Russland, der 9. Mai und der Ukraine-Krieg: Putin dreht die Geschichte zurück
Der 8. Mai 1945 ist und bleibt für Deutschland der Tag der Befreiung von den Schrecken des Nationalsozialismus. Diese Befreiung ist nicht nur Amerikanern, Franzosen oder Briten zu verdanken. Sie wurde erst möglich durch den Widerstand der Roten Armee und die unermessliche Leidensbereitschaft der Sowjetbevölkerung im „Großen Vaterländischen Krieg“. Mehr als 27 Millionen Menschen – darunter rund acht Millionen Ukrainer – verloren im Zuge von Adolf Hitlers Eroberungsfeldzug ihr Leben.
Seit vielen Jahren würdigt jeder deutsche Außenminister diesen gewaltigen Blutzoll durch einen Besuch am Grabmal des Unbekannten Soldaten an der Westmauer des Kreml. Zuletzt legte Außenministerin Annalena Baerbock (Grüne) im Januar 2022 einen Kranz an der roten Granitplatte mit dem Ewigen Feuer nieder – wenige Wochen vor Beginn der Ukraine-Invasion. Sie sprach von „Scham“ und „Ehrfurcht“, die sie in diesem Moment angesichts der Last der Vergangenheit empfunden habe.
Als am Dienstag in Russland der „Tag des Sieges“ gefeiert wurde, ging es nicht um eine historische Rückschau, gepaart mit dem moralischen Imperativ „Nie wieder Krieg!“. In Moskau zelebrierte Präsident Wladimir Putin eine martialische Militär- und Waffenschau. Mehr als 10.000 Soldaten – auch von der Front in der Ukraine – marschierten auf. Ganze Kolonnen an Panzern und Raketen wurden in einer gigantischen Patriotismus-Show aufgefahren. Es sollte bedrohlich, einschüchternd, angsteinflößend wirken.
Zu verurteilen ist, dass Putin die Vergangenheit in die Gegenwart projiziert. Der Ukraine-Krieg hat für ihn die gleiche Feind-Konstellation wie der Zweite Weltkrieg. Nach dieser Lesart kämpfte die Sowjetunion in den 40er- Jahren gegen Hitlers Nazi-Truppen. Heute stehen russische Soldaten den „Nazis“ in der Ukraine gegenüber. Präsident Wolodymyr Selenskyj ist demnach nicht der frei gewählte Staatschef der Ukraine, sondern die vom Westen installierte Galionsfigur eines für Russland bedrohlichen „Nazi“-Regimes. Eine bizarre Interpretation angesichts der Tatsache, dass Selenskyj Jude ist.
Putin betreibt lupenreine Geschichtsklitterung. Er vergleicht den brutalen russischen Angriffskrieg in der Ukraine mit dem heldenhaften Abwehrkampf der Roten Armee gegen Hitlers Schergen. Der Kremlchef stilisiert Russland zum Opfer einer westlichen Verschwörung. Die Wahrheit ist aber: Die Befreier von 1945 sind die Aggressoren von heute. Einher geht dies mit einer zunehmenden Repression nach innen. Die russische Opposition ist tot, im Knast oder im Exil.
Dass Putin versucht, die Ukraine mit dem „Nazi“-Verbalknüppel zu diskreditieren, hat ideologische Gründe. Der 70-Jährige sieht sich auf einer imperialen Mission. Er verbrämt dies als historischen Auftrag, russische Erde zurückzuholen, die seinem Land angeblich zustehe. Putin vergleicht den Ukraine-Krieg mit dem Nordischen Krieg von Zar Peter dem Großen gegen Schweden. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion – laut dem Kremlchef „die größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts“ – träumt er von einer Renaissance der Weltmacht Russland.
Mit dieser Vision eines großen, starken und mächtigen Russlands, das in der Welt respektiert und gefürchtet wird, will sich Putin innenpolitische Gefolgschaft verschaffen. Denn die „militärische Spezialoperation“, wie der Ukraine-Krieg in Moskau verharmlosend genannt wird, läuft schlecht für den Präsidenten. Je trüber die Bilanz auf dem Schlachtfeld, desto lauter die Propaganda-Trommeln.
Deshalb wird die ernüchternde Realität aufgehübscht durch den Vergleich mit dem glanzvollen Sieg gegen Nazi-Deutschland. Aber es ist eine rückwärtsgewandte Vision. Dahinter steckt kein Konzept für die Modernisierung des Landes, die den Menschen langfristig Perspektiven und Wohlstand bringt. Russland begibt sich vielmehr in Abhängigkeit zur aufstrebenden Supermacht China.
Der Blick zurück hat einen erschreckend hohen Preis: Zehntausende russische Soldaten sterben im Fronteinsatz in der Ukraine einen sinnlosen Tod. Erstmals seit 1939 werden Grenzen in Europa gewaltsam verschoben. Putins Krieg ist eine moralische Bankrotterklärung: Zwischen dem heutigen Einmarsch in der Ukraine und der Befreiung von der Nazi-Herrschaft durch die Rote Armee vor 78 Jahren liegen Welten.