Mit seiner Empfehlung, russische und belarussische Athleten an internationalen Wettkämpfen teilnehmen zu lassen, wollte das IOC offiziell die Sportwelt wieder einen. Doch wenig überraschend ist das Gegenteil der Fall.
Natürlich wusste Thomas Bach, dass diese Entscheidung ihm und dem Ringeorden viel Kritik einbringen würde. Es habe „einige negative Reaktionen, vor allem von manchen europäischen Regierungen“ gegeben, berichtete der Präsident des Internationalen Olympischen Komitees.

Aber insgesamt würde die IOC-Empfehlung an die Sportverbände, russische und belarussische Athletinnen und Athleten unter gewissen Bedingungen wieder bei internationalen Wettkämpfen teilnehmen zu lassen, auf großen Zuspruch stoßen. Der frühere Fechter ist bemüht, die richtungsweisende Entscheidung zu rechtfertigen, auch wenn der Weltsport durch sie auf ein sportpolitisches Chaos zusteuert, das die Olympischen Spiele 2024 in Paris überschatten dürfte. Dabei sind ihm auch fragwürdige Mittel recht, so wie der Hinweis auf weltweit 70 Kriegsparteien, die die Olympische Charta in der Mehrzahl respektieren und keinen Ausschluss ihrer Kriegsgegner fordern würden.
„Einige negative Reaktionen“
Ein weiterer taktischer Kniff: Das Verweisen auf die angeblich bereits gelungene Integration wie im Tennis, wo Russen und Belarussen schon lange als neutrale Athleten an den Start gehen dürfen. Dass diese Entscheidung der Spielergewerkschaften ATP und WTA viele Probleme nach sich zog, verschwieg Bach lieber. Das Wimbledon-Turnier hob für dieses Jahr den Bann nur widerwillig und auf großen Druck auf. Bei den Australien Open Anfang des Jahres sorgten russische Fans mit verbotenen Propaganda-Fahnen und -Emblemen für Aufsehen. Und für die ukrainischen Tennisprofis sind Duelle gegen ihre russischen Kontrahenten eine Qual. Lesia Tsurenko verzichtete zum Beispiel auf ihr Match gegen die belarussische Australian-Open-Gewinnerin Aryna Sabalenka beim Turnier in Indian Wells. Sie hatte nach eigener Aussage eine Panikattacke erlitten, nachdem ihr der WTA-Chef gesagt haben soll, dass sie auch eine andere politische Haltung zum Krieg in ihrem Heimatland akzeptieren müsse.
Auch für Marta Kostjuk sind Russinnen und Belarussinnen im Tennis-Zirkus ein Riesenproblem, aber sie könne an dem System nichts ändern. „Ich würde meine Position im Ranking verlieren, meine Karriere wäre vorbei“, sagte die Weltranglisten-32., die nach Spielen gegen Profis aus diesen Ländern den obligatorischen Handschlag verweigert. Doch auch für Spielerinnen wie Sabalenka, die sich öffentlich für Frieden ausgesprochen haben, ist es aktuell alles andere als leicht. „Es sind nicht nur die ukrainischen Spielerinnen, die diese Anspannung zwischen uns spüren“, sagte die Weltranglisten-Zweite. Beim jüngsten Turnier in Miami zum Beispiel habe sie „so viel Hass in der Garderobe erlebt“ wie nie zuvor.

Vor ähnlichen Problemen und Konflikten stehen nun auch die anderen Sportarten, die sich der Empfehlung des IOC anschließen wollen – oder müssen. Denn Weltverbände wie die im Triathlon, Turnen oder Kanu sind zum großen Teil abhängig von den Vermarkungsgeldern der Olympischen Spiele, und die werden vom IOC ausgeschüttet. Im Fechten, Ringen und Boxen hat die Öffnung bereits begonnen – und sofort hat sich Chaos breitgemacht. Die Amateurbox-Weltmeisterschaften der Frauen im indischen Neu-Delhi und die der Männer im usbekischen Tashkent haben zahlreiche Nationen boykottiert, weil dort Russen und Belarussen sogar unter ihrer Nationalflagge antreten durften.
