Das Ehrenamt verändert sich gesetzlich, aber auch durch eine neue Generation von engagierten Menschen. Unternehmen übernehmen heute notwendige Arbeiten ehrenamtlich – und das nicht nur aus Image-Gründen.
Wer sich nicht für die Gemeinschaft engagierte, wurde zu Zeiten der griechischen Stadtstaaten als „idiotes“ bezeichnet. Der Begriff veränderte sich inhaltlich mit der Zeit hin zum „Idioten“ im heutigen Sinne. Wer sich heute für das Gemeinwohl engagiert, spürt ebenfalls Veränderungen – diesmal in den Bedingungen des Ehrenamtes. Kürzeres und vielfach anlassbezogenes Engagement, geringere Bereitschaft zu langfristigen Leitungsfunktionen in Vereinen, bürokratische Hürden und der Trend, sich auch ehrenamtliche Leistungen finanziell irgendwie honorieren zu lassen – all dies prägt heute zunehmend das Bild vom Ehrenamt und der Vereinsarbeit.
Das Saarland gilt als deutsche Hochburg der Vereine. Laut Ziviz-Trendbericht kommen elf Vereine auf 1.000 Einwohner – Rekord in Deutschland. Zwar engagieren sich mehr als ein Drittel aller Saarländer (39 Prozent) ehrenamtlich. Deren Zahl aber geht zurück. 2014 waren es noch sieben Prozentpunkte mehr, wie der Freiwilligensurvey 2019 feststellte. Insgesamt gibt es mehr als 10.400 Vereine im Bundesland (Deutschland: 615.759 Vereine 2022), Tendenz steigend. Um diese zu stärken, fördert das Land seit einigen Jahren die Ehrenamtsbörsen in jedem Landkreis. Sie sollen Vereine stärker vernetzen und informieren. Es gibt kostenfreie Veranstaltungen über Vereinsrecht, Versicherungen, oder darüber, wie man Spendengelder sammelt. Doch auch im Saarland sind die Veränderungen spürbar.
Saarland ist Hochburg der Vereine
Dirk Sold ist seit sechs Jahren Leiter der Ehrenamtsbörse im Regionalverband Saarbrücken. Der 53-Jährige ist selbst seit Jahrzehnten ehrenamtlich tätig. Derzeit leitet er eine Handballsportgruppe in der örtlichen Justizvollzugsanstalt und gibt selbst einige der Ehrenamts-Crashkurse. „Ich bin ein Vereinsmeier“, sagt er scherzhaft. Seit Corona hat sich jedoch einiges geändert.
„Damals hat die Bundesregierung die Vereine schnell wieder handlungsfähig gemacht“, sagt Sold. „Allerdings gibt es nun Hygienepflichten bei Veranstaltungen; Dokumentationspflichten der Arbeitszeiten für den Verein, wenn er einen Angestellten hat; es gibt nun Rechtssicherheit über Online- oder hybride Mitgliederversammlungen; 2024 kommt das Empfänger- und Zuwendungsregister, das erstmals transparent macht, wer spendenberechtigt ist. In der Folge kann der Zuwendungsbescheid für Vereine digitalisiert werden.“ Reichlich Bürokratie, die auch zur Belastung werden kann. Da kämen Initiativen wie derzeit aus Bayern gerade recht: Das Land übernimmt in einem Rahmenvertrag mit der Musikverwertungsgesellschaft Gema die Gebühren für zwei Vereinsfeste pro Verein pro Jahr. Das entlastet die bayerischen Vereine nicht nur finanziell, sondern dämmt auch den Papierkrieg ein. „Die Bundesregierung arbeitet derzeit an einer Engagement-Strategie fürs Ehrenamt; das brauchen wir auch auf Landes- und Kommunalebene“, wünscht sich Sold.
Auch die Zeit, die Menschen in ihre ehrenamtliche Tätigkeit investieren, verändert sich. Das zeigt ebenfalls der Freiwilligensurvey 2019: Vor allem die über 65-Jährigen investieren mehr Zeit ins Ehrenamt, Jüngere und damit eine große Anzahl von Berufstätigen engagieren sich weniger bzw. punktueller – der Trend gehe hin zum stundenweisen Engagement, „zwei bis drei Stunden pro Woche, so wie ich das tue“, sagt Dirk Sold. Saarländer seien besonders engagiert, viele investieren pro Woche sechs Stunden oder mehr. „Grundsätzlich aber entwickelt sich ehrenamtliche Arbeit hin zu kurzzeitigerem, punktuellem Engagement.“ Anlässe waren beispielsweise die Vielzahl von Geflüchteten während des Syrien- und jetzt infolge des Ukraine-Krieges, die Corona-Pandemie oder die Ahrtal-Katastrophe. „Etwas zu tun hilft gegen das Gefühl der Ohnmacht – eine gute Resilienzstrategie, wenn alles unsicher wird“, bringt Sold es auf den Punkt.
