Der Ausgang der ukrainischen Offensive hat auch Auswirkungen auf den Westen
Der Ukraine-Krieg geht in den kommenden Wochen in eine entscheidende Phase. Nach Angaben von Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg hat die Regierung in Kiew bislang 230 Kampfpanzer und 1.500 gepanzerte Fahrzeuge von westlichen Staaten erhalten.
Die Frage aller Fragen, die derzeit zwischen Washington, Brüssel und Berlin gestellt werden: Reicht diese Aufrüstung für eine Gegenoffensive der Ukraine, um Russland massiv zu schwächen oder Moskau sogar eine strategische Niederlage beizubringen? Immerhin gelang den Truppen von Präsident Wolodymyr Selenskyj im September die Befreiung der ostukrainischen Metropole Charkiw und im November die Rückeroberung der südukrainischen Stadt Cherson. Doch seither herrscht ein für beide Seiten verlustreicher Zermürbungskrieg.
Die seit Wochen angekündigte Frühjahrsoffensive der Ukrainer fand bislang aus mehreren Gründen noch nicht statt. Die dringend benötigten westlichen Waffensysteme wurden spät verschickt. Die Ausbildung der ukrainischen Soldaten zog sich in die Länge. Hinzu kam, dass der April Regenfälle in Rekordhöhe brachte. Das Gelände besteht vielerorts aus Schlammwüsten. Panzer würden in der Erde stecken bleiben.
Der Zeitfaktor verschaffte den Russen weitere Vorteile: Sie konnten mehrere Verteidigungslinien errichten. Zudem sollen dichte Minenteppiche den Vormarsch der Ukrainer verhindern.
Das strategische Ziel der Ukrainer besteht darin, einen Keil in die russische Landbrücke im Süden zu treiben. Wenn es den ukrainischen Verbänden gelänge, bis zur Stadt Melitopol und dann weiter bis zum Asowschen Meer vorzustoßen, wäre die russische Ost- von der Westfront getrennt. Die Nachschublinien der Russen wären unterbrochen.
Bereits heute führen die Ukrainer einen Schattenkrieg vor der eigentlichen Frühjahrsoffensive durch. So setzten sie am Samstag mittels Drohnen-Attacken ein Treibstofflager in der Hafenstadt Sewastopol auf der Krim in Brand, dem Hauptstützpunkt der russischen Schwarzmeerflotte. Eine Schlüsselrolle spielen sogenannte „Partisanen“, pro-ukrainische Kräfte auf von Russen besetztem Gebiet. Sie geben den ukrainischen Einheiten die Koordinaten der russischen Stellungen und Munitionsdepots durch. „Wir wollen die Russen verunsichern und ihr Arsenal dezimieren, bevor wir richtig losschlagen“, heißt es aus Geheimdienstkreisen in Kiew.
Der Erfolg oder Misserfolg der ukrainischen Gegenoffensive wird eine neue Dynamik im Krieg erzeugen. Schaffen es die Ukrainer, die Russen auf breiter Front zurückzudrängen und große Geländegewinne zu erzielen, wäre das Signal an die Waffenlieferanten im Westen: Die gigantische Kraftanstrengung hat sich gelohnt. Weitere Entsendungen von Militärgerät wären wahrscheinlich. Zudem ließe sich die Unterstützung der Bevölkerung leichter gewinnen. Die Botschaft: Rund 78 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs darf es dem russischen Präsidenten Wladimir Putin nicht erlaubt werden, Land zu rauben und Grenzen zu verschieben.
Sollte die Ukraine im Zuge der Frühjahrsoffensive gar auf die Krim vordringen, würde der Druck auf Putin steigen. Er könnte sich dann gezwungen sehen, wenigstens über einen Teil der von Russland einverleibten Gebiete im Donbass zu verhandeln. Eine totale Niederlage im Ukraine-Krieg würde der Kremlchef politisch nicht überleben.
Wenn die Ukrainer hingegen trotz riesigen Aufwands nur wenig Territorium zurückerobern sollten, geriete Selenskyj in Zugzwang. Auch wenn dies heute im Westen niemand öffentlich sagt: Der ukrainische Staatschef bekäme dezente Hinweise, dass er nach einer Verhandlungslösung suchen sollte, die Gebietsverzichte miteinschließt. „Auf dem Niveau, auf dem wir derzeit militärische Unterstützung leisten, wird dauerhaft nicht gehen“, hört man in der Bundesregierung. Auch, weil die Bevölkerung dann verstärkt die Frage stellen werde, ob der hohe Preis gerechtfertigt sei.
Das gleiche Szenario bietet sich in den USA. Dort beginnt im Herbst der Präsidentschaftswahlkampf. Die Republikaner werden den teuren Krieg und die hohen Energiepreise zum großen Thema machen. Für Präsident Joe Biden dürfte es immer schwieriger werden, Waffen im bisherigen Umfang an die Ukraine zu liefern. Der Ausgang der Gegenoffensive wird den Krieg in die eine oder andere Richtung bewegen.