Die Band Depeche Mode steht an einem Wendepunkt. Sie musste im vergangenen Jahr den Tod ihres Gründungsmitglieds Andrew Fletcher hinnehmen. Aber Dave Gahan und Martin Gore machen weiter. Wir sprachen mit Martin Gore über die Veränderungen der letzten Zeit.
Herr Gore, vier der neuen Songs sind in Zusammenarbeit mit Richard Butler von den legendären Psychedelic Furs entstanden. Gehörten die in den 1980ern zu Ihren Lieblingsbands?
Ich mochte schon immer, was Richard macht. Er war ja im Lauf der Jahre auch noch in andere Projekte involviert. Und während der Pandemie brachten die Psychedelic Furs dann ihr erstes Album seit 30 Jahren heraus.
Was mögen Sie an Butlers Art zu schreiben?
Er hat einfach gute Ideen für Songs. Ich mag es, wie er seine Worte wählt. Ich habe größtenteils die Musik geschrieben und Richard den Text. Zum Teil hat er auch die Gesangsmelodie beigesteuert.
Ist das der Anfang einer neuen musikalischen Freundschaft?
Nun, darüber haben wir noch nicht viel gesprochen. Es war aber eine sehr fruchtbare Zusammenarbeit. Es hat mir so großen Spaß gemacht, dass ich es gern fortsetzen würde. Ich denke, Richard hat es auch gefallen.
Sie haben das Album in Rick Rubins Shangri-La-Studio in Malibu aufgenommen. Gab es anfangs die Überlegung, ihn als Produzenten mit ins Boot zu holen?
Nein. Der Großteil der Platte wurde in meinem eigenen Studio in Santa Barbara eingespielt. Wir sind nur für fünf Tage runter ins Shangri-La gegangen, um dort unter anderem Schlagzeugspuren aufzunehmen.
Haben Sie Teile der Platte auch in Bob Dylans ehemaligem Tourbus eingespielt, den Rick Rubin als zusätzlichen Aufnahmeraum nutzt?
Ich bin da tatsächlich mal reingegangen, um es mir anzuschauen, aber aufgenommen haben wir darin nichts. Das ganze Shangri-La-Studio ist ein sehr besonderer Ort mit einem ganz speziellen Vibe. Natürlich fühlt es sich irre an, wenn man in Bobs Fußstapfen läuft.
War Bob Dylan in all den Jahren eine Inspiration für Sie und Depeche Mode?
Als Songschreiber weiß man einfach vieles von dem zu würdigen, was Bob Dylan gemacht hat. Ich mag nicht alles von ihm, aber er hat definitiv eine Menge großartiger Stücke geschrieben.
Auf „Memento Mori“ gibt es lediglich einen einzigen Songs von Ihnen und Dave Gahan. Sie beide kennen sich jetzt seit über 40 Jahren. Haben Sie da noch viele Ideen, wenn Sie zum Schreiben zusammenkommen?
Yeah. Gerade weil wir uns gegenseitig so gut kennen, ist das Schreiben für uns ein ganz natürlicher Vorgang. Es hat etwas Organisches. Wir haben uns darüber unterhalten, ob wir nicht wieder zusammen arbeiten wollen, als Andy noch lebte. Die ersten Ideen waren eher roh, ich habe ein bisschen auf der Gitarre herumgeklampft und dazu etwas gesungen. Das habe ich Dave als Voice-Memo geschickt. Und dann begann ich, an der Musik und an den Songstrukturen herumzufeilen. Das Album hat sich peu a peu entwickelt.
Haben Sie bei dieser Arbeit neue Seiten an Dave Gahan entdeckt?
Nun, wir mussten uns damit auseinandersetzen, dass Andy nicht mehr da ist. Denn Andy war ein sehr soziales Wesen. Es hat sich immer sehr unbeschwert angefühlt, wenn er dabei wir. Dave und ich hatten nie wirklich Probleme miteinander, aber vor Andys Tod war zwischen uns mehr Distanz. Und jetzt gibt es nur noch uns beide. Wir sind uns durch diese Tragödie wirklich nähergekommen.
Warum enthält die Platte so viele Lieder über den Tod? Hat das etwas mit der Weltlage zu tun?
Die Pandemie hat bei mir auf jeden Fall Spuren hinterlassen. Und auch auf der Platte. Der letzte Song, den ich dafür geschrieben habe, war „My Cosmos is mine“. Er entstand, nachdem die Russen in die Ukraine einmarschiert waren. In dem Moment wurde mir so richtig bewusst, dass wir überhaupt keine Kontrolle über das haben, was in der Welt passiert. Aber ich habe versucht, nicht ständig daran zu denken und eine Mauer um mich herum errichtet. Da sollte nichts Schlechtes durchdringen können.
Wie ist Ihr gegenwärtiges Lebensgefühl?
(lacht) Wie viel Zeit haben Sie mitgebracht?
Wir haben noch genau neun Minuten.
Zwischen dem letzten und diesem Album bin ich 60 geworden. Das hat mich sehr geprägt beziehungsweise aufgeweckt. Denn mein Stiefvater ist mit 61 Jahren gestorben und mein biologischer Vater mit 68.
Haben Sie an Ihrem Leben etwas geändert?
Nun, ich habe immer … nein, nicht immer. Ich versuche seit rund 20 Jahren sehr gesund zu leben.
