Schon seit Jahrhunderten versucht man in das individuelle Schriftbild eines Menschen mehr hineinzudeuten, als tatsächlich niedergeschrieben wurde. Die Handschrift soll ein Abbild des Charakters sein. Doch stimmt das überhaupt?
Obwohl alle Kinder in der Grundschule die gleichen Buchstaben lernen, kann das Ergebnis ganz unterschiedlich aussehen. In der Jugend verändert sich die Handschrift bis ins Erwachsenenalter hinein in der Regel beträchtlich. Danach bleibt sie bis auf kleine Veränderungen gleich – und praktisch unverwechselbar.
Das macht sich die forensische Handschriftenanalyse zunutze: Sachverständige können feststellen, ob zwei Schriftstücke vom selben Verfasser stammen, indem sie zum Beispiel die Größe, Neigung und Druckstärke der Buchstaben vergleichen. So lässt sich etwa die Echtheit von Unterschriften ermitteln. Doch manche glauben, aus der Schrift einer Person noch mehr herauslesen zu können: ihre Persönlichkeit.
Berufsausbildung gibt es nicht
Die Lehre von der Handschrift als Abbild des Charakters nennt sich Graphologie. Eine klassische Berufsausbildung in der Graphologie gibt es nicht. Doch ihre Anhänger sind überzeugt, dass Handgeschriebenes auf das Wesen des Schreibers schließen lässt. Sie bieten ihre Dienste etwa Firmen an, die passende Kandidatinnen oder Kandidaten für eine Stelle finden möchten. Der Berufsverband geprüfter Graphologen wirbt auf seiner Website, professionelle Handschriftenleser könnten Aussagen über die Persönlichkeit eines Bewerbers treffen: über etwaige Persönlichkeitsstörungen, Intelligenz und Kreativität, soziale Kompetenzen und Führungsqualitäten, Belastbarkeit und nicht zuletzt Ehrlichkeit und Loyalität. Doch stimmt diese Behauptung?
Im Laufe der Geschichte wurde schon so mancher Indikator für den Charakter ausgemacht und wieder verworfen, wie die Schädelform und die Proportionen des Gesichts. Äußere Merkmale hielt man für einen Spiegel des Innenlebens. Schon zu Beginn des 17. Jahrhunderts gab es vereinzelt Deutungen von Handschriften. Die Graphologie mit wissenschaftlichem Anspruch begründete der französische Priester Jean-Hippolyte Michon (1806–1881). 1875 veröffentlichte er ein selbst entwickeltes Analysesystem und die Handschriftendeutung erfreute sich in seiner Heimat fortan großer Beliebtheit. Der deutsche Psychologe Ludwig Klages (1872–1956) machte sie auch hierzulande bekannt. 1917 erschien sein Buch „Handschrift und Charakter“, in dem er umfangreiche Deutungstabellen aufstellte. Seiner Ansicht nach zerren seelische Kräfte und Gegenkräfte an der Schrift. Als Abbild dieser Kämpfe gewähre sie Einblick ins menschliche Innenleben.
Bis in die 50er-Jahre, als man Lebensläufe noch von Hand schrieb, wurde die Graphologie häufig in Bewerbungsverfahren und für forensische Gutachten vor Gericht angewendet. Als wissenschaftlich fundierte psychologische Tests sich mehr und mehr durchsetzten und die Verfahren zur Bestimmung von Persönlichkeitsmerkmalen gewissen Gütekriterien genügen mussten, verlor die Graphologie an Bedeutung. Zu Recht.
Zwar ist denkbar, dass das Schreiben als vom Gehirn gesteuerter motorischer Vorgang etwas über die Psyche verrät. Doch dass die Graphologen tatsächlich vom einen auf das andere schließen können, bezweifelten Efrat Neter und Gershon Ben-Shakhar von der Hebräischen Universität in Jerusalem schon vor rund 30 Jahren. In einer Metaanalyse über 17 Studien zur Graphologie in der Personalauswahl verglichen sie die Prognosen von Graphologen mit denen von Laien sowie Psychologen ohne graphologisches Vorwissen. Insgesamt ging es um mehr als 1.200 Schriftstücke, aus denen es vorherzusagen galt, wie sich der Kandidat zukünftig im Job schlagen würde.
Wie gut die Schriftdeutungen mit späteren Bewertungen durch Vorgesetzte übereinstimmten, bezifferten die Forscher mit Korrelationen. Würden die Prognosen der Schriftdeuter, was Auffassungsgabe und Naturell der Bewerber angeht, perfekt ins Schwarze treffen, betrüge die Korrelation genau eins. Lägen sie durch die Bank daneben, ergäbe das eine Korrelation von null.
