Das Gefühl vieler Allergiker wird von der Wissenschaft bestätigt. Frühjahr und Sommeranfang wird für die Betroffenen immer mehr zur Belastung. Feinstaub und Neuanpflanzung allergener Baumarten in Städten erschweren die Situation.
So einen warmen Jahreswechsel wie 2022/23 hätte es seit der amtlichen Aufzeichnung der Wetterdaten vor gut 140 Jahren noch nie gegeben, sagt Prof. Dr. med. Karl-Christian Bergmann, Allergologe an der Berliner Charité und Leiter der Stiftung Deutscher Polleninformationsdienst. „Der Blütenflug war bereits Ende Januar in vollem Gange. Die Haselnuss- und Birkenpollen waren beispielsweise schon früh unterwegs. Auch die Gräserpollen regten sich vor dem eigentlichen Frühlingsbeginn.“ Eine Tendenz, die in den vergangenen zehn Jahren immer weiter zugenommen hat. „Was vermutlich auf eine Überlebensstrategie der Botanik zurückzuführen ist“, sagt Prof. Bergmann. „Geraten Pflanzen in dieser klimatischen Stressphase unter Druck, senden sie mehr pflanzliche Spermien aus, um ihre Art zu erhalten. Das heißt, die Pollenbelastung nimmt damit zu.“
Dabei wird der klimatische Stress gerade in den Ballungsräumen nicht nur durch den weltweiten Klimawandel verursacht. Gerade in den Städten spielt ein weiterer Faktor eine wichtige Rolle: Feinstaub. Verursacht durch unsere Lebensweise wie etwa Autofahren oder Heizen. „Da gibt es tatsächlich einen direkten Zusammenhang“, weiß der Allergologe. „Je höher die Feinstaubbelastung in den Innenstädten ausfällt, desto mehr leiden die Menschen unter dem sogenannten Heuschnupfen. Das liegt daran, dass der Feinstaub die Aggressivität der Pollen auf die Schleimhäute der Betroffenen verstärkt. Wir können das als Wissenschaftler tatsächlich mit unseren Messwerten und dem daraus resultierenden, vermehrten Absatz von entsprechenden Gegenmitteln in den Apotheken belegen.“
Laut dem Umweltbundesamt sei zwar die Feinstaubelastung in den letzten Jahren gesunken, doch die internationalen Standards zur Feststellung der gefährdenden Belastung von Feinstaub seien völlig überholt, bedauert UBA-Luftexpertin Ute Dauert. „Hier wird es in den kommenden Jahren eine Novellierung der Daten geben müssen, denn längst ist klar, Feinstaub ist selbst in geringen Konzentrationen viel gefährlicher als bislang angenommen. Das trifft die Umwelt, aber vor allem die Menschen. Denn die geltenden Grenzwerte für Feinstaub und Stickstoffdioxid sind vor mehr als 20 Jahren nach dem damaligen Wissenschaftsstand festgelegt worden. Das entspricht nicht den heutigen wissenschaftlichen Erkenntnissen über die gesundheitlichen Auswirkungen von Luftverschmutzung. Ein im Oktober 2022 veröffentlichter Kommissionsvorschlag für eine neue Luftqualitätsrichtlinie sieht deutlich abgesenkte Grenzwerte vor“, sagt Dauert gegenüber FORUM. Die Expertin gibt sich keinen großen Illusionen hin. Bis die Feinstaubgrenzwerte neu definiert werden, würde es wohl noch einige Monate, wenn nicht Jahr dauern. „So schnell mahlen die EU-Bürokratiemühlen nicht.“
Geltende Grenzwerte für Feinstaub und Stickstoffdioxid entsprechen nicht mehr dem aktuellen Stand
Neben der verheerenden Wechselwirkung von Feinstaub und Pollen, ist es vor allem die zunehmende Erderwärmung, die Wissenschaftler und Praktiker aller Bereiche umtreibt. Längst ist klar, dass allergische Reaktionen der Menschen einen vielschichtigen Hintergrund haben und in vielen Fällen dazu beitragen. So würde ein Großteil der Allergiker von Geburt an unter einer übermäßigen Reizung der Schleimhäute leiden. Das ist genetisch bedingt. Doch viele Betroffene entwickeln erst im Laufe ihres Lebens Allergien, was auch durch Umweltgifte in der direkten Umgebung hervorgerufen werden könne, warnt die ökologische Immobilienentwicklerin Angela Balatoni. Dabei geht es unter anderem auch um die Verwendung von Baustoffen, wie zum Beispiel Wandfarben oder Bodenbelägen.