Noch verwirrender ist die Lage bei den Fechtern: Dort hat der vom russischen Oligarchen Alischer Usmanow geführte Weltverband FIE sogar schon vor der offiziellen IOC-Empfehlung verkündet, Russen und Belarussen wieder auf die Planche zu lassen. Nach einem vor allem in Europa verheerenden Medienecho und starker Kritik aus Politik- und Athletenkreisen wurden die Weltcups in Tauberbischofsheim und Saint-Maur-des-Fossés in Frankreich abgesagt. Der für den 21. bis 23. April im polnischen Posen geplante Weltcup hätte auch mit Russen und Belarussen stattfinden können, wenn diese vorher eine mit der polnischen Regierung abgestimmte Versicherung unterschrieben hätten, dass sie den Krieg nicht unterstützen und auch nicht beim Militär angestellt sind. Weil die Verunsicherung am Ende so groß war, fiel auch dieser Weltcup ins Wasser.
Schwammige Empfehlung des IOC
Die Empfehlung des IOC ist nämlich recht schwammig. Wenn es heißt, dass Athleten den Krieg „nicht aktiv“ unterstützen dürfen, was ist dann genau darunter zu verstehen? Reicht es, dass sie sich niemals öffentlich für den Krieg ausgesprochen haben? Müssen die Social-Media-Kanäle der Sportler nun durchsucht werden, und wenn ja: durch wen? Ist eine schriftliche Erklärung, gegen den Krieg zu sein, eine Startvoraussetzung? Wohlwissend, dass dies die russischen und belarussischen Athleten und deren Familien in der Heimat in große Schwierigkeiten bringen könnte?
Auch das zweite einschränkende Element, dass die Sportler nicht beim Militär „unter Vertrag“ stehen dürfen, wirft Fragen auf. Nur die wenigsten Soldaten sind in Russland tatsächlich beim Militär fest angestellt. Es scheint hier reichlich Schlupflöcher zu geben – wie Aussagen von Wadim Iwanow, dem Cheftrainer der russischen Taekwando-Nationalmannschaft, untermauern. „Unsere Athleten haben einen Vertrag darüber, dass sie Athleten sind – Ausbilder von ZSKA“, sagte er der Nachrichtenagentur Tass. Unter den russischen Olympia-Teilnehmern, die in Tokio im Taekwondo Medaillen gewonnen haben, „hat niemand einen Vertrag mit den Streitkräften“.

Wer also soll all das beleuchten, all die kniffligen Fragen beantworten? Das IOC wälzt die Verantwortlichkeit mal wieder auf die einzelnen Verbände ab und empfiehlt die Einrichtung eines unabhängigen Gremiums. „Das IOC will am Ende nicht den ‚Schwarzen Peter‘ haben, so kommt es mir vor“, sagte Rodel-Olympiasieger Felix Loch. Und nicht alle sind in ihrer Linie so klar wie der Leichtathletik-Weltverband, der entschied: Russen und Belarussen bleiben so lange fern, wie es den Angriffskrieg in der Ukraine gibt. Damit dürften Athleten aus diesen Ländern keine Chance mehr auf Olympia haben, weil sie nicht an den Qualifikations-Wettbewerben teilnehmen können. Die Welt erlebe gerade eine „Zerstörung“, und auch der Tod vieler ukrainischer Athleten in diesem Krieg hätte seine „Entschlossenheit in dieser Angelegenheit nur noch verstärkt“, sagte Weltverbandspräsident Sebastian Coe.
Ein Großteil der Landesverbände folgt Coe in dieser Frage, doch der Zusammenhalt ist längst nicht in allen Sportarten so groß. Besonders bizarr ist die Situation im Fechten: Bei der EM im kommenden Juni in Krakau wollen die europäischen Verbände die Russen und Belarussen am liebsten weiter aussperren, allerdings hat der prorussische Weltverband hier auch ein gewisses Mitspracherecht, weil die EM gleichzeitig als Olympia-Qualifikation fungiert. Bei der jüngsten Turn-EM im türkischen Antalya fehlten russische und belarussische Athleten, Weltverbands-Boss Morinari Watanabe deutete aber an, besagte Sportler vielleicht bei Weltcups oder gar bei der WM 2023 in Antwerpen teilnehmen zu lassen. „Ich schütze alle Turner der Welt wie meine Familie“, sagte Watanabe.
