Bei dem Urnengang steht auch für Deutschland und Europa viel auf dem Spiel
Selten gab es eine Wahl, bei der für Europa und Deutschland so viel auf dem Spiel stand. Wenn die Türkinnen und Türken an diesem Sonntag zur Stichwahl antreten, geht es nicht nur um einen neuen Präsidenten. Im Duell Recep Tayyip Erdoğan gegen seinen Herausforderer Kemal Kılıçdaroğlu prallen zwei völlig verschiedene Politikstile und Konzepte aufeinander.
Erdogan steht für Protz und Prunk, Kilicdaoglu für Bescheidenheit und Demut. Gewinnt Erdoğan, dürfte sich die Türkei von einer Autokratie zu einer lupenreinen Diktatur entwickeln. Noch mehr Oppositionelle, Intellektuelle und Andersdenkende werden im Gefängnis landen. Die Institutionen und Gerichte des Landes tanzen dann endgültig nach der Pfeife des Sultans von Ankara.
In der Nato ist der Türke bereits ein unsicherer Kantonist. Er blockiert und verzögert den Beitritt Schwedens zum Bündnis, um die Auslieferung unliebsamer Regimekritiker zu erzwingen. Derlei Pressionsversuche gehören zu seinem Repertoire – weitere sind zu erwarten.
Ein wiedergewählter Staatschef Erdoğan würde in der Flüchtlingsfrage weiter Schicksal mit der EU spielen. Knapp vier Millionen Migranten hat die Türkei aufgenommen. Das ist auch ein Ergebnis des im März 2016 geschlossenen Deals mit der EU. Wann immer es Erdoğan passt, wird er Brüssel drohen: „Wir öffnen die Tore.“
Macht Kilicdaroglu das Rennen, würden in der Türkei wieder demokratische Umgangsformen einziehen. Der Oppositionskandidat hat versprochen, das autokratische Präsidialsystem Erdoğans abzuwickeln. Der Ministerpräsident soll künftig vom Parlament gewählt und nicht wie bisher vom Quasi-Monarchen ernannt werden.
Kilicdaroglu steht für eine Annäherung an Europa und den Westen. Die Nato-Aufnahme Schwedens will der 74-Jährige sofort besiegeln. In die eingefrorenen EU-Beitrittsverhandlungen möchte er neue Bewegung bringen. Hier sind keine Hauruck-Lösungen zu erwarten. Aber von einer Vertiefung der Zollunion würden zum Beispiel beide Seiten profitieren.
Problematisch für die EU ist Kılıçdaroğlus Ankündigung, die 3,5 Millionen syrischen Flüchtlinge sofort in ihre Heimat zurückzuschicken. Ein Teil der Migranten dürfte sich mangels wirtschaftlicher und politischer Perspektiven auf den Weg in EU-Länder machen. Für Brüssel wäre es klug, mit einem Präsidenten Kılıçdaroğlu über visafreies Reisen türkischer Staatsbürger nach Europa zu verhandeln – als Gegenleistung für ein neues Flüchtlingspaket.
Allerdings spricht vieles dafür, dass der Amtsinhaber weiterregieren kann. So ist es diesem zunächst gelungen, die positive Dynamik Kılıçdaroğlus zu brechen. Der 74-jährige Hoffnungsträger der Opposition hatte vor dem ersten Durchgang der Präsidentschaftswahl in den meisten Umfragen die Spitzenposition inne. Es schien, als liege in der Türkei ein Machtwechsel in der Luft. Der Autokrat Erdoğan, der seit 20 Jahren an der Macht ist, habe nach Hyper-Inflation und Erdbeben-Missmanagement abgewirtschaftet, dachten und hofften viele im Westen. Doch Erdoğan landete mit einem Vorsprung von rund 4,6 Prozentpunkten auf Platz eins. Manche Anhänger Kılıçdaroğlus dürften nun aus Frust zu Hause bleiben.
Erdogan ist ein mit allen Wassern gewaschener Wahlkämpfer, der immer noch Massen mobilisieren kann. Mal gibt er den Super-Populisten, der teure Wahlgeschenke wie höhere Gehälter und Pensionen verteilt. Mal zückt er die nationalistische Karte: Der Staatschef präsentiert die Türkei gern als globalen Akteur, der die Nato im Falle des Schweden-Beitritts ebenso piesacken kann wie die EU mit einer laxen Grenzkontrolle beim Flüchtlingsthema. Bei vielen seiner Landsleuten kommt das an.
Kilicdaroglus Manko: Es fehlt ihm an Charisma. Möglicherweise stießen sich konservative Muslime auch an seinem offenen Bekenntnis, der Glaubensrichtung der Aleviten zuzugehören. Die Aleviten fasten nicht an Ramadan und pilgern nicht nach Mekka. Für viele Sunniten mag dies befremdlich sein. Es zeigt aber auch, dass die türkische Gesellschaft in großen Teilen religiös grundiert ist. Erdoğans über Jahre hinweg verfolgte schleichende Islamisierung des Landes trägt auch noch im Herbst seiner Karriere Früchte.
Der Amtsinhaber geht mit deutlichen Vorteilen in die Stichwahl. Kılıçdaroğlu bräuchte ein kleines Wunder, um an diesem Sonntag doch noch zu triumphieren.