Ein natürliches Biopolymer, das in den Schalen von Krustentieren vorkommt und antimikrobiell und antiviral wirkt, soll die Ausbreitung von Bakterien und Viren auf Oberflächen hemmen. Daran forscht Jessica Wittmann am Institut für Materialwissenschaften der Hochschule Hof.
Frau Wittmann, im Rahmen eines ZIM-Forschungsprojekts beschäftigen Sie und Ihre Kolleginnen sich mit der Beschaffenheit von Oberflächen, die sich selbst desinfizieren, ohne dabei die menschliche Zellstruktur und so auch die Haut anzugreifen. Dabei gehen Sie weg von den klassischen Beschichtungen, die auf die Wirkungen von Ionen aus manchen Metallen wie Silber oder Kupfer setzen. Sind Sie mit dem Projekt trotz Pandemie vorangekommen?
Ja, unser Forschungsprojekt, das in Zusammenarbeit mit dem Industriepartner Lacolor Lackfabrikation GmbH umgesetzt wurde, konnte mittlerweile wie geplant abgeschlossen werden. Projektziel war zum einen die Erforschung des Potenzials von Wirkstoffen aus der Natur, in diesem Fall konkret von Chitosan als Additiv für Oberflächenbeschichtungen. Zum anderen war es Teil meiner Forschungsarbeit, detaillierte Erkenntnisse darüber zu erlangen, wie dieser biobasierte Wirkstoff in Beschichtungen für Industrielacke bestmöglich nutzbar gemacht werden kann. Dies ist leider nicht so einfach, wie es sich vielleicht anhört – denn Chitosan besitzt spezielle Eigenschaften, die ein simples Zugeben des Wirkstoffs nicht zulassen.
Was macht Chitosan, das im Labor üblicherweise als weißes Pulver ankommt, so kompliziert? In einigen Zahnreinigungsprodukten, Pflanzenschutzmitteln oder Medizinprodukten findet es sich doch bereits?
Chitosan ist neben Cellulose das häufigste natürliche Biopolymer beziehungsweise Polysaccharid und ist eine modifizierte Form von Chitin. Vorzugsweise wird Chitin aus maritimen Quellen wie Krustentieren, Shrimps, Krabben beziehungsweise deren Schalen gewonnen. Neben der Unlöslichkeit im neutralen sowie basischen Bereich und den quellenden Eigenschaften zeichnet sich Chitosan durch seine Fähigkeit zur Bildung von starken Wasserstoffbrückenbindungen und Chelaten aus.
Warum lohnt es sich trotzdem, die optimale Einbringung von Chitosan als Zusatzstoff in Beschichtungsstoffe zu erforschen, das in einem
mehrstufigen Prozess aus Fischereiabfällen gewonnen wird?
Die Besonderheit, dass Chitosan antimikrobiell wirken kann, macht den Rohstoff trotz seiner sonstigen Eigenschaften als Additiv besonders interessant für Beschichtungsformulierungen. Somit lag die größte Priorität bei meiner Forschung auf der Erarbeitung der optimalen Lackrezeptur, wobei die antimikrobielle Wirksamkeit bei ansonsten adäquaten Qualitätseigenschaften der Oberflächenbeschichtung maximiert werden sollte.
Werden Krabbenschalen dazu beitragen, dass Türgriffe im ÖPNV hygienischer handzuhaben oder Operationssäle einfacher keimfrei zu halten sind?
Die ursprüngliche Projektidee umfasste die Entwicklung einer selbstdesinfizierenden Oberflächenbeschichtung mit dem natürlichen Rohstoff Chitosan. Im weitesten Sinn kann es theoretisch möglich sein, dass OP-Säle damit keimfrei gehalten werden könnten, aber diese Anwendung ist ein Sonderfall. Die Krankenhäuser dürfen unter anderem nicht selbst über das eingesetzte Mobiliar entscheiden, sondern hier wird beispielsweise nach Empfehlung und Freigabe des RKI gehandelt.