Für alle Graphologen, Psychologen und Laien zusammen lag der Zusammenhang zwischen der aus der Schrift ermittelten und der tatsächlichen Arbeitsleistung zwischen 0,14 und 0,2. Die Graphologen allein brachten es gerade mal auf eine Korrelation von 0,15 bis 0,18. Psychologen waren besser darin, zukünftiges Verhalten aufgrund von Schriftproben vorherzusagen, als Graphologen. Die stellten sich teils sogar schlechter an als Laien. Die Unterschiede waren allerdings klein und die Prognosen insgesamt schlecht.
Studie beweist: keine Zusammenhänge
Aber könnte es nicht doch einzelne Merkmale einer Schrift geben, die typisch sind für bestimmte Persönlichkeiten? Um das zu prüfen, ließ die Psychologin Barbara Gawda von der Maria-Curie-Skłodowska-Universität im polnischen Lublin forensische Schriftgutachter nach auffälligen Merkmalen in Handschriften suchen. 440 Studierende gaben dazu eine Schriftprobe in Form eines kurzen Diktats ab und füllten einen Persönlichkeitsfragebogen aus.
Die Gutachter studierten unter anderem die Größe der Buchstaben, die Art der Verbindungen zwischen den Buchstaben, die Form der Bögen bei „m“ und „n“, die Art des i-Punkts (Punkt, Kreis oder ein kurzer Strich), Druckstärke und Kipprichtung der Schrift sowie Anzeichen für eine zitternde Hand. Anschließend suchte die Psychologin nach Zusammenhängen zwischen diesen Schriftmerkmalen und den Persönlichkeitsfaktoren emotionale Stabilität, Extraversion, Verträglichkeit, Gewissenhaftigkeit, Offenheit und Impulsivität. Doch sie fand keine. Das Schriftbild eines Menschen gebe keine Hinweise auf diese zentralen Persönlichkeitsmerkmale, folgerte sie.
Warum fasziniert die Graphologie trotzdem so viele? „Menschen möchten gerne daran glauben, dass es geheime Psychotricks gibt, mit denen man andere durchschauen kann“, erklärt Uwe Kanning, Professor für Wirtschaftspsychologie an der Hochschule Osnabrück. Vielen gefalle die Vorstellung, man könne etwa anhand von Augenbewegungen Lügner entlarven oder schon an der Unterschrift eine hohe Intelligenz feststellen.
Der Psychologe beschäftigt sich mit unseriösen Methoden in der Personalarbeit; die Graphologie ordnet er der Kategorie des Halbseidenen zu. Ihm zufolge beschäftigen immer noch etwa zwei Prozent der deutschen Unternehmen Graphologen. „Das klingt nach nicht viel, aber bei über drei Millionen Unternehmen in Deutschland werden immer noch Tausende Menschen nach ihrer Handschrift bewertet“, kritisiert er. „In Frankreich und der Schweiz ist die Graphologie sogar noch beliebter als hierzulande.“
Die Graphologie profitiert wie die Astrologie vom sogenannten Barnum-Effekt: So mancher Schriftdeuter rühmt sich damit, dass die Menschen sich in seiner Analyse wiedererkennen. Doch die Kundenzufriedenheit ist in diesen Fällen kein Indiz für die Stichhaltigkeit der Methode. Der Barnum-Effekt besagt, dass wir vage Charakterbeschreibungen leicht als individuell auf uns zugeschnitten akzeptieren. Benannt ist das Phänomen nach dem US-amerikanischen Schausteller Phineas Taylor Barnum (1810–1891), der damit warb, dass in seinem Kuriositätenkabinett (unter anderem bestehend aus einem Bauchredner, einem Flohzirkus und einem Modell der Niagarafälle) „für jeden Geschmack etwas dabei“ sei.
Schrift verrät das Alter des Schreibers
Der Psychologe Bertram Forer demonstrierte das Prinzip bereits Mitte des 20. Jahrhunderts in einem mittlerweile oft wiederholten Experiment. Er gaukelte Studierenden vor, sie nähmen an einem Persönlichkeitstest teil. Am Ende des Tests sollten sie auf einer Skala von null bis fünf bewerten, wie gut das Ergebnis auf sie zutrifft. Im Durchschnitt vergaben die Teilnehmer erstaunliche 4,3 Punkte. Dabei hatte jeder den gleichen Text erhalten. Die Rückmeldung bestand aus Binsen wie „Manchmal verhalten Sie sich extrovertiert, leutselig und aufgeschlossen, dann aber auch wieder introvertiert, skeptisch und zurückhaltend“.
