Einer Gruppe von Schweizer Seniorinnen geht die Klimakrise endgültig zu weit. Sie erhoben Klage vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte. Die Co-Präsidentin der „Klimaseniorinnen Schweiz“, Rosmarie Wydler-Wälti, erklärt warum.
Frau Wydler-Wälti, der 2016 gegründete Verein KlimaSeniorinnen Schweiz wurde Ende März vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg angehört. Wen klagen Sie an und warum?
Wir haben 2016 den Bundesrat, also unsere Schweizer Regierung verklagt, weil sie viel zu wenig unternimmt gegen die immer stärker werdende Klimakatastrophe. Deshalb haben wir den juristischen Weg beschritten. Auf Regierungs- und Parlamentsebene ist in der Vergangenheit zu wenig passiert. Von vielen wurde uns gesagt, das sei kein Thema für das Gericht, sondern müsse politisch angegangen werden. Wir aber sagen, es ist so dringend, dass wir alle Möglichkeiten ausschöpfen müssen, auch die juristischen.
Aber das Entscheidende ist im Fall der KlimaSeniorinnen Schweiz, dass sie ihre Grundrechte verletzt sehen.
Genau, das steht ja in unserer Klage, weil auch wissenschaftlich belegt ist, dass wir ältere Frauen am stärksten betroffen sind von den Hitzewellen. Im Jahr 2003 erlebten wir die erste Hitzewelle. Europaweit sind in jenem Jahr über 70.000 Menschen zusätzlich gestorben – das waren vornehmlich ältere Menschen. Und zwar hat man wissenschaftlich erhoben, dass 2003 unter den Hitzetoten zum großen Teil ältere Frauen waren. In der Schweiz hat nur derjenige Aussicht auf Erfolg bei einer Klage, der besonders betroffen ist. Außerdem sind in besonderer Weise kleinere Kinder betroffen, doch die können nicht selbst klagen. In unserer Organisation sind auch vier Einzelklägerinnen, denen von ihren Ärztinnen in einem Attest bescheinigt wurde, dass sie wegen der Hitzewellen krank geworden sind.
Das ist interessant. Woran sind die Einzelklägerinnen erkrankt?
Eine Frau, die inzwischen gestorben ist, litt unter Herz- und Kreislaufproblemen sowie Lungeninsuffizienz. Die drei übrigen Klägerinnen leiden unter Erkrankungen der Lunge und des Herzens.
Warum sind eigentlich in Ihrer Organisation keine älteren Männer vertreten?
Es ist wissenschaftlich erwiesen, dass wir Frauen weniger schwitzen können als Männer. Der Schweiß hat ja die Funktion, unseren Organismus etwa bei Hitze abzukühlen. Männer entwickeln entsprechend weniger Symptome, was beispielsweise Herzkrankheiten betrifft. Auch sind Frauen stärker von Atemwegsproblemen betroffen.
Was können das konkret für Probleme sein?
Zum Beispiel ist Kurzatmigkeit eines der Probleme. Ich habe das selbst ein-, zweimal erlebt. Als ich im Haus die Treppe hinaufgegangen bin, war meine Atmung so eingeschränkt, dass ich mich darauf kurz hinlegen musste. Das behindert einen natürlich im Alltag.
Wie sollte der Schweizer Bundesrat die vulnerablen Gruppen so schützen, dass ältere Menschen, chronisch Kranke, Kleinkinder und Schwangere nicht krank werden und leiden?
Da gibt es zwei Wege. Erst einmal müssen die politisch Verantwortlichen entschieden handeln. Wir haben 2003, 2015, 2018, 2020 und vor allem vergangenes Jahr extreme Hitze und Trockenheit einhergehend mit einer Übersterblichkeit erlebt. Die Übersterblichkeit ist zuletzt etwas zurückgegangen, weil Alters- und Pflegeheime entsprechende Konzepte für Hitzetage ausgearbeitet haben. Zum Beispiel sollten demnach HeimbewohnerInnen mehr trinken, sich in kühlen, abgedunkelten Räumen aufhalten und viel Bewegung möglichst vermeiden. Auch wer in den eigenen vier Wänden lebt, sollte bei großer Hitze nicht zu viel arbeiten. Das war auch ein Argument einer Einzelklägerin, die sagte, wenn sie wegen der Hitze tagsüber zu Hause bleiben müsse, könne sie ihre Enkelkinder nicht mehr sehen und sich nicht mehr mit ihren Freundinnen treffen. Dafür ist unsere Klage da: Wir wollen den Staat dazu zwingen die Gesetze zu ändern.
Was genau sollte die Schweizer Regierung tun?