Stoßen wir dennoch möglicherweise über industrielle Anwendungen hinaus künftig auf Oberflächen, die durch natürliche Biopolymere hygienisch unbedenklich sind?
Unter der Voraussetzung, dass das entwickelte Beschichtungssystem mit biobasierten Wirkstoffen allen Prüfungen gemäß Biozid-Verordnung standhält und die allgemeinen regulatorischen Abhängigkeiten erfüllt werden, ist eine Übertragung in andere Anwendungsfelder durchaus denkbar. Ich kann mir gut vorstellen, dass diese Oberflächenbeschichtung universell für Einsatzgebiete mit viel Publikumsverkehr von großem Interesse sein kann, wie zum Beispiel ÖPNV, allgemein öffentliche Tresen- und Thekenbereiche, aber auch für den privaten oder gewerblichen Gebrauch.
Stichwort „Abrasion“, also Materialabtrag: Sind funktionale Beschichtungen mit biobasierten Rohstoffen in ihrer Haltbarkeit und in ihrer Wirksamkeit gegen Keime gefährdet, wenn beispielsweise in Kliniken mit Desinfektionsmitteln geputzt wird?
Die Stabilität und Langzeitwirkung sind bei allen antimikrobiellen Systemen von großer Bedeutung. Wir sind in unserem Forschungsprojekt auch der Frage nachgegangen, wie lange oder wie stabil die Wirksamkeit ist. Dafür wurden die Beschichtungen zum einen einer bewusst abrasiven Behandlung unterzogen, um herauszufinden, ob die Wirksamkeit innerhalb des Beschichtungsfilms nur lokal auftritt. Zum anderen wurde die Beschichtung eine definierte Zeit unter Bedingungen ähnlich dem Normklima exponiert und anschließend auf Wirksamkeit getestet.
Wie steht es um Stabilität und Langzeitwirkung von Chitosan?
Für die theoretische Bewertung der Stabilität der Schicht und der antimikrobiellen Wirksamkeit ist anzumerken, dass die Wirkung von Chitosan vorrangig durch die Molekülstruktur hervorgerufen wird.
Es wird davon ausgegangen, dass die ausgebildeten lokalen Teilladungen im Chitosan-Molekül mit der Zellmembran, die aus neutralen und ionischen Lipiden aufgebaut ist, interagieren. Daraus folgt entweder eine aktive Schädigung der Membran oder eine Permeation respektive Durchdringung. Beide Prozesse stören die Zellwand oder ihre Mechanismen, weshalb folglich der Mikroorganismus inaktiviert wird. Die aufgrund der lokalen Teilladungen induzierte Wechselwirkung zwischen Mikroorganismus und Chitosan-Molekül bleibt in der Theorie erhalten, weshalb davon ausgegangen wird, dass eine Beschichtungsformulierung mit Chitosan sehr stabil und lang anhaltend sein könnte. Eine Chitosan-haltige Beschichtung birgt also enormes Potenzial für eine entsprechende Langzeitwirkung und ausreichende Schichtstabilität.
Stichwort Testreihen: Setzt man dabei auf möglichst geringe Mengen, wenn der biobasierte Rohstoff als Wirkkomponente knapp oder teuer ist?
Im ersten Schritt sollte die Beschichtungsformulierung mit Chitosan so eingestellt werden, dass eine Wirksamkeit nachgewiesen werden kann. Es geht bei der Forschungsentwicklung zunächst weniger um die Wirtschaftlichkeit, sondern um das Erreichen der antimikrobiellen Funktionalität.
Dabei wurde zunächst untersucht, wie Chitosan grundsätzlich in ein Beschichtungsstoffsystem eingebracht werden kann. Chitosan ist in Reinform im neutralen und basischen Bereich unlöslich. Da die üblichen Lacksysteme meist in diesem pH-Bereich eingestellt sind, liegt beispielsweise eine Herausforderung darin, wie der Wirkstoff in die nicht pH-Wert-kompatible Lackmatrix eingebracht werden kann.
Wie entwickeln Sie die geeignete Rezeptur?