Jüngere Menschen, die sich für eine Sache oder eine Gruppe engagieren wollen, halten sich aus seiner Sicht gern ihre Optionen offen und binden sich seltener an Vereine. „Wir haben mit Fridays for Future gesprochen“, erklärt Sold, „die wollten aber keinen Verein gründen.“ Traditionelle, rein auf Vorstände und Funktionärsposten ausgerichtete Vereine mit starren Strukturen können auf den jüngeren Nachwuchs abschreckend wirken, „weil sie dann nicht immer demokratisch mitreden können“.
Doch nicht nur Vereine arbeiten für das Gemeinwohl. Immer stärker engagieren sich auch Unternehmen, und dies nicht nur finanziell. Häufig packen sie während der Arbeitszeit mit an. „Corporate Volunteering“, Unternehmens-Freiwilligenarbeit, lautet das Motto. Ein Beispiel: Mercedes Benz Mobility, die Finanz- und Mobilitätstochter des Automobilkonzerns. „2022 haben wir dem Stadtbauernhof in Saarbrücken geholfen, einen Zaun zu bauen, Beete anzulegen und ihren Teich zu pflegen“, erklärt Lena Lassak von Mercedes Benz Mobility. Vor der coronabedingten Pause legten 50 Mitarbeiter des Mercedes-Benz Bank Service Center in Saarbrücken einen Abenteuerspielplatz an oder unterstützten die Lebenshilfe. Der Freiwilligen-Tag ist so beliebt, dass es immer mehr Interessenten als Plätze gibt, so Lena Lassak.
Imagepflege und Teamentwicklung
Neben der Imagepflege hat der Tag weitere Aspekte für das Unternehmen. „Es geht darum, unseren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern neue Perspektiven aufzuzeigen, beziehungsweise sie zu wechseln. Sie schaffen an diesem Tag etwas mit ihren Händen, wo sie sonst nur mit dem Kopf arbeiten. Wir holen die Mitarbeitenden aus einer Blase heraus und ermöglichen Begegnungen mit Menschen aus anderen Lebenswelten.“ Fast nebenbei erleben die Menschen des Unternehmens so eine Teambuilding-Maßnahme, an einem Tag, „an dem das Unternehmen seinem Standort etwas zurückgeben kann“, so Lena Lassak. „Corporate Volunteering ist Teil unserer Kultur.“ Das Motto „Tue Gutes und sprich darüber“ gilt natürlich auch hier, zum Beispiel in Pressemitteilungen oder auf Social-Media-Kanälen. Pressevertreter werden jedoch zu den Freiwilligentagen von Mercedes Benz Mobility nicht eingeladen.
Das Engagement zahlt jedoch nicht nur auf die Teams, das Image, die Unternehmenskultur ein. Unternehmen müssen immer öfter auch sozialen und ökologischen Ansprüchen genügen, um Investoren anzulocken: ESG-Kriterien (Umwelt-, Sozial- und Verwaltungs- oder Management-Kriterien) spielen an der Börse eine immer wichtigere Rolle.
Damit diese Art des gemeinwohlorientierten Handelns in Unternehmen auch in künftigen Generationen von Angestellten und Managern verankert bleibt, gibt es seit 2012 das Wahlpflichtfach „Service Learning“ an der Hochschule für Technik und Wirtschaft des Saarlandes (HTW), geleitet von Prof. Steffen Hütter und dem Diplom-Soziologen Gerd Weisgerber. „Es geht darum, das Fachwissen unserer Studierenden mit den Bedürfnissen von sozialen Organisationen in Einklang zu bringen“, so Hütter. Bis zu 20 Studierende pro Semester lernen daher, die Lagerlogistik der Tafeln zu optimieren, den Essensabfall von Kitas zu minimieren oder Nachhilfe für Kinder und Jugendliche mit unterschiedlichsten sozialen Hintergründen zu geben. Dabei arbeitet die HTW in jedem Semester mit anderen sozialen Institutionen zusammen: Tafeln, Caritas, Diakonischem Werk oder Aidshilfe. Einige der Studierenden machen mit der Arbeit auch nach Ende des Semesters weiter. „Sie merken, ob sie ihre Fähigkeiten schon anwenden können, bringen dadurch eine Institution in ihrer Entwicklung voran. Und sie lernen, mit anderen Menschen zu arbeiten, und dabei völlig andere Lebenswelten kennen“, fasst Hütter die Ziele zusammen.
Wieviel diese Arbeit im Ehrenamt letztlich wert ist, trotz aller Veränderungen, hat eine Forsa-Studie im Auftrag von Westlotto im vergangenen Jahr berechnet: mehr als 19 Milliarden Euro laut Ehrenamtsatlas Nordrhein-Westfalen 2022 allein in diesem Bundesland. Vorsichtig umgerechnet auf das Saarland bei einer geringeren Bevölkerungsgröße und einer etwas höheren Ehrenamtsquote wäre dies immer noch Arbeit im Wert von etwa einer Milliarde Euro.