Vom jüngsten Debütanten bei Birmingham City zum Leistungsträger und Teilzeitkapitän bei Borussia Dortmund: Jude Bellinghams Aufstieg verlief steil – und die Entwicklung des 19-Jährigen ist noch nicht zu Ende. Real Madrid macht jetzt ernst.
Würde man Fußballfans nach dem spannendsten Spieler der Bundesliga befragen, eine überdeutliche Mehrheit würde wohl mit „Jude Bellingham“ antworten. Der 19-Jährige ist sportlicher Leistungsträger bei Borussia Dortmund und „Crowdpleaser“, also Publikumsliebling, in Personalunion. Weil er grätscht, rennt, Tore schießt. Und weil der impulsive Engländer, den mit den Vorstellungen ihres Teams längst nicht immer einverstandenen Fans, manchmal durch seine Emotionsausbrüche auf dem Platz aus der Seele spricht.
Und natürlich nimmt er sich den Ball zum wichtigen Elfmeter. Natürlich streifte er gegen Mönchengladbach die Binde des Spielführers über, als Mats Hummels den Platz verließ. Natürlich überließ er sie nach dessen Einwechslung dem eigentlichen Kapitän Marco Reus, weil er die Fußball-Hierarchien kennt. Und natürlich war er wieder das Herz des Dortmunder Spiels, der „Dreh- und Angelpunkt“. Warum Jude Bellingham so ist, wie er ist und so spielt, wie er spielt, hat seinen Ursprung in Birmingham, dieser noch heute von ihrer Industrievergangenheit geprägten Stadt im Zentrum Englands, der durch die britische TV-Serie „Peaky Blinders“ – über den Aufstieg einer Straßengang – ein cineastisches Denkmal gesetzt wurde. Dort wuchs Bellingham auf. Dort ist sein Vater Mark, im Hauptberuf Polizist, ein Idol des sogenannten Non-League-Footballs, dem englischen Amateurfußball.
Anfänge auf den Straßen Birminghams
Mehr als 700 Tore erzielte Mark Bellingham in seiner 20-jährigen Karriere – oft stand der kleine Jude an der Seitenlinie und sog diese ebenso
authentische wie oft raue Fußballwelt auf. Klick machte es jedoch vergleichsweise spät. Mit sechs Jahren erst fing der kleine Bellingham selbst an, gegen den Ball zu treten. Ab da dauerte es nur zehn Jahre, ehe er sein erstes Profi-Spiel für seinen Heimatclub, den Zweitligisten Birmingham City, absolvierte – als jüngster Spieler der bisherigen Vereinsgeschichte. „Mein Spiel spiegelt meine Herkunft wider“, sagte Bellingham einmal in einem Kurzfilm des Spieleherstellers EA: „Es ist der Stil der Arbeiterklasse, denn mein Spiel basiert auf Energie und harter Arbeit.“ Es sind keine leeren Worte, er setzt sie in jedem Spiel in die Tat um. Dafür lieben ihn die Fans in Birmingham bis heute – und dafür wird er von den Anhängern des BVB verehrt, die aufmerksam registrierten, dass er nach seinem Wechsel ins Ruhrgebiet sagte: „Ich möchte das Gefühl haben, dass ich ein Teil der Stadt bin, nicht nur ein Teil eines Fußballclubs.“
„Jude war schon sehr reif, selbstbewusst und stark, als er aus Birmingham zu uns kam“, sagte Dortmunds Lizenzspielerleiter Sebastian Kehl im vergangenen Sommer nach dem ersten Jahr des Youngsters in Dortmund. „Aber ich finde, dass er bei uns noch einmal eine außergewöhnliche Entwicklung genommen hat.“ Sein spielerischer Fortschritt war absehbar, deshalb war der BVB überhaupt nur bereit, die gigantische Summe von 25 Millionen Euro für einen Teenager aus der Zweiten englischen Liga zu zahlen. Aber die Geschwindigkeit seiner Entwicklung von einem hoffnungsvollen Nachwuchsspieler zu einem absoluten Leistungsträger, die überrascht dann doch. Zumindest fern der Heimat. In Birmingham dagegen rechnete man damit. So zumindest klang es im Herbst 2021, als Simon Jones, der ehemalige Chefscout der BCFC Academy, sagte: „Jude wäre bei allem erfolgreich gewesen, egal, was er sich ausgesucht hätte. Er hat diesen inneren Antrieb, diesen Hunger, diese Zielstrebigkeit, in allem, was er tut, der Beste zu sein.“ Und das sieht man, wenn er auf dem Platz agiert, als wolle er das Spiel allein gewinnen. Dann grätscht er hinten den Gegner ab, schaltet um und versucht, vorne das Tor zu erzielen. Jugendlicher Sturm und Drang. Nicht immer taktisch sauber, aber für die Zuschauer fast unwiderstehlich. Jude Bellingham ist nicht der einzige Grund, aber sicher der wesentliche Grund dafür, dass der BVB kurz vor dem Ende der Saison wieder vom Meistertitel träumen darf. Das Erstaunlichste daran: Bellingham, der große Junge aus den englischen West Midlands, ist erst 19 Jahre alt. Er war gerade mal 18, als ihn das Fachblatt „Kicker“ bereits mit einiger Berechtigung in zeitgemäßem Taktikdeutsch zum „kompletten Box-to-Box-Spieler“ ernannte. Da hatte er mit der Selbstverständlichkeit des Könners schon eine Führungsrolle im Dortmunder Team inne.