Natürlich geht es um Maßnahmen für einen besseren Klimaschutz. Selbst wenn wir gewinnen sollten, geben wir keine konkreten Maßnahmen vor. Die Politikerinnen und Politiker haben sicher in der Schublade bereit, welche Gesetze sie wie ändern müssten, um das Ziel des Pariser Abkommens schrittweise zu erreichen. In der Schweiz sollten die CO2-Emissionen mit inländischen Maßnahmen um mehr als 60 Prozent verringert werden, anstatt der bisher vorgesehenen 34 Prozent. Und bis 2050 müsste man – wie auch die EU anstrebt – netto null erreichen. Dafür müssten jedoch fossile Brennstoffe abgeschafft und in der Erde belassen werden. Im Gegenzug müsste man den Ausbau der Erneuerbaren enorm vorantreiben und die energetische Sanierung von Gebäuden sowie die erneuerbaren Heizungen staatlich subventionieren. Es gibt so viele notwendige Möglichkeiten, die längst bekannt sind. Am Ende ist dies ein Maßnahmenbündel, das gleichzeitig umgesetzt werden muss.
Der Europäische Gerichtshof hat sich am 29. März erstmals mit den Folgen des Klimas im Zusammenhang mit Menschenrechten befasst. Ein positives Urteil wäre auch für die Mitgliedstaaten des Europarats rechtlich bindend. Wie hoch sind die Chancen, dass die Richter positiv urteilen?
Das wissen wir natürlich nicht genau. Ich weiß nicht, ob sie Deutschlands prominenteste Umwelt-Anwältin, Roda Verheyen, kennen. Zusammen mit der Journalistin Alexandra Endres hat sie das Buch „Wir alle haben ein Recht auf Zukunft“ verfasst. Alexandra Endres hat mit mir ein Interview geführt und im Nachhinein unsere Klimaklage im Buch oft zitiert. Roda war auch bei der Verhandlung am 29. März in Straßburg dabei. Als ich sie danach fragte, wie denn unsere Chancen stehen, sagte sie, dass sie zuversichtlich sei. Die Wahrscheinlichkeit, dass wir gewinnen, liegt zwischen 30 und 50 Prozent. Unklar ist, auf welche der verschiedenen Anträge das Gericht eingeht. Selbst wenn wir nur 30 Prozent erreichen, wäre dies ein Riesenerfolg für uns.
Neben Ihrer Klimaklage gab es noch zwei weitere Klagen.
Am Nachmittag unseres Verhandlungstages wurde die Klage eines Bürgermeisters aus Frankreich behandelt. Aus Portugal haben sechs junge Menschen alle 32 Europaratsstaaten verklagt. Am 27. September steht die Verhandlung ihrer Klage an. Die Richterinnen und Richter des EGMR haben verlauten lassen, dass sie alle drei Fälle zusammen beurteilen und ein Gesamturteil herausgeben wollen. Wir hoffen, dass das Gericht im Sinne der Klimagerechtigkeit den Klimaschutz als ein Menschenrecht anerkennt. In erster Linie wäre das Urteil für die Schweiz verbindlich, jedoch auf die anderen EU-Länder würde dies ebenfalls einen großen Druck ausüben.
Pakistan, Afghanistan, Honduras, Somalia und die Länder der Sahelzone sind besonders stark vom Klimawandel betroffen. Braucht es mehr zivilgesellschaftliches Engagement, um Klimamaßnahmen durchzusetzen?
Ja, ich hoffe dass unsere Klage im positiven Sinne ansteckend ist, weil über unseren Fall weltweit in den Medien berichtet wurde. Wichtig sind nach wie vor auch die Fridays-for-Future-Streiks der jungen Menschen. Es gibt in allen Ländern auf der Welt Klimabewegungen, auch wenn sie zum Teil klein sind. Die Londoner Soziologie-Professorin Anne Karpf hat über die weltweiten, vor allem von jüngeren Frauen initiierten Klimabewegungen ein Buch geschrieben. Wir hoffen, dass wir diese Bewegungen wie einen Schneeballeffekt ins Rollen bringen und somit verstärken können. Die Zeit drängt mehr denn je, zumal sich immer häufiger Wetterextreme ereignen. Ich denke auch, dass unsere Asylpolitik neue Kategorien für Flüchtlinge und Rechtsmittel braucht. Zum Beispiel wird in der Schweiz ein Klimaflüchtling als ein sogenannter Wirtschaftsflüchtling gesehen, also einer, der nicht politisch verfolgt ist und somit keine Chance hat auf Asyl. In den kommenden Jahrzehnten werden Millionen Klimaflüchtlinge versuchen, nach Europa zu kommen.
Wir alle müssen versuchen, auf allen uns möglichen Ebenen für ein besseres Klima zu kämpfen, auf politischer und juristischer Ebene, sowie mit Bürgerinitiativen und Demonstrationen.