Eigentlich wollte Rok Hwang Musiker werden. Doch das Leben hatte für den jungen Mann aus Südkorea ganz andere Pläne. Nun gehört er mit seinem Label Rokh zu einer festen Größe der Damenmode-Luxus-Welt.
Als Rok Hwang mit 18 Jahren nach London gekommen war, hatte er mit Mode rein gar nichts am Hut. Vielmehr wuchs der Sohn eines Ökonomen in relativ bescheidenen Verhältnissen auf. Hwang wurde 1984 in Südkorea geboren und wanderte im Alter von zehn Jahren zusammen mit seiner Familie in die USA aus. Seine Kindheit verbrachte der Junge in einer Wohnwagensiedlung im texanischen Austin und träumte davon, eine Karriere als Musiker zu starten. „Ich habe die normale Teenagerzeit durchgemacht: Heavy Metal mit maximaler Lautstärke hören, Skateboard fahren und eine Garagenband haben.“ Beim täglichen Zappen durch die TV-Programme, auf der Suche nach seinen liebsten Comicserien wie den „Teenage Mutant Ninja Turtles“, stieß er rein zufällig auf eine Lanvin-Modenschau aus Paris. Diese erste bewusste Begegnung mit der Mode hinterließ bei Hwang jedoch keinen nachhaltigen Eindruck. Lieber bastelte er weiter an seiner Musikkarriere, welche er im Nachgang belächelt. „Ich habe mich musikalisch doch arg überschätzt, weil ich kein besonders talentierter Musiker gewesen war.“
Was ihn letztlich dazu veranlasste, sich in London 2005 zum Studium am berühmten Central Saint Martins College of Art and Design anzumelden, ist nicht bekannt. Allerdings entpuppte er sich dort schon von Anfang an als außergewöhnlich modisches Naturtalent. Und so nahm ihn die legendäre und inzwischen verstorbene Professorin Louise Wilson, die eine ganze Reihe bekannter Designer wie Jonathan Saunders, Simone Rocha, Marques’Almeida und Christopher Kane unterrichtet hatte, unter ihre Fittiche.
Zunächst machte Hwang seinen Bachelor in Herrenmode. Doch ganz glücklich schien ihn die Beschäftigung mit der Menswear nicht gemacht zu haben. „Der Lehrplan war damals noch konservativer als heute. Ich wollte raus aus meiner Komfortzone und Silhouetten, Techniken und Konstruktionen erforschen. Louise Wilson sah meine Arbeit und dachte, dass ich mich wahrscheinlich freier und stimulierter fühlen würde, wenn ich mich der Damenmode zuwende. Also bot sie mir einen Platz in ihrem Kurs an.“ 2010 konnte Hwang daher auch noch seinen Master in Damenmode absolvieren.
Sein Ruf eilte ihm voraus. Nicht zuletzt weil Hwang mit seiner Master-Abschluss-Kollektion den ersten Preis am Saint Martins, den Chloé-Award und den L’Oréal Creative Award gewonnen hatte. Und so nahm ihn keine Geringere als Star-Designerin Phoebe Philo noch im gleichen Jahr beim Pariser Label Céline an ihre Seite.
„Die Arbeit in einem professionellen Umfeld hat mir neue Perspektiven eröffnet, da man sich mit Verantwortung und Zeitplan auseinandersetzen muss“, erzählt Hwang über seine dreijährige Zusammenarbeit mit Philo, „Ich habe ein besseres Verständnis für Frauen, und wie sie sich kleiden, gewonnen und wie man das alles im kreativen Prozess einfängt. Ich habe gesehen, wie Phoebe Philo alle ihre Stücke anprobiert hat, was für mich ein Augenöffner war. Seitdem stelle ich mir bei jedem Entwurf immer wieder die Frage, ob diesen jemand wirklich tragen möchte.“
Nach dem Abschied von Céline war Hwang als Freiberufler noch für zwei weitere Pariser Hochkaräter tätig: Louis Vuitton und Chloé. Im Jahr 2016 gründete er schließlich sein eigenes Label unter dem Namen Rokh. Schon mit seiner ersten, von Biker-Jacken, Trenchcoats und Hosenanzügen geprägten Kollektion für den Herbst/Winter 2017/2018 konnte er gleich 30 internationale Mode-Luxus-Fachhändler überzeugen und als Kunden gewinnen. Dann bescheinigte die italienische Ausgabe der „Vogue“ dem Newcomer „eine neue Eleganz“, basierend auf einer „klassischen Ästhetik und einem starken Identitätsstil“. Hwang selbst gab sich damals betont zurückhaltend. „Als Individuum talentiert zu sein ist etwas ganz anderes, als eine erfolgreiche Marke aufzubauen.“
AUszeichnung mit Sonderpreis
Seine Luxus-Kreationen waren von Anfang an vergleichsweise preisgünstig und kundenfreundlich kalkuliert, weil sich Hwang mit einer relativ bescheidenen Marge zufrieden gegeben hatte. Bei der Arbeit zeigte sich Hwang dagegen sehr anspruchsvoll. „Ich fange erst während der Anprobe an zu entwerfen. Ich muss das Kleidungsstück berühren und fühlen können. Manchmal braucht es mehr als zehn Versuche, um einen Stil neu zu gestalten.“
