhibition darstellen – einer bombastischen, auf die Jahre 1924 und 1925 terminierten Kolonialausstellung, mit der das Empire die Beziehungen zu seinen zahlreichen Kolonien feiern und festigen wollte.
Einem vergleichbaren Schicksal konnte der eigens für die Pariser Weltausstellung 1889 von Gustave Eiffel konzipierte Eiffelturm nur dadurch entgehen, dass der pfiffige Ingenieur die eigentlich nutzlose Stahlkonstruktion zum seinerzeit weltweit höchsten Telegrafen-Sendemast umfunktionalisierte. Im Mutterland des Fußballs gab der Kicker-Sport den entscheidenden Impuls dafür, dass die bald weltweit nur noch als „Wembley-Stadion“ bezeichnete Arena mit ihrem anfangs unglaublichen Fassungsvermögen von bis zu 127.000 Zuschauern fast 80 Jahre lang erhalten blieb. Erst ab Oktober 2000 musste das inzwischen altehrwürdige Stadion an gleicher Stätte einem modernen Neubau weichen, der im März 2007 als neues Wembley-Stadion fertiggestellt wurde.
Seitdem verwenden die Briten für den legendären Vorgänger, dessen Wahrzeichen zwei trutzige, als „The Twin Towers“ titulierte weiße Türme im Art-déco-Stil waren, zwischen denen sich die königliche Loge und das über 29 Stufen erreichbare Podest für die Siegerehrung befanden, meist nur noch den Namen „Old-Wembley“.
Gleich mit dem ersten Event am 28. April 1928 sollte in Wembley eine bis heute beibehaltene Tradition begründet werden. Denn das Finale im ältesten Fußball-Wettbewerb der Welt, dem seit der Saison 1871/72 ausgetragenen FA Cup, fand auf dem Rasen des wenige Tage zuvor fertiggestellten Stadions statt. Seitdem entwickelte es sich zu einer jährlich festen Institution zur Ermittlung des Siegers in dem berühmten englischen Pokalwettbewerb. Die organisatorischen Umstände rund um das erste Match, das die Bolton Wanderers mit einem 2:0-Sieg gegen West Ham United für sich entscheiden konnten, waren absolut chaotisch. Da im Vorverkauf gerade einmal rund 36.000 Tickets abgesetzt worden waren und die Veranstalter dem als Gast angekündigten britischen König Georg V. kein halbleeres Stadion präsentieren wollten, wurde in letzter Sekunde kräftig die Werbetrommel für das Match gerührt.
Fans kletterten über die Zäune
Niemand hatte den gewaltigen Erfolg der PR-Maßnahmen voraussehen können: Nachdem die Pforten dreieinhalb Stunden vor dem für 15 Uhr angesetzten Spielbeginn geöffnet wurden, waren bereits gegen 13 Uhr sämtliche Plätze besetzt. Niemand konnte so richtig abschätzen, wie viele Zuschauer sich tatsächlich schon in dem weiten Rund befanden, da der Fußballverband FA (Football Association) keine Tickets mehr verkaufte, sondern an den Eingängen nur noch das Eintrittsgeld kassieren ließ. Damit nicht genug, hielt der Ansturm auf die Arena trotz der zwischenzeitlich geschlossenen Zugänge weiter an. Unzähligen Fans gelang es, über die Absperrungen zu klettern.
Da die Ränge die riesige Masse an Zuschauern, deren Gesamtzahl auf bis zu 300.000 geschätzt wurde, nicht mehr aufnehmen konnten, flutete ein Teil davon das Spielfeld. Ein termingerechter Anstoß war damit unmöglich geworden. Immerhin gelang es einem Großaufgebot an Ordnungskräften dennoch, innerhalb einer Dreiviertelstunde den Platz von Besuchern zu räumen. Zu verdanken war dies vor allem berittenen Polizisten und Soldaten, unter denen ein gewisser George Scorey zur landesweiten Berühmtheit aufstieg. Aus der dunklen Menge stach er dank seines hellen Pferdes Billy regelrecht hervor. Das Match ging später als „White Horse Final“ in die britische Fußball-Geschichte ein.
Die englische Fußball-Nationalmannschaft, die „Three Lions“, die schon seit dem Jahr 1872 das Logo des heimischen Fußball-Verbandes mit den drei Löwen auf den Trikots trägt, hatte anfangs Wembley keineswegs zu ihrer einzigen Heimspielstätte auserkoren. Zu dieser wurde Wembley erst Anfang der 1960er-Jahre. Insgesamt wurden dort mehr als 80 Länderspiele ausgetragen. Davor hatte es einen ständigen Wechsel mit anderen Schauplätzen wie dem Highbury-Stadion, der Arena des FC Arsenal, gegeben. Dennoch entwickelte sich Wembley, das 1934 erstmals modernisiert und erweitert wurde, recht schnell zum führenden Veranstaltungsort des Vereinigten Königreiches.
