Klosterburgen bewachen die Dörfer, Mönche sind Respektspersonen, Astrologen beraten die Regierung: Im Himalaya-Königreich Bhutan bestimmen noch die Traditionen des Buddhismus den Alltag.
Gerade hat hier jemand die Zeit angehalten. Nein – sie wurde zurückgedreht. Einfach so. Der Ameisenhaufen namens Stadt ist verschwunden, all die vielen Menschen, all die hektische Geschäftigkeit der Moderne. Hochhäuser, Einkaufszentren, Musik aus 1.001 Lautsprechern: Alles weg. Kein Gestank mehr und keine knatternden Autos, keine Enge. Stattdessen: Stille, unterbrochen nur von ein paar musizierenden Vögeln. Und eine neue, fast mittelalterlich wirkende Kulisse, in der noch Mutter Natur die Regie führt und nur ein paar Bauern auftreten, die mit massigen Ochsen ihre Felder pflügen. Abflug in Bangkok, Ankunft in Bhutan – der Kontrast könnte größer nicht sein.
Reisfelder in großer Höhe
Das Panorama des noch jungen Morgens, genossen von der Terrasse des Uma Punakha, einer Boutique-Lodge, die sich in hell-hölzernem Minimalismus derart gelungen an den Hang schmiegt, dass man – gerade aufgewacht – bereits vom Bett aus die traumhafte Aussicht genießen kann: Am fernen Ende des Tals stehen in Reih und Glied die schneebedeckten Riesen des Himalaya, die sich indes heute schüchtern verhüllt haben und von ihren höchsten Höhen Wolken herunterfallen lassen, auf dass sie den in tollkühner Wildheit über Kieselsteine sprudelnden Fluss Pho Chu begleiten auf seiner Reise durch das kleine Land vor unserer Zeit.
Nebelschwaden streicheln Bhutan-Tannen und Tränen-Kiefern, Sikkim-Fichten und Himalaya-Zypressen, die sich dicht an dicht an steil abfallende Felsen krallen; ein dunkler schwarzer Märchenwald. Darunter liegt eine den Bergen abgerungene Landschaft, von Menschen geformt und harmonisch wie ein Mandala: Reisfelder in allen Schattierungen monsungetränkten Grüns, parzelliert in geometrischer Anmut, verziert mit flatternden Gebetsfahnen, auf dass die Wünsche und Bitten der Gläubigen direkt dorthin wehen, wo Lord Buddha gerade meditiert. Die mehrstöckigen Anwesen der Bauern stehen stolz dazwischen, errichtet aus Holz, Stein und Lehm, kunstvoll verziert mit Schnitzereien und Malereien, gebaut vor Jahrhunderten oder vielleicht erst letzte Woche – man sieht es ihnen nicht an.
Hohe Preise regeln Zustrom
Über Jahrhunderte war Bhutan abgeschnitten vom Rest der Welt, abgeschottet durch die Felswände und Gletscher des Himalaya, zugänglich nur über Pässe, die einzig und allein die Yak-Hirten und Salzhändler kannten. Und bis vor wenigen Jahrzehnten wollte das Königreich auch einfach nichts wissen vom Rest der Welt und dem Fortschritt der Moderne. Doch die Globalisierung lässt sich nicht aufhalten – ob man sein Land als Zeitkapsel erhalten will oder nicht. Die erste Teerstraße wurde 1961 gebaut, die erste Bank eröffnete 1968, die ersten Besucher durften 1974 einreisen. Dann eröffnete der internationale Flughafen im Hochtal von Paro. Seither geht die Kurve nach oben: 2004 waren es noch weniger als 10.000 Touristen, im Jahr vor der Pandemie schon mehr als 300.000.
Das Gerücht hält sich noch immer, ist allerdings falsch: Es gibt keine Quote für Touristen. Bhutan beschränkt nicht die Zahl der Einreisenden, die das Land entdecken dürfen. Allerdings sorgen die hohen Preise dafür, dass ein Besuch nur für wenige infrage kommt. Seit der Wiedereröffnung der Grenzen – sie waren wegen Corona fast zweieinhalb Jahre geschlossen – müssen pro Tag 200 US-Dollar bezahlt werden. Die „Sustainable Development Fee“ geht direkt an den Staat, um die nachhaltige Entwicklung zu fördern. Außerdem werden so die kostenlose Gesundheitsversorgung und das Schulsystem finanziert.
Doch mit den 200 Dollar ist es nicht getan. Die Kosten für Unterkunft, Transport, Essen und Führer, die lange über eine Pauschale abgegolten wurden, kommen noch dazu. Für Inder macht man eine Ausnahme: Sie zahlen viel weniger, obwohl sie mit Abstand die größte Besuchergruppe sind. Man will es sich mit dem mächtigen Nachbarn nicht verscherzen, der wirtschaftlich eng mit Bhutan verbunden ist.
