Das Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) zur Klage der Klima-Seniorinnen könnte nicht nur Folgen für die Schweiz, sondern für den gesamten Europarat haben. Dr. Roda Verheyen und Prof. Dr. Remo Klinger sprechen über die Erfolgschancen.
Ein historischer Tag sei der 29. März, sagt Anne Mahrer in einem Video auf der Webseite der Klimaseniorinnen Schweiz. An diesem Tag reiste sie, Co-Präsidentin der Klimaseniorinnen Schweiz, zusammen mit ihren Kolleginnen aus dem Vereinsvorstand, Mitgliedern des Vereins, Einzelklägerinnen und Unterstützern nach Straßburg. Ein Tag, der deshalb in die Rechtsgeschichte einging, weil sich der Europäische Gerichtshof in Straßburg erstmals in einem Verfahren mit den Auswirkungen des Klimawandels auf die Menschenrechte befasste. Die Klimaseniorinnen erhoffen sich so, die Schweiz zu mehr Klimaschutz bewegen zu können. Und die Zeit drängt. Frühestens Ende des Jahres erwartet der Verein ein Ergebnis. „Ein Urteil des Gerichtshofs ist daher nicht nur für die Klimaseniorinnen und die Einzelklägerinnen von großer Bedeutung, sondern wird auch Auswirkungen auf andere europäische Staaten haben. Gerichte in Europa und aus aller Welt dürften einen Entscheid der Großen Kammer mit Spannung erwarten“, sagt Rechtsanwältin Cordelia Bähr, die die Klimaseniorinnen vertritt.
Staatliche Pflicht zum Klimaschutz
Am gleichen Tag verhandelte das EGMR über eine Klage von Damien Carême, dem früheren Bürgermeister von Grande-Synth. Die Kleinstadt am Ärmelkanal, deren Bewohner sich vom steigenden Meeresspiegel bedroht fühlen, hatte mit ihrer Klage einen aufsehenerregenden Erfolg errungen. Carême, Mitglied des Europäischen Parlaments, scheiterte allerdings mit seiner eigenen Klage. Und das will er nun in Straßburg prüfen lassen. Zudem hat eine Gruppe junger Menschen aus Portugal 33 Staaten wegen verfehlter Klimapolitik verklagt. Im Sommer ist die Verhandlung zu ihrer Klage angesetzt.
Auch wenn in der EU-Menschenrechtskonvention kein Recht auf eine gesunde Umwelt als solches verankert sei, sei der EGMR nun aufgefordert worden in Umweltangelegenheiten Recht zu sprechen, schreibt der Europäische Gerichtshof in einem Faktenblatt zum Klimawandel. Doch warum ist das so? Bestimmte Rechte der Konvention können durch vorhandene Umweltschäden und Umweltrisiken beschnitten werden. Bislang hat sich der Gerichtshof noch nicht zur Frage staatlicher Maßnahmen gegen den Klimawandel geäußert. Der Fall der Schweizer Klimaseniorinnen bezieht sich auf ihre Beschwerde, der zufolge es Schweizer Behörden versäumt haben im Bereich Klimaschutz zu handeln. Sie sind besorgt um ihre Lebensumstände und Gesundheit in Anbetracht der Folgen der globalen Erderwärmung.
Die Seniorinnen machen vor allem geltend, dass der verklagte Staat, also die Schweiz, seinen positiven Verpflichtungen nicht nachgekommen sei. Dabei geht es um den Artikel 2 der Menschenrechtskonvention, das Recht auf Leben, und um Artikel 8, wonach jede Person ein Recht darauf hat, dass ihr Privat- und Familienleben einschließlich ihrer Wohnung geachtet wird. Ferner rügen die Klimaseniorinnen, dass sie keinen Zugang zu einem Gericht hatten. Bei diesem Punkt berufen sie sich auf den Artikel 6 der Konvention, wonach das Recht auf ein faires Verfahren verbrieft ist. Außerdem sehen die Klägerinnen, dass in ihrem Fall Artikel 13 verletzt wurde. Ihr Argument: Ihnen habe kein wirksamer innerstaatlicher Rechtsbehelf zur Verfügung gestanden, um ihre Beschwerden nach den Artikeln 2 und 8 vorzubringen. 23 Dritte, darunter acht Länder, haben sich im Verfahren vor der Großen Kammer beteiligt.
