Eine komplette Großfamilie soll im Elektro-Van Mercedes EQV luxuriös reisen. Wirklich? Wir probieren es mit sechs Personen plus Hund aus.
Mit den Schwiegereltern zu verreisen ist wie umziehen, nur ohne Kartons. Der Kofferraum platzt aus allen Nähten, vollgestopft mit Reisetaschen, Kühlboxen, Wasserflaschen und hundert anderen Utensilien, die man auf einem einwöchigen Ausflug eventuell gebrauchen könnte. „Wir haben nur das Nötigste dabei“, beteuert die Schwiegermama, als sie mit letzter Kraft ihr Gepäck über die Ladekante hievt. Zum „Nötigsten“ gehören Nudeln, Linsen, Handtücher, Bettwäsche und mehrere Rollen Toilettenpapier, obwohl diese in der Ferienwohnung inbegriffen sind. Nur gut, dass der Kofferraum mehr als 1.000 Liter fasst!
Unser Reiseziel: Rügen. Fast 800 Kilometer sind es von Bonn bis zu Deutschlands größter Insel. Am Steuer sitzt der Autor dieses Textes, daneben die Ehefrau, dahinter Schwiegereltern, Eltern und Hund. 16 Beine also, die zwischen Thermoskannen und Rollkoffern ihren Platz finden möchten.
Stolze 2,8 Tonnen Eigengewicht
Da der Trip elektrisch verlaufen soll, ist unsere Auswahl eingeschränkt. Zwar waren Anfang 2023 schon zwei Millionen reine E-Autos in Deutschland zugelassen, die meisten allerdings im SUV-Format. Kleinbusse findet man bislang kaum (siehe Infobox).
In diese Marktlücke stößt Mercedes mit dem EQV vor, dem vollelektrischen Äquivalent der V-Klasse. Die Großraum-Limousine will Komfort und Platz vereinen – ein Fünf-Meter-Auto, das sich als Taxi oder Familienkutsche empfiehlt. Mit einer Akku-Ladung soll es bis zu 356 Kilometer weit kommen. Aber reicht das für die Langstrecke? Und ist der Elektro-Van wirklich so komfortabel, dass man nach einem Autobahn-Marathon noch gut sitzen kann? Finden wir’s raus!
„Mensch, das ist aber bequem“, freut sich die Schwiegermutter, als sie in ihrem Ledersitz Platz nimmt. Dieser verfügt über einzelne Armlehnen, wie im Flugzeug, nur dass man in diesem Fall nicht darum kämpfen muss. In unserem Testfahrzeug sind sechs Einzelsitze verbaut, getrennt durch einen Mittelgang. Auch andere Anordnungen sind möglich, sodass sich Passagiere bei Bedarf gegenübersitzen können. Insgesamt lässt sich der EQV mit bis zu acht Sitzen bestücken, was in unserem Fall aber doch etwas eng wäre. Immerhin muss der Hund irgendwo liegen, im Idealfall nicht auf Schwiegermutters Schoß.
Erstaunlicherweise merkt man dem Koloss seine 2,8 Tonnen Eigengewicht kaum an, mit sanftem Druck aufs Strompedal verlässt der EQV den Stellplatz. Im Rückspiegel ein stolzer Blick: Der Papa freut sich über das Auspark-Talent seines Sohnes. Doch der winkt gleich ab – die gute Rundumsicht liegt vor allem am Glasdach, der gläsernen Kofferraumklappe und der hochauflösenden Rückfahrkamera. Kostet natürlich alles extra, hilft beim Manövrieren aber ungemein.
Apropos Kosten: Die Diesel-Variante der V-Klasse ist ab 60.404 Euro erhältlich; der EQV kostet mit großem Akku mindestens 74.554 Euro. Zieht man jedoch die staatliche Förderung ab und bedenkt die geringeren Betriebskosten – kein Ölwechsel, keine Kfz-Steuer, günstiger Strom bei eigener PV-Anlage –, dürften sich die Kosten in einigen Jahren amortisieren. Zumal E-Auto-Besitzer sich eine jährliche Treibhausminderungsquote auszahlen lassen können.
Zurück zur Autobahn. Das Radio machen wir gleich wieder aus, denn auf der A1 dominiert der Sound der Straße: Regen, Reifen, Rollgeräusche. So leise der EQV dank seines Elektromotors dahingleitet, besonders gut schallisoliert ist der Van nicht. Auch scheinen Mama und Schwiegermama ein wenig zu frösteln. Ob dafür die Klimaanlage verantwortlich ist, eine undichte Türverkleidung oder vielleicht doch der Stromspar-Fahrmodus, kann auch die leidenschaftlichste Diskussion nicht klären. Also bleiben die Jacken an.
