Schon seit der Steinzeit ist der Mensch systematisch ins Erdreich vorgedrungen. Im antiken Rom wurden viele Errungenschaften in Sachen Infrastruktur bekannt. Doch der eigentliche Durchbruch unter die Erdoberfläche gelang erst im 19. Jahrhundert.
Der Gedanke, dass der Mensch in manchen Regionen der Welt infolge des Klimawandels gezwungen sein könnte, seine Lebensumwelt ganz neu zu definieren und womöglich sein Dasein auf einen dauerhaften Aufenthalt unter der Erdoberfläche auszurichten, dürfte gar nicht so abwegig sein. Jedenfalls wäre eine solche Neuausrichtung weniger utopisch als beispielsweise die schon häufiger angedachten Massenevakuierungen zu anderen Planeten.
Ansätze zur Verlagerung von Verkehrswegen oder auch schon Einrichtungen des öffentlichen Lebens in den Untergrund sind ja längst vorhanden. Die ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts erbauten U-Bahnen oder die Fertigstellung einer funktionsfähigen unterirdischen Kanalisations-Infrastruktur in den meisten europäischen Großstädten bis Anfang des 20. Jahrhunderts waren dabei nur erste in einer Reihe von Schritten, die durch technische Innovationen möglich wurden. Ihnen folgten inzwischen weitaus spektakulärere Projekte wie die Inbetriebnahme des Eurotunnels, dessen 38 Kilometer langer unterirdischer Abschnitt weltweit seinesgleichen sucht. Oder der schweizerische Gotthard-Eisenbahntunnel, mit seiner Länge von 57,1 Kilometern aktuell Weltrekord.
Auch das städtische Leben dringt in zunehmendem Maße ins Erdreich vor. Die prägnantesten Beispiele dafür sind vor allem die sogenannten Untergrundstädte. An der Spitze liegen dabei die „Ville intérieure“ in der kanadischen Metropole Montreal deren Tunnelsystem 32 Kilometer lang ist und eine Fläche von zwölf Quadratkilometern mit Einkaufsläden, Hotels und Theaters umfasst, und das 27 Kilometer lange und sogar 371,6 Quadratkilometer umfassende Tunnelsystem „Path“ unter der City von Toronto.
Wenig Wohnraum in Untergrundstätten
Auch wenn in diesen Untergrundstädten bislang noch kaum Wohnraum eingerichtet wurde, so könnte sich dies in absehbarer Zeit ändern. Schließlich sind unterirdische Behausungen ja gar nichts Neues, in Kappadokien wurden sie bereits ab dem 8. Jahrhunderte v. Chr. erbaut und haben heute in der südaustralischen Kleinstadt Coober Pedy längst einen prominenten Nachfolger gefunden. In der Hauptstadt des weltweiten Opal-Abbaus herrschen nicht nur lebensfeindliche Hochtemperaturen, darüber hinaus können die zur Mineralgewinnung in den Stein getriebenen Gänge anschließend zur kostengünstigen Errichtung von Häusern (nicht teurer als oberirdische Bauten) genutzt werden.
Sogar unterirdische Hochhäuser scheinen inzwischen machbar zu sein, wie das atemberaubende, aber bislang an der Kostenfrage von kolportierten 800 Millionen Dollar gescheiterte Prestigeobjekt „Earthscraper“ in Mexiko-Stadt veranschaulichte. Der Architekten-Plan aus dem Jahr 2009 hatte eine umgekehrte Pyramide vorgesehen, die sich mit 65 Stockwerken rund 300 Meter tief ins Erdreich erstrecken sollte. Noch ferne Zukunftsmusik ist das Konzept eines japanischen Baukonsortiums, das eine Kugel mit einem Durchmesser von 500 Metern in den Ozean versenken und mittels einer Spirale am Meeresboden befestigen möchte. In dieser „Ocean Spiral“ genannten Kugel, die bei guten Wetterverhältnissen an die Meeresoberfläche aufsteigen können soll, sollen bis zu 5.000 Menschen leben können.

Falls sich kein Scheich-Milliardär als Investor für dieses kühne Vorhaben wird erwärmen können, dürften andere Menschheitsträume wie der „Gibraltar-Tunnel“, der auf 34 unterirdischen Kilometern Europa mit Afrika durch einen Eisenbahntunnel verbinden könnte, weitaus realistischer umsetzbar sein. Anfang 2023 hatten die Regierungen von Spanien und Marokko beschlossen, das Megaprojekt nun endlich ernsthaft angehen zu wollen. Und Finnland dürfte durchaus in der Lage sein, den schon lange geplanten 100 Kilometer langen Tunnel von Helsinki in die estnische Hauptstadt Tallin zu verwirklichen. Das dürfte nach dem vorbildlichen, einzigartigen Masterplan und aus ursprünglichen Schutzräumlichkeiten hervorgegangenen Ausbau der unterirdischen Helsinki-Stadt kaum zweifelhaft sein.