Diverse lacktechnische Parameter – Bindemitteltyp, Pigment-Volumen-Konzentration, Hilfsstoffe und andere – werden variiert und das Verhalten verschiedener Rezepturen wird verglichen. Meist wird schon beim Mischen aller Lackkomponenten eine erste Indikation über Stabilisierungs- und Abstoßungseffekte der Rohstoffe erkennbar. Diese gilt es dann im weiteren Verlauf zu analysieren und anhand der Ergebnisse zu optimieren.
Sobald ein in flüssigem Zustand stabiles System ermittelt werden konnte, wird dieser Lackansatz auf ein Grundsubstrat zur weiteren Bewertung appliziert. Sowohl während als auch nach der Filmbildung wird die Beschichtung auf Eigenschaften hin untersucht wie zum Beispiel Glanz, Rauheit, Haftung und nicht zuletzt auf ihre antimikrobielle Wirksamkeit.
Je nach Ergebnislage werden dann die Parametereinstellungen überarbeitet und neue Versuchsreihen geplant. Damit beginnt der Optimierungsprozess auf äquivalente Art von Neuem.
Welche Zusatzstoffe aus der Natur halten sonst noch Keime und Co. von uns fern?
Beispielsweise Bestandteile aus Zimt oder Extrakte aus diversen Kräutern, weshalb ich für meine zukünftige Forschung den Fokus auf eine bestmögliche Verwendung biobasierter Wirkstoffe und ihr Potenzial legen werde. Dabei ist für mich zum einen besonders interessant, welche Wirkstoffmengen, welche Wirkstoffkombinationen und welche Bindemitteltypen eine besonders hohe antimikrobielle Effektivität zeigen. Zum anderen prüfe ich standardisierte Lackeigenschaften der neu entwickelten Beschichtungen wie Glanz, Härte und Rauheit ab. Innerhalb zusammenfassender Betrachtungen analysiere ich dann, ob eine Korrelation zwischen den Lackeigenschaften und der Wirksamkeit existiert.
Könnten Krabbenschalen und Zimt dazu beitragen, auch bei Pandemien und Endemien die Keimbelastung im öffentlichen Raum oder im medizinischen Umfeld möglichst gering zu halten? Aufgrund ihrer antiviralen, antibakteriellen sowie antimykotischen Eigenschaften?
So einfach, wie es sich in Ihrer Frage anhört, ist es leider nicht. In einer Umgebung mit viel Publikumsverkehr – beispielsweise in öffentlichen Bereichen insbesondere hinsichtlich der Kontaktflächen von Gegenständen mit hoher Frequentierung – kann eine antimikrobiell funktionalisierte Oberflächenbeschichtung mit biobasierten Wirkstoffen zu einer wesentlichen Verringerung des Infektionsrisikos beitragen.
Allerdings nicht einfach durch Zugabe von Krabbenschalen oder Zimt als solchen. Am Beispiel Chitosan wird etwa ersichtlich, dass der Wirkstoff zwar aus Krabbenschalen gewonnen wird, aber er ist nur zu einem gewissen Anteil enthalten. Außerdem besteht die Herausforderung darin, diese Biostoffe in die Lackmatrix erfolgreich einzubinden, sodass ihre Wirkung signifikant nachweisbar ist.
Wie gehen Sie dabei vor?
Bei jeder Neuentwicklung einer antimikrobiellen Beschichtungsformulierung – unabhängig davon, ob biobasierte oder andere Wirkstoffe verwendet werden – ist die Testung auf antimikrobielle Wirksamkeit, Toxizität und Hautverträglichkeit zentraler Bestandteil. Zur Testung werden aus den verschiedenen Mikroorganismen-Gruppen ausgewählte Exemplare verwendet. Mit den Erkenntnissen aus den antimikrobiellen Testreihen kann zumindest eine Prognose erstellt werden, ob eine derartig entwickelte antimikrobielle Beschichtung mit biobasierten Wirkstoffen gegen die getesteten Mikroorganismen-Gruppen wirken kann. Zukünftige Forschungsprojekte sollen diesen Sachverhalt vertiefend betrachten.