Seit jeher haben sich die Menschen mit dem Tod und dem Jenseits beschäftigt. Eine Ausstellung im Berliner Humboldt Forum mit dem Titel „Un_endlich“ betrachtet das Thema aus allen erdenklichen Perspektiven.
Der Wunsch, nach dem Tod in irgendeiner Form weiterzuleben, verbindet die Völker. Viele gehen davon aus, dass nach dem Tod ein Übergang in eine andere Daseinsform stattfindet. Doch an dieser Stelle verlieren sich die Gewissheiten, auch Neurologen wissen nicht, ob es ein Leben nach dem Tod gibt. In der Berliner Ausstellung und im Begleitbuch dazu wird man deshalb mit unterschiedlichen Weltanschauungen konfrontiert. Und etliches dürfte zum Staunen und Nachdenken anregen. „Die dramaturgische Grundidee war, die Ausstellung als Drama in fünf Akten zu konzipieren“, sagt Kurator Detlef Vögeli. Man geht durch inszenierte Räume und erlebt die Phasen des Werdens und Vergehens ganz unmittelbar. Bühnenbildner haben den Rundgang als „Theater des Lebens“ in mehreren Szenen angelegt.
„Der Homo sapiens ist vermutlich das einzige Tier, das weiß, dass es sterben wird“, so Vögeli in seiner Einführung, „wir müssen leben mit dem Tod“. Deshalb hätten die Menschen Geschichten und Rituale ersonnen, um das Unerklärliche fassbar, das Unerträgliche ertragbar zu machen. Diese Illusionen machten das Leben leichter. Auch haben gesellschaftliche Gruppen die Angst vor dem Tod schon immer für sich genutzt. So führt man Individuen über Religion zu Glaubensgemeinschaften zusammen. Der einzelne Mensch erscheint in einer größeren Erzählung und erhält einen Verhaltenskodex. Am Ende lockt das Versprechen einer besseren Welt.
Verbrannter Körper, freie Seele
Das Berliner Stadtschloss mit seinen umfassenden ethnologischen Sammlungen ist der passende Rahmen, um internationale Fachleute über ihre Vorstellungen vom Jenseits sprechen zu lassen. Da ist der Hindupriester, der erklärt, warum der Leichnam verbrannt und seine Asche in den Ganges gestreut werden muss: Zum einen solle sich die Seele nicht noch einmal denselben Körper suchen, zum anderen sei das fruchtbare Wasser auf den Feldern nützlich. „Man hat in unserer Kultur Angst, dass uns die verstorbene Seele hinterherläuft, wenn wir sie nicht anständig verabschieden“, sagt Vilwanathan Krishnamurty. „Deshalb müssen wir bei Bestattungen immer Urlaub nehmen und nach Indien reisen.“
Muslimische Mystiker, die asketisch lebten, trugen einen Turban, der später als ihr Leichentuch dienen sollte. Er war ihnen und ihren Anhängern eine ständige Erinnerung an die Sterblichkeit. Im Judentum kennt man den Brauch, einen Stein auf einem Grab abzulegen. Dies dient dem Gedenken an den Menschen, früher markierte man damit die Begräbnisstellen in der Wüste. Auf den jüdischen Friedhöfen gilt die ewige Totenruhe. Das heißt, die Grabfelder werden nicht aufgehoben, was in Jerusalem zum Bau eines unterirdischen Friedhofs mit 24.000 neuen Grabstätten führte. Im Gegensatz dazu führten die Christen im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert die Kremation wieder ein, da die Friedhöfe überfüllt waren.
Außerhalb Europas findet man hingegen Wiederbestattungsrituale. In Indonesien werden beim Ma’nene-Fest Angehörige noch nach Jahren ausgegraben, in der Sonne getrocknet, gereinigt und neu eingekleidet. Heutzutage gehört auch ein Selfie mit der verstorbenen Mutter dazu, wie der Fotograf Klaus Bo in einer eindrücklichen Bildreportage festgehalten hat. Interessant ist, dass in nicht-westlichen Kulturen häufig eine weniger strikte Trennung zwischen tot und lebendig stattfindet. So auch beim Dia de los Muertos in Südamerika, wenn man mit den Verblichenen kommuniziert und sie in den Alltag einbindet.