In Zeiten des Klimawandels und der Hinwendung zu nicht-fossilen Brennstoffen dürfte künftig auch die natürliche Erdwärme durch den schnelleren Ausbau von Erdwärmekraftwerken mit entsprechenden – nicht nur bodennahen, sondern auch in tiefere Erdregionen reichenden Geothermie-Anlagen – forciert werden. Dass sich die Schächte und Stollen aus der Zeit des hierzulande beendeten Kohlebergbaus irgendwann noch sinnvoll nutzen lassen könnten, ist eher unwahrscheinlich. In anderen Teilen der Erde wird aber noch immer kräftig nach Kohle oder wertvolleren Materialien wie Gold gebuddelt. Die tiefsten Bergwerke der Welt sind in Südafrika beheimatet, wo in bis zu 4.000 Metern unter der Erdoberfläche nach Gold gesucht wird. Und überaus gespannt darf man sein, wann in der Bundesrepublik ein sicheres unterirdisches Endlager für den hochradioaktiven Atommüll gefunden sein wird – dafür müssen wahrscheinlich Riesenlöcher in Salzstöcke gebohrt werden.
Das Vordringen des Menschen unter die Erdoberfläche über die Nutzung natürlicher Höhlen hinaus lässt sich schon im Jungpaläolithikum nachweisen, als um 40.000 v. Chr. in Afrika Ocker unterirdisch abgebaut wurde. Auch auf der Suche nach Feuerstein drangen die Steinzeit-Menschen ins Erdinnere vor. Das Buddeln nach Metallen begann frühestens ab 7.000 v. Chr. Neben Kupfer oder Gold war bald auch das häufig als „weißes Gold“ bezeichnete Salz in den Mittelpunkt menschlichen Interesses gerückt. Hallstatt gilt als ältestes Salzbergwerk der Erde. Die früheste funktionsfähige Kanalisation wurde zwischen 2.600 und 1.800 v. Chr. von einem Indus-Volk in der Stadt Mohenjo-Daro im heutigen Pakistan in Betrieb genommen. Für die Wasserversorgung der Stadt Jerusalem wurde um 700 v. Chr. ein seinerzeit berühmter etwa 530 Meter langer Tunnel angelegt.
Doch erst die Römer sollten ganz systematisch Tunnel für die Wasserversorgung und die Kanalisation entwerfen. Die „Cloaca Maxima“ wird mit ihrem unterirdischen System samt geschlossenen, in den Tiber mündenden Rohren als bekanntestes Abwasserbauwerk der Antike angesehen. Wohl kaum als Wohnstätte, sondern vornehmlich zur Totenbestattung und für rituelle Zwecke wurden in Rom und Neapel die Katakomben in den felsigen Untergrund geschlagen. Auch erste Keller wurden schon in römischer Zeit vor allem zur Lagerung von Wein angelegt, frühe Vorbilder für spätere ähnliche Gewölbe-Systeme beispielsweise in der Champagne. Auch im römischen Militärwesen wurden Tunnel zur Eroberung scheinbar uneinnehmbar befestigter Städte gegraben.
Tunnel dienten als Mittel zur Eroberung
Während das römische Wissen über den Bau von Kanalisationen im Mittelalter komplett verloren gegangen war, rückte der Bergbau mit der Suche nach Silber oder Kohle in dieser Menschheitsepoche in den Mittelpunkt unterirdischer Aktivitäten. Und auch der Kellerausbau wurde verstärkt betrieben bis hin zu einem zusammenhängenden unterirdischen Geflecht. Tunnel spielten weiterhin bei Angriffen auf Städte eine wichtige Rolle. Auch Krypten und Folterkerker wurden vielerorts errichtet. Ein Sonderfall sind die sogenannten Erdställe, bis zu 100 Meter lange Gänge, die zwischen 1000 und 1300 angelegt wurden. Auch wenn ihr Zweck bis heute unbekannt ist, gibt es von ihnen allein in Deutschland mehr als 700.
Mit Beginn der Neuzeit wurden neue Festungsanlagen mit unterirdischen Räumlichkeiten, sogenannten Kasematten ausgestattet. Doch der eigentliche Durchbruch in die Unterwelt sollte dann erst im 19. Jahrhundert erfolgen, als zum einen in London ab 1859 das erste perfekte, 1.800 Kilometer lange Kanalisationssystem der Neuzeit errichtet wurde. In Hamburg gab es schon in den 1840er-Jahren und in Paris 1852 erste Kanalisationsbauten, Berlin folgte in den 1870er-Jahren. In der Metropole an der Themse nahm die erste U-Bahn des Erdballs 1863 ihren Betrieb auf. Ein kleiner Nebenschauplatz waren die Brauereigewölbe samt Eiskellern, die zur Kühlung für das seinerzeit in Mode gekommene untergärige Bier absolut notwendig waren.
In den zwei Weltkriegen wurden Schutzräume in U-Bahnen oder heimischen Kellern für die Zivilbevölkerung lebenswichtig. Im Vietnam-Krieg sollten ausgeklügelte Tunnelsysteme den amerikanischen Soldaten große Probleme bereiten. In Zeiten des Kalten Krieges wurden in vielen Ländern unterirdische Atombunker gebaut, in der Bundesrepublik wurde für die wichtigsten Repräsentanten des Staates eine gigantische Anlage im Ahrtal errichtet. Für etwaige Engpässe in der Erdölversorgung wurde im deutschen Norden in unterirdischen Salzstöcken die sogenannte Strategische Ölreserve angelegt. Und im Genfer Cern-Forschungszentrum wurden für physikalische Experimente bis zu 27 Kilometer lange Ringtunnel ins Erdreich hineingetrieben. Schließlich wurde weltweit auch der Aus- beziehungsweise Neubau von U-Bahnen wieder ganz verstärkt in Angriff genommen. Und in Deutschland soll mit dem zukünftigen Stuttgarter Hauptbahnhof „Stuttgart21“ ein umstrittenes unterirdisches Jahrhundertprojekt 2025 fertiggestellt sein.