27 kW/h Verbrauch auf 100 Kilometer
Von solchen Sorgen hören wir im Cockpit nur wenig – wie auch, bei der Lautstärke. Umso intensiver widmet sich die Ehefrau dem Armaturenbrett. Edel sieht es aus, wie man es von einem Mercedes erwartet. Aber auch ein bisschen altmodisch: Der Tacho ist zum größten Teil analog, während es für Klima, Radio und Navi echte Knöpfe gibt. Letzteres erweist sich im Laufe der langen Fahrt als großer Vorteil, weil man sich nie lange durch irgendwelche Touchscreens wischen muss. Das Navi plant nicht nur die Route, sondern schlägt auch gleich die passenden Ladestopps vor. Dabei verhält es sich wie ein Fahrer, der zum ersten Mal in einem E-Auto sitzt: extrem vorsichtig. Spätestens alle 150 Kilometer will es uns zur Ladesäule schicken. Wir fahren weiter.
Nach 220 Kilometern zeigt sich: Immer noch ein Viertel Saft im Akku. Trotzdem steuern wir zügig eine Raststätte an, da die Passagiere schon unruhig werden. Jetzt schlägt die Stunde der Großraum-Limousine! Während der EQV lädt, klappen wir die mittleren Sitze um, wodurch zwei kleine Tische entstehen. Schwiegermutter holt ihre selbst gemachten Frikadellen hervor, Trinkbecher, Thermoskannen und Wasserflaschen verschwinden in diversen Staufächern.
Bevor die Reise losging, waren die elterlichen Sorgen groß gewesen: Ständig anhalten und Strom tanken? Ist das nicht unpraktisch? Nun zeigt sich: Nach 40 Minuten sind die randvollen Batteriezellen abfahrbereit – die Passagiere aber nicht! Schwiegermama raucht noch eine, Schwiegerpapa verschwindet zu Sanifair. Als er zurückkommt, zieht er kräftig an der Schiebetür, obwohl sich diese elektrisch öffnet. Die Tür ruckelt, im Cockpit blinkt ein Warnlämpchen. Warum drückt er nicht einfach den Knopf? „Strom sparen“, antwortet er und grinst.
Für den Fahrer ist die Abfahrt nicht ganz so lustig. Fahrmodus, Rekuperation, Totwinkel-Assistent: Alles muss neu aktiviert werden. Als wir aber erst einmal über die Fahrbahn rollen, verfallen alle wieder in ihren – dank Luftfederung gut gebetteten – Trott. Wie sich zeigt, ist bei 120 km/h eine Autobahn-Reichweite von bis zu 300 Kilometern möglich, jedenfalls bei Temperaturen im zweistelligen Bereich. Im tiefsten Winter, wenn die Batterie durchgefroren ist, dürften es weniger sein.
Drei Ladestopps auf 800 Kilometer
Was uns zum Verbrauch führt. Auf die gesamte Strecke gerechnet schluckt der Stromer 27 Kilowattstunden auf 100 Kilometer – besser als der Normwert (28,1 kWh/100 km), aber mitnichten ein Dagobert Duck. Aber was soll man erwarten bei einem Gefährt, das mit Insassen und Gepäck über drei Tonnen wiegt. Der Schwiegerpapa, ein Fast-Zweimetermann, lässt auf den EQV jedenfalls nichts kommen. „Hier habe ich genug Platz“, jauchzt er vom Rücksitz. Tatsächlich sitzen die Passagiere wie auf einem Thron und haben reichlich Beinfreiheit. „Business Class“ würde man dazu im Flugzeug sagen.
Nach insgesamt drei Ladestopps und fast zwölf Stunden Fahrt erreichen wir Rügen. Die Frikadellen sind verspeist, die Thermoskannen geleert, die Gespräche erlahmt. Obwohl alle müde sind, war die Fahrt komfortabel, Fahrwerk und Ledersitzen sei Dank. „Und, wäre die rollende Batterie was für euch?“, stichelt der Papa. Die Ehefrau grinst, der Fahrer winkt ab. Ein tolles Auto, sicher, aber für uns viel zu groß und zu teuer. Wären wir kein (Schwieger-)Eltern-Taxi, sondern ein echtes, sähe die Sache aber anders aus.