Der Fachkräftemangel ist in aller Munde und kann auch der Volkswirtschaft schwere Schäden zufügen. Doch was ist eine Fachkraft eigentlich – und was kann man gegen den Mangel tun? Landesgeschäftsführer Jürgen Nieser vom Awo-Landesverband Saar hat Tipps und Anregungen.
Fachkräfte sichern Innovation und Wettbewerbsfähigkeit, Wachstum und Beschäftigung, Wohlstand und Lebensqualität“ – so schreibt es das Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz auf seiner Internetseite. Angesichts der demografischen Entwicklung sei daher die Sicherung des Fachkräftebedarfs eine der großen Herausforderungen der kommenden Jahrzehnte für alle Akteure aus Politik, Wirtschaft und Wissenschaft. Zwar sei in Deutschland derzeit ein flächendeckender Fachkräftemangel noch nicht in Sicht. Doch schon heute zeige sich, dass in bestimmten Regionen und Branchen offene Stellen nicht mit geeigneten Fachkräften besetzt werden könnten. Das Onlineportal statista.de berichtet zudem, dass das Statistische Bundesamt eine Zunahme von Pflegebedürftigkeit prognostiziert. Nach Ansicht der Experten könnte deutschlandweit bis zum Jahr 2060 die Zahl der Pflegebedürftigen auf rund 4,53 Millionen ansteigen und damit den Bedarf an Kräften weiter in die Höhe treiben.
Der saarländische Landesverband der Awo teilt diese Prognose und damit einhergehende Herausforderungen im Pflegebereich, wie Landesgeschäftsführer Jürgen Nieser auf FORUM-Anfrage mitteilt. Er schildert aus dem Alltag: „Es ist bereits heute ungleich schwerer im Vergleich zu früheren Zeiten geworden, offene Stellen in der Pflege zeitnah und adäquat zu besetzen. Es fehlt bei immer steigenden Zahlen an pflegebedürftigen Menschen schlichtweg an ausreichend jungen Menschen, die den Pflegeberuf erlernen möchten.“ Im Saarland komme dabei die Nähe zu Luxemburg erschwerend hinzu, da viele ausgebildete Fachkräfte dorthin abwandern würden. Ein ebenfalls wichtiger Punkt sei die jetzt beginnende Abwanderung der Baby-Boomer aus dem Arbeitsmarkt in die Rente. „Der Anzahl ausscheidender Baby-Boomer rückt keine adäquat hohe Anzahl an neuen Arbeitskräften nach“, so Jürgen Nieser. Er sagt, dass der Pflegeberuf ein Beruf mit hohen Idealen sei. Da sei es nachvollziehbar, dass junge Menschen, die sich für diesen Bereich entschieden hätten, diesen Idealen in ihrem täglichen Tun auch nachkommen möchten. Hier wirft er ein: „Die Rahmenbedingungen lassen dies jedoch häufig nicht zu. Und das sorgt für Unmut und Verlust der Motivation.“ Zeitdruck und zu wenig Zeit für Bewohnerinnen seien Faktoren, die immer wieder von Pflegekräften als belastend genannt würden. „Schichtdienst und die körperliche Anstrengung im Beruf werden im Vergleich dazu weitaus weniger genannt, da diese Faktoren bereits bei Ausbildungsbeginn bekannt sind und sich Auszubildende darauf einstellen können.“
Ein weiterer Hemmschuh der jüngsten Zeit sei die Generalistik geworden. Mit dem Gesetz über die Pflegeberufe, oder kurz Pflegeberufegesetz, wurden die drei bisherigen Ausbildungen in der Altenpflege, der Gesundheits- und Krankenpflege sowie der Gesundheits- und Kinderkrankenpflege zu einem einheitlichen Ausbildungsberuf zusammengeführt. Es ersetzt im Wesentlichen seit 2020 die beiden bisherigen Gesetze. Durch die generalistische Ausbildung würden viele Auszubildende häufiger den Weg in die Kranken- als in die Altenpflege wählen. „Diese Menschen fehlen dann natürlich auch in der Altenpflege“, sagt er.
Die Awo Saarland sehe es aber als ihre gesellschaftliche Aufgabe an und trage so eine hohe Verantwortung darin, Menschen für den Pflegeberuf zu gewinnen und diese entsprechend auszubilden und zu begleiten. Die Altenpflegeschule der Awo Saarland zum Beispiel bilde seit vielen Jahrzehnten erfolgreich Menschen für den Pflegeberuf aus. Weiterhin zeige die Awo viel Präsenz im öffentlichen Raum, unter anderem durch Kampagnen wie „Gute Pflege“, der Beteiligung an Ausbildungsmessen und durch positive Berichterstattung. Gleichzeitig kritisiert Jürgen Nieser einen anderen Teil der Medienpräsenz: „Leider werden durch Medien die Pflege und der Pflegeberuf nicht selten negativ und unattraktiv dargestellt. Grundsätzlich ist die positive Darstellung des Alters und Alterns eine bisher nicht gelungene Aufgabe der Medien und Öffentlichkeit. Die Corona-Jahre haben mehr als deutlich zutage gefördert, dass der Pflegeberuf bisher keine ausreichende Würdigung und Anerkennung in unserer Gesellschaft erfährt.“ Der Altenpflegeberuf müsse weg von dem schlechten gesellschaftlichen Image. Dies zu ändern sei sicherlich auch die Aufgabe der Politik.