Doch mit einer Zulassung würde er ausgerechnet den ukrainischen Turnern schaden. Denn die müssen aufgrund einer Vorgabe der Staatsführung Wettbewerbe boykottieren, an denen russische oder belarussische Sportler antreten. Das würde auch Olympia 2024 betreffen. „Unsere Sportgemeinschaft versteht das“, betonte der ukrainische Sportminister Wadym Hutzajt: „Wir leben in einem Zustand des Kriegsrechts, in dem nun mal bestimmte Menschenrechte gemäß dem internationalen Recht eingeschränkt sind.“
Die Ukrainer bleiben auf der Strecke
Starten die Russen, bleiben die Ukrainer fern – es ist genau diese gefühlte Ungerechtigkeit, die viele Menschen aufregt. Fechterin Léa Krüger vermutet wie viele andere auch, „dass alles dafür getan wird, Sportler aus Russland wieder einzugliedern, auch wenn damit toleriert wird, dass man die ukrainischen Athleten komplett rausdrängt“. Rodel-Star Loch glaubt, dass eine Zusammenführung beider Nationen im Sport aktuell nicht funktioniert. „Stellen wir uns das im Biathlon vor: Da steht dann ein russischer Sportler mit einer Waffe neben einem ukrainischen Sportler mit Waffe“, sagte der dreimalige Olympiasieger.

Bundesinnenministerin Nancy Faeser bezeichnete die IOC-Empfehlung daher auch als „Schlag ins Gesicht der ukrainischen Athleten. Dem Kriegstreiber Putin eine Propagandabühne zu bieten würde alle Werte des Sports verraten“. Das „katastrophale Signal“ soll aber nicht von deutschem Boden ausgesendet werden, deutete die für den Sport zuständige Ministerin an: Gastgeberländer könnten „über die Visaerteilung steuern, ob Russen teilnehmen können. Wenn wir in Deutschland internationale Wettbewerbe ausrichten, dann können wir entsprechend handeln“.
Geplant sind in Deutschland in diesem Jahr unter anderem die Weltmeisterschaften im Kanu und Bogenschießen sowie die Judo-EM. Sollte sich die Politik diesbezüglich einmischen, könnten die Weltverbände die Wettbewerbe in andere Länder vergeben. Es droht ein Chaos-Jahr mit viel Unsicherheit, Ärger und verpassten Olympiachancen. Aus diesem und anderen Gründen hat sich die Athletenvereinigung „Global Athlete“ klar gegen eine Rückkehr ausgesprochen, genau wie die nationale Organisation „Athleten Deutschland“. Deren Sprecherin Léa Krüger, eine Fechterin und Jura-Studentin mit den Schwerpunkten Völker- und Europarecht, fühlt sich vom IOC überrumpelt und im Stich gelassen. „Diese Entscheidung ist nicht die Entscheidung von uns Athleten“, sagte sie, „wieder wird über uns entschieden“.
Eine weitere Auflage des IOC für die Wiederzulassung klingt fast wie Hohn in den Ohren vieler Athleten: Die Russen und Belarussen müssen das Anti-Doping-Kontrollsystem erfüllen. Die formelle Sperre der russischen Anti-Doping-Agentur Rusada ist zwar vor ein paar Monaten ausgelaufen, doch ihr Status lautet noch immer „nicht regelkonform“. Die Isolierung Russlands in Kriegszeiten hat das Problem mit Sicherheit nicht verkleinert. „Die wenigsten sind erreichbar, Russland ist eine Blackbox“, sagte ein Mitarbeiter einer Anti-Doping-Agentur der „FAZ“.