Vordringlich gehe es in den kommenden Jahren um klimaneutrales Bauen, sagt der Diplom-Landwirtschaftsökologe Matthias Werchan, damit sich gerade die Innenstädte nicht zu sehr erhitzen und somit auch die Pollenbelastung immer weiter antreiben. „Da ist vor allem die Politik gefordert, jetzt schnell auf diese Entwicklung zu reagieren, aber ich warne vor allzu großen Erwartungen. Die Botanik ist ein gigantischer Kleinkosmos, der Jahre braucht, um bestimmte klimatische Entwicklungen in seinem Wachstum umzusetzen.“ Dem diplomierten Land- schaftsökologen macht Sorgen, dass trotz jahrelanger Warnungen die Versiegelung der Flächen unaufhaltsam fortschreitet. Damit steigt die Gefahr für Allergiker, dass sich gerade in den überhitzten Ballungsräumen immer neue Pflanzen ausbreiten, die in unserem Lebensraum in Nord-Europa bislang völlig unbekannt waren, und besonders empfindliche Menschen darauf nicht vorbereitet sind. „Wir haben in den letzten Jahren hier immer wieder Oliven-Pollen festgestellt, die tatsächlich aus dem Mittelmeerraum zu uns getragen werden. Aber auch Ambrosia-Pollen, die wiederum aus Ungarn oder der Ukraine stammen und ebenfalls Tausende von Kilometern fliegen, um in den norddeutschen Raum zu gelangen.“
Entwarnung im vergangenen Winter kam übrigens von Mutter Natur selbst. Laut dem Deutschen Wetterdienst dürfte der letzte Winter einer der regenreichsten der vergangenen zehn Jahre gewesen sein. Die gut durchfeuchteten Böden sorgen nun für eine wahre Blütenpracht. Für Landschaftsökologen Matthias Werchan ist es nicht sinnvoll, nur durch den Abbau des Verbrauchs von fossilen Energien gegen den Klimawandel und damit im Sinne der Pollenbelasteten zu arbeiten. Vielmehr sei auch die Stadt- und Landschaftsplanung gefragt. „Gerade in den Städten wird dieser Trend zur frühen Pollenbelastung durch die Neuanpflanzung allergener Baumarten verstärkt. Darunter fällt unter anderem die fremdländische und stadtklimarobuste Purpurerle, die ihre Pollen gern schon um die Weihnachtszeit fliegen lässt, also Wochen vor den heimischen Erlen.“ Werchan verweist an dieser Stelle auf den Umstand, dass Allergologen dieser Entwicklung nur schwer hinterherkommen, da sie einen Teil der Pollenarten zwar kennen, aber noch keine probaten Gegenmittel verschreiben können, da es diese nicht in ausreichender Menge gibt.
Das Problem von Pollenallergien ist in ganz Europa mittlerweile nicht mehr zu unterschätzen, denn die Folgen sind gravierend. Allein der wirtschaftliche Schaden innerhalb der Europäischen Union wird durch die gesundheitlichen Beeinträchtigungen von Arbeitnehmern auf etwa 100 Milliarden Euro pro Jahr beziffert. Doch es geht nicht nur um die Blütenpollen, sondern auch um Allergien durch die chemisch-technische Industrie. So müssen in Deutschland jedes Jahr rund 30.000 Jugendliche ihre Ausbildung abbrechen, da sie bestimmte Zusatzstoffe an ihrem Arbeitsplatz nicht vertragen. Das trifft vor allem dort das Handwerk, wo mit bestimmten Zusatzstoffen direkt umgegangen werden muss. Dazu zählen unter anderem das Friseur- und Bäckereihandwerk sowie die Bauberufe. Somit bleiben Allergien für Wissenschaft, Ärzte, Land- und Stadtplaner, aber vor allem für die Betroffenen eine vielschichtige Aufgabe.