Im Jahr 2018 wurde bei dem weltweit renommierten Nachwuchs-Designer-Wettbewerb, dem LVMH-Award, eigens für Hwang ein Sonderpreis ausgelobt. Dieser wurde ihm für seine „aussagekräftige Signature-Streetwear für Frauen“ zugesprochen, verbunden mit einem Preisgeld von 150.000 Euro und einem einjährigen Mentoring durch den LVMH-Konzern. Dabei kann man sich schon darüber streiten, ob seine Kreationen tatsächlich der Rubrik Streetwear zugerechnet werden können. Das hatte die „Vogue“ beispielsweise schon damals verneint und von einem auf meisterhaftem Handwerk basierenden „dezenten Chic“ gesprochen. Folglich konnte Hwang die durch den Rücktritt von Phoebe Philo bei Céline entstandene Lücke in der Damenmode problemlos füllen. „Der Designer erforscht selbstbewusst Dekonstruktion und Anpassungsfähigkeit“, so die „Vogue“, „wobei viele der Kleidungsstücke so gestaltet sind, dass sie kaputt und neu zusammengesetzt aussehen. Sein Atelier, das sich über einer Straße voller Schneidereien im Norden Londons befindet, hat die Länge eines olympischen Schwimmbeckens – oder passender, eines Laufstegs – was es ihm ermöglicht, darauf zu achten, wie sich seine Kleidung bewegt, während seine fitten Models auf und ab gehen.“
Die Wichtigkeit dieses optischen Eindrucks wurde von Hwang auch bestätigt: „Wir versuchen, jede Bewegung zu antizipieren und darüber nachzudenken, wie die Kleidungsstücke auf eine bestimmte Weise brechen können.“ Daher seien, laut „Vogue“, alle Kreationen auf Anpassung ausgelegt. „Von gedrehten Hosen, die an der Naht aufgeknöpft und ausgestellt getragen werden können, bis hin zu übertriebenen Seidenblusen mit langen Ärmeln, die an der Manschette gebunden werden können, und einem offenen Rücken, der beim Gehen hinter der Trägerin schwebt.“
Völlig verblüffend sei laut „Vogue“, dass Hwang schon in diesem frühen Stadium seiner Label-Geschichte eine eigene Handtaschen-Kollektion lanciert hatte. „Das Markenzeichen“, schreibt das Modemagazin, „ist eine rechteckige Umhängetasche namens File mit vier Fächern und Umschlagtaschen, die ordentlich hineingeschoben oder herausgenommen und separat getragen werden können. Das Branding ist die moderne, minimalistische Art: eine kleine goldene Prägung des Garamond-Logos des Designers, die von traditionellen Couture-Labels inspiriert wurde.“
Nach der Präsentation seiner Kreationen in Showrooms und in stimmungsvollen Lookbooks hielt Hwang 2019 den Zeitpunkt für gekommen, sein Debüt auf der Pariser Fashion Week zu geben. Seine Herbst/Winter-Kollektion 2019/2020, die er zur Eröffnung der Modewoche im Keller eines ehemaligen Monoprix-Supermarktes vorgestellt hatte, stand unter dem Motto „Teenage Nightmare“ und spiegelte seine jugendlichen Jahre in Texas wider. „Ich bin in den Staaten in Austin aufgewachsen, im Wald, im Ödland. Es war also wirklich ruhig, und ich wollte diese Erfahrung vermitteln, im Dunkeln aufzuwachsen, wenn man eine leichte Taschenlampe hat und als Teenager eine nächtliche Wanderung macht.“ Die mediale Aufmerksamkeit war für einen Newcomer geradezu phänomenal.
„Wild, aber ein bisschen nerdig“
Highlights dieser Show waren beispielsweise ein karamellfarbener Trenchcoat aus Lackleder, der über einem Kleid mit Butterscotch-Print getragen wurde, Oversize-Anzugjacken, die an entsprechende Stücke von Martin Margiela erinnerten, ein bedruckt-geblümter Body, ein üppiger Lammfellmantel oder ein Kleid in strahlendem Blau. „Jeder entwirft für die anspruchsvolle, künstlerische Frau, aber das ist nicht die einzige Frau, die existiert. Ich möchte mich für meine Generation aussprechen, die sich dazwischen fühlt – irgendwie wild, aber ein bisschen nerdig. Ich möchte immer noch ein wunderschönes Kleidungsstück für eine Frau konstruieren, aber dabei eine Geschichte erzählen, die mehr auf die Jugend ausgerichtet ist. Es gibt viele Teile meiner Kollektion, die jugendlich sind, mit vielen Schrägstrichen und einer wirklich rauen Kante, aber gleichzeitig kreiere ich ganz klassische Blazer und Trenchcoats.“
Auch in seiner zweiten, wieder in Paris vorgestellten Kollektion für den Sommer 2020 hatte Hwang Erlebnisse seiner Jugendzeit verarbeitet. Dabei würdigte er einen Roadtrip durch die USA im Lincoln seines Vaters aus dem Jahr 1994. „Wir verbrachten fast drei Monate in diesem Auto. Ich wollte die visuelle Geschichte dessen erzählen, was ich damals aus dem Auto meines Vaters gesehen hatte.“ Es gab daher über Hosen getragene Röcke aus den 1990er-Jahren, Westen mit Spaghetti-Trägern, adrette Poloshirts in Kombination mit voluminösen Tüllröcken, ein Kleid mit durchsichtigen Fächerfalteneinsätzen, einen koketten Hosenanzug mit Seilknebeln und jede Menge glänzende Leder-Teile. „Es passt fast nichts zusammen, aber es ist ein neuer Abend im Rokh-Stil“, so Hwangs genüssliches Resümee nach dem Event.