Die Politik wiederum scheint die Zeichen der Zeit erkannt zu haben. Denn wie das Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz mitteilt, sei das erfreulich hohe Wirtschaftswachstum in den vergangenen Jahren vor allem durch die Binnenwanderung in der Europäischen Union gestützt worden. Diese aktuell projizierte Einwanderung wird aber nicht ausreichen, um den Rückgang des Erwerbspersonenpotenzials aufgrund des demografischen Wandels zu kompensieren. Zahlreiche Studien hätten dargelegt, dass schon heute die Wirtschaftsleistung ohne Fachkräftemangel noch höher wäre. Es sei also entscheidend, aktiv gegenzusteuern, um mit einer starken Fachkräftebasis auch die zukünftigen Anforderungen stemmen zu können.
Bis 2060 kann die Zahl von Pflegebedürftigen auf rund 4,53 Millionen ansteigen
aher fördere das Bundesministerium das Kompetenzzentrum Fachkräftesicherung, das kleine und mittlere Unternehmen dabei unterstützt, Fachkräfte zu finden, zu binden und zu qualifizieren. Die Bundesregierung habe im November 2018 ihre Strategie zur Sicherung von Fachkräften vorgelegt, womit sie zum einen die Erwerbsbeteiligung steigern und Frauen sowie ältere Personen noch stärker in das Erwerbsleben einbinden möchte. Zum anderen will sie die Zuwanderung von Fachkräften aus dem Ausland fördern und auch das Potenzial der Geflüchteten nutzen, in dem diese gezielt in den Arbeitsmarkt integriert werden. Zudem unterstützt die Bundesregierung Unternehmen dabei, die Vorteile einer vielfältigen Arbeitnehmerschaft, die aus Menschen unterschiedlichen Geschlechts und Alters sowie verschiedener Herkunft besteht und auch Menschen mit Behinderung einschließt, zu nutzen und von diesen zu profitieren.
Wie wäre es außerdem mit einer so oft geforderten höheren Bezahlung? Hier wirft Jürgen Nieser ein: „Untersuchungen zeigen immer wieder, dass für Arbeitnehmer nicht ein hohes Gehalt vorrangig ist, sondern vielmehr die Sinnhaftigkeit ihrer Arbeit und dass sie sich in ihrem Beruf und dem Team wohlfühlen.“ Allerdings sei es auch ein Trugschluss anzunehmen, dass das Gehalt unwesentlich sei. „Die Awo Saarland ist daher stolz und froh darüber, ihren Beschäftigten ein attraktives Tarifwerk in der Lohngestaltung sowie einen Beihilfefond und eine zusätzliche Altersvorsorge anzubieten“, so der Landesgeschäftsführer.
Zudem lege man seit vielen Jahren ein gesondertes Augenmerk auf Teamqualität und -kultur. Gerade die „harten Corona-Jahre“ hätten gezeigt, dass nur über gut funktionierende Teams und engen Zusammenhalt schwere und extrem herausfordernde Zeiten zu meistern seien. Sicherlich sei der Gedanke auch richtig, über Quereinsteigerprogramme für Menschen nachzudenken, die ihren Job verloren haben oder sich umorientieren möchten. Er macht Werbung in eigener Sache und sagt: „Die Awo ist hier besonders aktiv und bietet gerade auch älteren Interessenten langfristige Perspektiven zur beruflichen Entwicklung in der Pflege.“
Besteht seiner Ansicht nach eigentlich die Gefahr, dass Roboter oder Künstliche Intelligenzen den menschlichen Arbeitnehmern Arbeitsplätze wegnehmen? Er antwortet: „Die Altenpflege lebt von hohen sozialen und emotionalen Fähigkeiten der darin Arbeitenden. Aus diesem Grund ist die Diskussion um KI und Digitalisierung häufig eine völlig absurde.“ Zu Corona-Zeiten war es seiner Ansicht nach ein Segen, zum Beispiel über Video-Telefonie mit Angehörigen in Kontakt zu treten. Gleichzeitig sei es jedoch auch der Gegenbeweis gewesen: dass bei fehlenden analogen Kontakten die alten Menschen krank werden und vereinsamen. Solange KI und Digitalisierung keine analogen Kontakte ersetzen, könnten Elemente daraus sicherlich eine wichtige Unterstützung zur Organisation eines eigenständigen Lebens im Alltag darstellen. Er schlussfolgert: „Der Mensch ist ein soziales Wesen und wird es immer bleiben. Der Mensch ist nicht für die Einsamkeit und für digitale Kontakte geboren.“