Doch was ist mit anderen Merkmalen – etwa dem Geschlecht? Kann man an der Handschrift erkennen, ob ein Mann oder eine Frau einen Text verfasst hat? „Eine sichere Aussage lässt sich darüber nicht treffen“, sagt die Psychologin Petra Halder-Sinn. Sie war bis 2009 Professorin für Psychologische Diagnostik an der Justus-Liebig-Universität Gießen. Als Gutachterin für Schriftvergleich überprüft sie heute unter anderem Unterschriften auf ihre Echtheit. „Allerdings finden sich unter Schreiberinnen mehr schöne und ordentliche Handschriften als unter männlichen Urhebern. Dies ist darauf zurückzuführen, dass Frauen eine bessere Feinmotorik besitzen als Männer.“
Der Unterschied sei in den vergangenen Jahrzehnten aber immer mehr zurückgegangen. Mitte des 20. Jahrhunderts legte man in der Schule noch großen Wert auf Schönschrift, und dem kamen Schülerinnen eher nach als Schüler. „Nicht nur weil sie von Haus aus die bessere Feinmotorik besitzen, sondern weil es üblich war, besonders bei ihnen auf eine saubere und ansehnliche Schrift zu achten“, ergänzt die Expertin.
Und auf noch etwas kann die Schrift Hinweise liefern: das Alter. Denn präzise Handbewegungen erfordern ein geschicktes Zusammenspiel von Muskeln, Nerven und Hirnarealen, die für die Motorik zuständig sind. Wer schreibt, vollbringt also eine anspruchsvolle motorische Leistung. „Im höheren Alter können feinmotorische Störungen auftreten, die oft nur in der Handschrift, aber nicht in der Grobmotorik erkennbar sind“, erklärt Petra Halder-Sinn. Das Schriftbild kann dann weniger gleichmäßig erscheinen. Viele Menschen schreiben zudem im Alter größer, weil sie schlechter sehen als früher. Sehr alte Schreiber erkennt man heute mitunter daran, dass sie noch einzelne Buchstaben aus dem Sütterlin-Alphabet verwenden.
Auch bestimmte Krankheiten verändern das Schriftbild. Eine Parkinson-Erkrankung, die sich vor allem in Bewegungsstörungen äußert, führt zu einer kleineren Schrift, der sogenannten Mikrographie. Anfangs verkleinert sich das Schriftbild vor allem beim Schreiben längerer Texte. Das kann als frühes Warnzeichen dienen. Bei fortgeschrittener Erkrankung ist auch ein Zittern der Hand in der Schrift erkennbar.
Hinweise auf Depressionen
Als man in den 50er-Jahren erstmals Neuroleptika zur Behandlung von Schizophrenie einsetzte, zeigte sich, dass die Medikamente bei zu hoher Dosierung parkinsonähnliche Symptome hervorrufen. Noch bevor die Nebenwirkungen in der Grobmotorik zutage traten, waren sie bereits im Schriftbild erkennbar. Der Psychiater Hans-Joachim Haase führte deshalb die Handschrift als Kriterium für die passende individuelle Dosis ein.
Wenn sich neurologische Störungen auf diese Weise zeigen – könnte die Handschrift dann nicht auch etwas über den Seelenzustand verraten? Möglich wäre es. Besonders bei schweren Depressionen kommt es zu einer sogenannten psychomotorischen Verlangsamung, die sich in Gangbild und Mimik niederschlägt. Eine Studie an der Ludwig-Maximilians-Universität in München zeigte, dass Menschen mit Depressionen tatsächlich langsamer schreiben als gesunde. Dafür, dass sich Depressionen oder auch Suizidgedanken im Schriftbild erkennen ließen, gibt es bisher jedoch keine ausreichenden Belege.
Allerdings geht der Graphologie ohnehin mehr und mehr das Studienmaterial aus. Die meisten Menschen greifen immer seltener zum Stift, stattdessen tippen und wischen sie auf ihren Tastaturen und Displays. Mit der Hand zu schreiben, womöglich sogar eine Postkarte, wirkt zunehmend altertümlich. Doch darin offenbart sich, wenn schon nicht der Charakter, so doch die Wertschätzung für eine schöne Kulturtechnik aus analogen Zeiten.