Lehrstunde für die „Three Lions“
Zwar spielte der Fußball dabei eine wichtige Rolle, aber auch andere Sportarten – mit dem auf der Insel populären Rugby an der Spitze – trugen ihre Wettkämpfe in diesem Stadion aus, Motorrad-Rennen und insbesondere auch die Windhund-Rennen nicht zu vergessen, mit denen seit der Eröffnung der Arena bis in die 1960er-Jahre hinein durch die Wetteinnahmen die größte Kasse gemacht wurde.
Gleich nach Ende des Zweiten Weltkriegs war Wembley mit einem auf 82.000 Zuschauer reduzierten Fassungsvermögen Hauptaustragungsort der Olympischen Sommerspiele des Jahres 1948, bei denen in der Leichtathletik der Stern des tschechoslowakischen Ausnahmeläufers Emil Zátopek mit seinem Sieg über die 10.000 Meter aufging. Schweden gewann das olympische Fußball-Turnier dort mit einem 3:1-Sieg gegen Jugoslawien.
Im Fußball befanden sich die „Three Lions“ zur gleichen Zeit immer noch im Glauben, das beste Team der Welt zu sein. Dabei hatte das Mutterland des Fußballs an den ersten drei Weltmeisterschaften wegen Streitigkeiten mit der Fifa um den Spieler-Amateurstatus nicht teilgenommen. Das peinliche Ausscheiden gegen die USA beim englischen WM-Debüt 1950 wurde schnell als einmaliges Versehen abgehakt. Doch drei Jahre später, am 25. November 1953, wurde England in Wembley von der ungarischen „Wunderelf“ unter Führung von Ferenc Puskás bei der 3:6-Niederlage in einer einzigartigen Lehrstunde regelrecht auseinandergenommen. Die deutsche „F.A.Z“ kommentierte dieses Match als „Wendepunkt der 140-jährigen Fußballgeschichte“. Darin dokumentierte sich, dass die „Three Lions“ trotz Ausnahmekönnern wie Stanley Matthews die auf dem Kontinent vollzogene Entwicklung des Fußballs weg vom starren Positions- und Rollenspiel hin zum flexiblen und dynamischen Raumspiel komplett verschlafen hatten. „An diesem Tag habe ich von den Ungarn mehr über Taktik gelernt als in all den Jahren davor“, sagte der spätere englische Nationaltrainer Alf Ramsey.
Unter dessen Ägide gewann England am 30. Juli 1966 das legendäre WM-Finale gegen Deutschland in Wembley, das von Brasiliens Superstar Pelé längst zur „Kathedrale des Fußballs“ geadelt worden war, mit 4:2. Der von Georg Hurst in der 101. Spielminute zum 3:2 erzielte Treffer, das sprichwörtliche „Wembley-Tor“, bringt bis heute die Gemüter in Deutschland in Wallung. Bis heute streiten Engländer und Deutsche, ob der von der Unterkante der Latte abgeprallte Ball die Torlinie tatsächlich mit vollem Umfang überschritten hat. Auch wenn zahllose Studien und Fotoauswertungen heute vom Gegenteil ausgehen, wird weiter kräftig diskutiert.
Live-Aid-Konzert 1985 in Wembley
Mit großer Genugtuung und als Riesenrevanche wurde daher der erste Sieg einer deutschen Nationalmannschaft auf der Insel am 29. April 1972 – ausgerechnet in Wembley – aufgenommen. Der deutsche 3:1-Triumph im Viertelfinale ebnete den Weg für den späteren EM-Titel der deutschen Elf. Günther Netzer machte damals sein wohl bestes Länderspiel. Und Wembley wurde fortan zu einem guten Pflaster für die DFB-Elf. So warf Deutschland die „Three Lions“ nicht nur bei der EM 1996 im Halbfinale nach Elfmeterschießen aus dem Turnier, sondern sicherte sich am 30. Juni 1996 den Titel in Wembley beim 2:1-Sieg über Tschechien – mit dem einzigen Golden Goal der Geschichte, erzielt von Oliver Bierhoff. Pikanterweise wurde auch das letzte Tor im letzten Spiel in „Old-Wembley“ am 7. Oktober 2000 von einem Deutschen erzielt: Dietmar „Didi“ Hamann, der damals beim FC Liverpool kickte, traf mit einem Freistoß zum 1:0 und damit zum Sieg der DFB-Elf.
In europäischen Vereinswettbewerben war das alte Wembley-Stadion zwischen 1963 und 1993 insgesamt siebenmal Austragungsort der Finalspiele. 1860 München als einziger deutscher Finalist zog im Europapokal der Pokalsieger in der Saison 1964/1965 mit 0:2 den Kürzeren gegen West Ham United.
Darüber hinaus fanden im Wembley-Stadion auch legendäre Konzerte statt, wobei das von Bob Geldorf am 13. Juli 1985 initiierte Live-Aid-Benefiz-Event zugunsten hungernder Menschen in Afrika fraglos das bedeutendste dieser Events war. Besonders erwähnenswert ist außerdem das Solidaritätskonzert für den in Südafrika inhaftierten Nelson Mandela am 11. Juni 1988. Einsamer Rekordhalter mit 15 Wembley-Konzerten ist Michael Jackson.