Erstaunlich ist ein Exponat aus dem Buddhismus, nämlich ein farbiges perlenähnliches Kügelchen, wie es nach der Verbrennung von Auserwählten verbleibt, die Erleuchtung erlangt haben. Auch Buddhisten kennen Höllenqualen. „Es gibt Orte, wo die Zungen abgeschnitten werden. Oder Orte, an denen man bis ins Unendliche verhungert“, erzählt die vietnamesische Nonne Thien My. „Aber im schlimmsten Bereich, da passiert nichts. Da sitzt man mit seinem Schuldgefühl, mit allem Schlechten, das man getan hat, allein.“ An ein schreckliches Sterben wird ebenso mit den Flüchtlingskatastrophen im Mittelmeer erinnert. Nicht nur die Ertrunkenen haben gelitten, auch ihre Familien, die sie ohne Nachricht verlieren. „Ambiguous loss“ bezeichnet die Tragödie, wenn man nicht weiß, ob jemand noch am Leben ist. Exemplarisch berichtet die italienische Rechtsmedizinerin Christina Cattaneo über die Untersuchung eines bei Lampedusa gesunkenen Migrantenbootes. Von 366 Opfern konnten nur 50 identifiziert werden.
Der Wunsch unsterblich zu sein
Unter dem Titel „Vier Möglichkeiten, ewig zu leben“ stellt der Philosoph Stephen Cave Strategien der Unsterblichkeit vor. Zunächst fragt er, warum Menschen überhaupt das Bedürfnis haben, unsterblich zu werden – denn wäre es nicht das Selbstverständlichste, unter acht Milliarden Erdbewohnern wieder in die Bedeutungslosigkeit zu versinken? „Dass ich sterblich bin, erscheint mir wie ein kosmischer Rechenfehler“, sagt er. „Dass all meine Erinnerungen und mühsam errungene Weisheit, meine Pläne, Projekte und Hoffnungen ausgelöscht werden, kann ich nur als einen furchtbaren Irrtum begreifen.“ Wie sei es möglich, dass dieses ganze Leben, das man aufgebaut habe, dass diese ganze Erfahrungswelt verschwinden wird?
Stephen Cave führt diesen Lebensdurst auf unser Bewusstsein, den Gipfel von vier Milliarden Jahren Evolution, zurück. Er identifiziert das „Lebenselixier“ als erste Strategie; Praktiken, um (länger) am Leben zu bleiben, die es schon in der Antike gegeben hat. Neueste Technologien wie die Künstliche Intelligenz zeigen, dass das „Wiederbeleben“ eines Geistes bald Wirklichkeit werden könnte. Tatsächlich gibt es längst Start-ups, die versprechen, alle E-Mails, Textbotschaften und Social-Media-Posts eines Menschen zu sammeln, um sie in ein digitales Ich zu verwandeln, das nach dem Tod weiter mit seinen Lieben interagieren kann. Eine weitere Strategie ist das Vermächtnis. Man möchte kulturell erinnert werden – auch das ist dank Digitalisierung einfacher als zuvor.
Am Ende der Ausstellung ertönt ein flammendes Plädoyer für ein ressourcenschonenderes Leben auf dem Planeten. Denn nicht nur der omnipräsente Klimawandel, sondern nicht minder das Aussterben vieler Arten stellen eine echte Gefahr für die Menschheit dar. Mit einem mulmigen Gefühl erfährt man, dass die Vereinten Nationen von einem Wachstum um weitere zwei Milliarden Menschen bis zur Jahrhundertmitte ausgehen sowie nochmals knapp drei Milliarden mehr bis 2100. Der Hamburger Evolutionsbiologe Matthias Glaubrecht nennt es das Ende der Evolution oder die Vernichtung der Arten. Die Ausstellung „Un_endlich“ belässt es bei einem „Open end“ und fragt: Was wird bleiben?
Die Ausstellung „Un_endlich – Leben mit dem Tod“ ist noch bis zum 26. November 2023 im Humboldt Forum zu sehen. Weitere Informationen: www.humboldtforum.org.