Ich gehe ins Fitnessstudio und ernähre mich vernünftig. Deshalb glaube ich nicht, dass ich an meinem Leben viel verändern musste.
Ich habe mir einfach nur bewusst gemacht, dass ich jetzt 60 bin.
Zurück zum Album: Bei „My Cosmos Is Mine“ habe ich Assoziationen zu Tangerine Dream. Wurden Sie von Krautrock inspiriert?
Ich würde sagen, auf dem Album gibt es Stücke, die eher von Kraftwerk inspiriert wurden. Aber vielleicht hört man bei manchen Parts auch Tangerine Dream heraus. Die Hauptsequenz von „Wagging Tongue“ jedenfalls erinnert mich persönlich an Kraftwerk. Wie auch die Melodie in „People are good“.
Haben Sie Kraftwerk in letzter Zeit live erlebt?
Nein, ich sah sie vor langer Zeit live. Das muss in den 1980ern gewesen sein, und ich habe es geliebt. Sie waren die erste elektronische Band, die ich je erleben durfte.
Auf dem Album gibt es viel Elektronik, aber auch Gospel-, Jazz-, Blues-, Elektro-Funk und Filmmusik-Elemente. Sind Sie als Musiker mit offenem Ohr praktisch von allem beeinflusst?
Das habe ich immer von mir gesagt. Ich finde, als Songschreiber sollte man sich alles anhören, was man kann. Man muss Einflüsse von überallher aufnehmen. Es wäre ein großer Fehler, sich nur auf ein einziges Genre zu fokussieren. Ein Elektronikmusiker, der nur elektronische Musik hört, versäumt vieles von dem, das ihn potenziell inspirieren könnte.
„Caroline’s Monkey“ ist ein düsterer Bluessong, der offensichtlich von Heroin oder anderen Drogen handelt.
Es ist ein Song über einen Süchtigen und über Sucht, ja.
Muss man dem Publikum eine Anti-Drogen-Botschaft bringen?
Also, ich muss das nicht zwangsläufig. Aber es ist sicher gut, die Menschen über die Gefahren von Drogen aufzuklären.
Haben Sie ähnliche Erfahrungen mit Drogen gemacht wie Ihr Sänger?
Ja, aber vielleicht nicht in demselben Ausmaß. Es gab aber immer Drogenkonsumenten um mich herum. Menschen, die mir sehr nahestanden.
Wie sind Sie damit umgegangen?
Damit umzugehen ist sehr schwierig und es verzehrt dich Tag für Tag.
War es schwierig für Sie, das Album fertigzustellen, nachdem Andrew Fletcher verstorben war?
Andys Tod war für uns ein riesiger Schock. Manchmal stelle ich mir vor, er sei noch am Leben und laufe hier einfach rum. Es fällt mir noch schwer, es wahrzuhaben. Für Dave und mich war es danach ganz wichtig, dass wir uns auf die Musik konzentrieren. Hätten wir das Album verschoben, hätten wir bloß zu Hause herumgesessen und uns in düsteren Gedanken verloren. Wir hätten die ganze Zeit daran gedacht, was dem armen Andy widerfahren ist. Es war viel positiver, das zu tun, wofür wir leidenschaftlich brennen. Andys Tod haben wir in der Zeit der Album-Produktion ein bisschen verdrängen können.
Ist die Band ohne ihn eine ganz andere?
Natürlich, ja. Wir waren seit 1995 ein Trio. Wir drei haben sehr viel Zeit miteinander verbracht. Dave und ich sprechen jetzt oft darüber, dass wir im Moment sehr viele neue erste Male erleben: Dieses Album ist unser erstes ohne Andy, und auch bei der Fotosession hat er erstmals gefehlt. Das fühlt sich sehr seltsam an. An diese veränderten Bedingungen müssen wir uns erst langsam gewöhnen.
Auch bei Ihrer Tour wird Fletcher Ihnen sicher fehlen.
Wir haben bereits ein paar TV-Auftritte und ein kleines Konzert in München ohne ihn gespielt. Das hilft uns schrittweise, die Tour selbst zu meistern. Es wird sehr hart werden, besonders wenn wir dann ein Tribute für ihn spielen werden. Dieser Moment wird uns vielleicht mehr zusetzen als alles Bisherige.
Brauchen Sie Dave Gahan und braucht er Sie, um in Ihrer Band an Grenzen gehen zu können?
Wir sind ziemlich verschiedene Menschen mit sehr unterschiedlichen Einflüssen. Damit Depeche Mode Depeche Mode sein kann, braucht es uns beide. Wir ziehen die Band in verschiedene Richtungen.
Wie Sie bereits sagten, sind Dave Gahan und Sie näher zusammengerückt, weil Sie es einfach mussten. Wie hat sich das auf das Musikmachen ausgewirkt?
Der Umstand, dass Andy nicht mehr unter uns ist, hat Dave und mich mehr zusammenrücken lassen. Wir müssen ja jetzt als Duo mit allem klarkommen. Auch wenn wir niemals miteinander Probleme hatten, gab es zwischen uns immer eine gewisse Distanz. Aber jetzt reden wir viel mehr miteinander, wir telefonieren häufig oder sehen uns via Facetime. Hatte das einen Effekt auf die Musik? Vielleicht können wir jetzt besser über das reden, was wir mit unserer Musik erreichen wollen.