Die Kollektion Herbst/Winter 2020/2021 richtete Hwang als „visuellen Liebesbrief“ an seine ältere Schwester April, die am Tag der Pariser Show geheiratet hatte. Deshalb hat er in seinen Kreationen gemeinsame Erinnerungen aus den 1990er-Jahren und 2000er-Jahren aufgegriffen. Wieder war eine ungewöhnliche Vielfalt zu bewundern, von Kleidern mit Blümchenprints, über Faltenröcke aus kontrastierenden Plaids oder scharf geschnittenen schwarzen Jacken, bis hin zu Yorkshire-Wildhüter-Tweeds oder Tomboy-Hosenanzügen mit Schuljungen-Krawatten. Punkige Silberketten oder ungewöhnliche Schneidernadel-Akzente nicht zu vergessen.
Die Sommerkollektion 2021 konnte coronabedingt nur digital vorgestellt werden, wobei sich das Motto „Night Wanderer“ in einem fantastischen Video niedergeschlagen hatte. Diesmal ließ sich Hwang von fantastischen Kinderbüchern wie den von Tim Burton verfilmten Abenteuern um die Lehrerin Miss Peregrine inspirieren. Das spiegelte sich in der Kollektion in Gothic-Punk-Victoriana-Kleidern, Trenchcoats oder Kilt-Hybriden ebenso wie in Prärie-Kleidern mit Cutaway-Korsetts und floralen Jacquards wider. Auffällig waren auch die zahllosen schwarzen Ledergeschirre.
Reichlich Nebel war auch bei der hinter verschlossenen Türen in einer ehemaligen Londoner Brauerei digital vorgestellten Kollektion „Omniverse“ für Herbst/Winter 2021/2022 zum Einsatz gekommen. Es dominierte eine düstere Art von Glamour, beispielsweise bei einem schwarzen Kleid mit metallenen Maschendrahtbändern, einem schwarzen Slip-Kleid mit tiefsilbernen Fransen oder einem Spitzenkorsett über einer maskulinen Hose. Zudem gab es fetischartige Unterströmungen mit Schnallenträgern und Leder-BHs oder bei einem mit klobigen Silberketten als Schulterriemen gestalteten lindgrünen Seidenkleid.
Seine Sommerkollektion 2022 konnte Hwang dann wieder live auf der Pariser Fashion Week vorstellen. Dabei hatte er sich wie viele Kollegen mit schwarzen Cocktailkleidern oder festlichen Opera Gloves dem Glamour hingegeben. Für Rokh ziemlich ungewöhnlich waren plötzlich elegante Abendgarderoben angesagt. Diese setzte er beispielsweise in Form eines schwarzen Kleides mit von der Schulter fallenden Trägern um. Famos waren aber auch ein mitternachtsblaues Trench-Kleid oder Wickelröcke mit Cargotaschen. Im Herbst/Winter 2022/2023 wandte sich Hwang unter dem Titel „Hometown Hero“ dann vom Glamour ab und wieder der Tagesgarderobe zu. Die Models traten abwechselnd als Punk-Girls, Cheerleaderinnen in Varsity-Jacken, Pfadfinderinnen oder als sportliche Mädels auf.
Auch im Sommer 2023 tauchen in der Kollektion wieder Sneaker auf, die Hwang in Kooperation mit Converse gestaltet hat. Dazu wird auch das Taschensortiment erweitert, und zwar mit quadratischen Bags in verschiedenen Größen, die der Designer selbst „Aktentaschen“ taufte. Zu den modischen Highlights zählen ein Lammfellkleid, ein blauer Leder-Trenchcoat mit abnehmbaren Vorderteilen oder ein Slip-Dress mit plissierten Schleppen. Interessant sind auch wellenförmige Bänder an vielen Röcken, die über eine Reihe von Haken- und Ösen-Verschlüssen befestigt oder abgelöst werden können. Und in der kommenden Wintersaison 2023/2024 bittet Hwang die Frauen ins Büro und offeriert ihnen unter dem Motto „Office Essentials“ seine persönliche Vorstellung von Business-Kleidung. Auch wenn sich mancher Arbeitgeber angesichts von zahllosen BH-Varianten, schwarzen Lederbustiers oder zur Schau gestellten Dessous verwundert die Augen reiben dürfte.