Buddhismus prägt den Alltag
Millionen Backpacker wie Nepal, längst betroffen von den Auswirkungen des Massentourismus, will Bhutan also nicht anlocken. Die Strategen setzen wie die Safari-Destination Botswana in Afrika auf die Maxime „high value, low impact“: Es sollen wenige, dafür aber zahlungskräftige Gäste ins Land kommen, denen dann ein deutlich exklusiveres Erlebnis geboten wird. Denn Devisen braucht man natürlich auch in Bhutan, das nur ein paar Äpfel, Pilze und den Strom aus den Wasserkraftwerken ins benachbarte Indien exportiert. Es gibt Fernsehen und Internet, und weil inzwischen diejenigen der rund 800.000 Einwohner, die es sich leisten können, gern große Geländewagen fahren, weiß man in der Hauptstadt Thimphu leider auch, was ein Stau ist.
Ein märchenhaft-mystisches Idyll, das sagenhafte Shangri-La des Himalaya, von dem Touristiker gern schwärmen, ist Bhutan also nicht mehr. Früher war es das übrigens ebenfalls nicht: Bis ins Jahr 1956 unterstanden viele Bauern als Leibeigene ihren Lehnsherren. Ein Feudalsystem begünstigte die herrschenden Schichten, während die Mehrheit der Bevölkerung in Armut lebte und aufzuschauen hatte zu Adel und Klerus. Heute geht Bhutan einen Mittelweg zwischen Mittelalter und Moderne – und der Spagat scheint zu gelingen.
Das Königshaus hat freiwillig seine absolute Macht abgegeben und lässt nun ein Parlament die Entscheidungen treffen. Wie zufrieden die Bürger sind, misst eine Kommission: Ein hohes „Bruttonationalglück“ ist als Staatsziel in der Verfassung verankert – das gibt es sonst nirgendwo. Doch die Traditionen des Buddhismus prägen weiterhin den Alltag, mehr als in allen anderen Ländern im Himalaya. Es sind Astrologen, die wichtige Termine bestimmen. Das viele Tausende Jahre alte Wissen über Heilkräuter wird in den Krankenhäusern weiterhin angewendet, zusammen mit der modernen westlichen Medizin. Klosterburgen, sogenannte Dzongs, bewachen Dörfer und Städte. Wenn hier Festivals abgehalten werden, kommen Zehntausende zusammen, um zu tanzen und zu beten. Die Jugend hört die Boy- und Girlgroups des K-Pop, liebt Bollywoodfilme und spielt mit tief sitzenden Jeans Billard. In der Schule, in den Tempeln und beim Bogenschießen, dem beliebtesten Sport, trägt sie aber wie die Alten folgsam die Nationaltracht.
Sex ist ein Tabuthema. Ganz unverkrampft – und für deutsche Augen durchaus gewöhnungsbedürftig – huldigt das Königreich dagegen dem Phallus. Wer mit seinem Guide durch Bhutan reist, sieht deswegen allerorten Penisse – als Spermien speiende Malereien an den Fassaden und als Holzskulpturen von den Dächern hängend. Haus und Hof werden durch das männliche Geschlechtsteil geschützt, heißt es: Böse Geister wagen sich nicht heran, kein Ungeziefer frisst den reifenden Reis, Unfrieden in der Familie löst sich in Luft auf.
Die „Zivilisation“ ist ganz weit weg
Dass der Penis so befruchtend wirkt, hängt mit dem Lieblingsheiligen der Bhutaner zusammen: Drukpa Kunley, ein großer Meister des Buddhismus im 15. Jahrhundert, soll als „Divine Madman“ die Dämonen nämlich mithilfe seines mächtigen Gemächts bezwungen haben. In dem ihm gewidmeten Kloster segnet ein junger Mönch junge Paare deshalb mit Phalli aus Bambus und Elfenbein …
Derart gereinigt und beseelt kommt man zum Höhepunkt seiner Bhutan-Reise: der Wanderung zum Tigernest-Kloster, das wie ein Schwalbennest an einem 900 Meter über dem Tal thronenden hohen Felsen klebt. Ein auf einem fliegenden Tiger reitender Guru soll hier einst gelandet sein. Inzwischen pilgern viele auf dem Weg zur Erleuchtung hinauf auf den Berg – Gläubige, lachende Soldaten auf Betriebsausflug, Touristen. Es geht vorbei an Eremitenhöhlen und Tempelchen mit Butterlampen, stets begleitet von im Wind schaukelnden Gebetsfähnchen und dem Klingeln der Gebetsmühlen, unermüdlich angetrieben von hoffentlich nie versiegenden Wasserläufen. Und in einem Tross murmelnder Pilger geht es schließlich auch wieder zurück auf den Boden der Tatsachen.
Am Abend, wenn man im Bett liegt und sich zudeckt, nach einem langen Tag des Wanderns im Zustand glücklicher Erschöpfung, sind auch die Türen im Kopf geschlossen für die Sorgen des Alltags. In der Abgeschiedenheit Bhutans darf man selbstbestimmt sein, aussteigen für ein paar kostbare Tage, abschalten, unerreichbar sein. Die Zivilisation ist erschreckend weit weg. Man fühlt sich trotzdem geborgen, hier im Land des Donnerdrachen, wo neben den paar Menschen nur noch die wilden Berge und der Himmel wohnen.