Dr. Roda Verheyen vertritt im Verfahren die Drittpartei Germanwatch, Greenpeace Deutschland und Scientists for Future. „Wenn ich eine Tendenz abgeben soll, wird der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte inhaltlich entscheiden und nicht nur einfach an die Schweizer Gerichte zurück verweisen“, sagt die promovierte Völker- und Klimaschutzrechtlerin. Normalerweise entscheidet der EGMR darüber, ob ein Staat die Menschenrechte verletzt. Am Ende steht ein Urteil, worauf der Fall an das Ausgangsgericht zurückgewiesen wird. Aber: Die Schweizer Klimaseniorinnen hätten beantragt, dass das Gericht festlegt, was ein angemessener Klimaschutz-Anteil sei, erklärt Verheyen. Damit ist aus ihrer Sicht „ein sehr weitreichender Antrag gestellt worden“. „Ich kann mir nicht vorstellen, dass die Klimaseniorinnen nicht jedenfalls teilweise obsiegen.“ Entscheidend jedoch sei, wie weit das Gericht in seinem Urteil gehe. Wenn das EGMR nur urteilt, dass Artikel 6 der Menschenrechtskonvention, also das rechtliche Gehör, verletzt wurde, müsse das Schweizer Gericht neu entscheiden. Doch wenn der Gerichtshof weitergehe und sagen würde, was aus seiner Sicht eine menschenrechtskonforme Auslegung von Artikel 8 der Konvention sei, dann müssten sich die Gerichte aller Europaratsstaaten daran halten, erklärt die Hamburger Rechtsanwältin. „Grundsätzlich ist die Frage, ob Klimaschutz ein Menschenrecht ist, aus meiner Sicht nicht mehr strittig. Die eigentliche Frage ist: Wie weit kann ein Gericht gehen, um den Staaten konkret Klimaschutz und ihren fairen Anteil daran vorzuschreiben.“
Urteil könnte wegweisend sein
Einer, der in letzter Zeit mehrere Klima-Urteile erstritten hat, ist Prof. Dr. Remo Klinger, Berliner Anwalt für Umwelt- und Planungsrecht. Zuletzt war er der Anwalt von zwei der vier erfolgreichen Klima-Verfassungsbeschwerden, mit denen er vor dem Bundesverfassungsgericht die Generationengerechtigkeit einklagte. „Der Gerichtshof nimmt die Klimaschutzverfahren sehr ernst und beschäftigt sich mit ihnen mit einer besonderen Tiefenschärfe“, sagt Klinger, der frühestens im Herbst mit einer Entscheidung rechnet. Der EGMR befasse sich in der Großen Kammer mit dem Fall, das zeige, man habe die „Dringlichkeit der Angelegenheit erkannt“. Klinger spricht von einem „Präzedenzurteil“, das in allen anderen, ähnlich gelagerten Sachverhalten angewendet werden würde, wenn die Klage der Schweizer Klimaseniorinnen durchkäme.
Zunächst würde sich das Urteil „unmittelbar gegen die Schweiz richten“, sagt der Umweltjurist. Doch wenn nach einem möglicherweise wegweisenden Urteil einer der 46 Mitgliedsstaaten des Europarats in einem ähnlichen Fall verklagt werden würde, sei davon auszugehen, dass das Urteil ebenfalls positiv ausgeht. „Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat keine Vollstreckungskompetenzen, das heißt, er kann nicht wie ein Gerichtsvollzieher losziehen und den Präsidenten eines Staates verhaften, weil er nicht das tut, was der EGMR sagt“, betont Remo Klinger. Andererseits: Wenn sich Europarats-Mitglieder nicht an die Urteile des EGMR halten, sei man „falsch im Bunde, dann könne man auch gleich aus dem Europarat austreten“. Im Oktober hat der Umweltanwalt beim EGMR eine Beschwerde gegen das novellierte Klimaschutzgesetz der Bundesregierung eingereicht. Dabei vertritt er zehn Fridays-for-Future-Aktivisten.
Ein anderer Fall scheiterte vor zwei Jahren vor dem Europäischen Gerichtshof der EU in Luxemburg. Vor dem höchsten Gericht der EU wurde damals der People’s Climate Case verhandelt. Die Betroffenen hatten gegen den ihrer Ansicht nach mangelnden Klimaschutz der Europäischen Union geklagt. Allerdings wurde ihre Klimaklage als unzulässig abgewiesen. „Der EuGH hat sich letztlich mit dem Klimaschutz nicht beschäftigt“, sagt Klinger. Die Hoffnung bleibt, dass das Urteil des EGMR diesmal anders ausfällt.