Für die Zuschauer fast unwiderstehlich
Daran hat sich allenfalls insofern etwas geändert, als er noch viel besser geworden ist. Im Abwehrspiel beweist er Zweikampfstärke und Klugheit, mit feinen Tempowechseln bestimmt er den Rhythmus, seine Kopfballstärke macht ihn vorne und hinten wertvoll, die Pass-Sicherheit ist so beeindruckend wie die technische Grundausstattung. Er wird längst der fast drei Jahre alten Einschätzung des englischen Verbandsscouts Daniel Dodds gerecht. Der schwärmte von „der Art, wie er sich bewegt“, von seinen „technischen Fähigkeiten. Er hat eine unglaubliche Spielintelligenz, sein taktisches Wissen ist herausragend. Er ist mindestens so gut wie alles, was ich bisher gesehen habe“. Solche Hymnen singt die Fachwelt eigentlich nur etablierten Herren im Zenit ihres Könnens, irgendwo zwischen 25 und 30 Jahren, die das Auf und Ab der Karriere durchlebt und durchlitten haben und ihren Platz im Profisport kennen.
Er eckt gelegentlich auch an – auch das gehört zum Charakter des 19-Jährigen. Als sich Dortmund in der Saison 2021/22 beim 2:3 gegen Bayern München von Schiedsrichter Felix Zwayer mies behandelt fühlte, keilte Bellingham verbal aus: „Man gibt einem Schiedsrichter, der schon mal ein Spiel verschoben hat, das größte Spiel. Was soll man da erwarten?“ Bellinghams drastische Erinnerung an den Skandal um die Spielmanipulation durch Schiedsrichter Robert Hoyzer, dessen Assistent Zwayer war, trug dem Engländer eine Geldbuße in Höhe von 40.000 Euro ein. Er wird wahrscheinlich nicht mehr so aus der Rolle fallen. Seine Mutter Denise Bellingham jedenfalls versichert: „Er ist ein guter Junge.“ Aber welche Mutter sagt das nicht über ihren Jungen.
„Er hat seine Rolle noch nicht definiert“
Matthias Sammer ist jetzt kein Erziehungsberechtigter Bellinghams, legt aber gerade dann, wenn alle loben, auch gern den Finger in die Wunde. Bellinghams offenkundige Absicht, im Sommer zu Real Madrid zu wechseln, kommentierte der Sachse gewohnt bärbeißig: „Er würde zumindest eine bessere Erziehung bekommen als in Dortmund, weil zum Teil ein 19-Jähriger natürlich manchmal auch ein paar Flausen neben dem Feld und manchmal auch auf dem Feld im Kopf hat, was vollkommen normal ist für seine Entwicklung.“ Bellinghams Trainer Edin Terzic beeilte sich, die vorbildliche Berufsauffassung und Haltung seines Schützlings zu preisen, und Sammer erklärte seine Bemerkung nicht näher. Dass er einen Wechsel zu einem Weltclub für zu früh hält, musste er nicht erklären. Sammer glaubt, dass sich Bellinghams natürliches Verantwortungsbewusstsein fürs Spiel und die Mannschaft an den Ansprüchen von Weltstars reiben wird – mit ungewissem Ausgang. „Ob er das möchte, wird er entscheiden“, sagte der Berater der BVB-Bosse. Er ist nicht der Einzige, der den 19-Jährigen für noch nicht vollkommen hält. Auch Weltmeister Philipp Lahm urteilte in einer Kolumne für die „Zeit“: „Er hat seine Rolle noch nicht genau definiert. Er hat noch keinen Stil definiert, mit dem man ihn identifiziert. Er übernimmt in Dortmund zu viele Aufgaben.“ Am liebsten wäre er überall auf dem Feld gleichzeitig, ein Sechser, ein Achter, ein Zehner in einer Person – ein Vorsatz, den niemand einlösen kann und an dem der deutsche Mittelfeldkollege Joshua Kimmich von Bayern München manchmal zu zerbrechen scheint. Wobei: Kimmich und Bellingham? Derzeit hat Bellingham da deutlich die Nase vorn.
Es ist wohl klar, dass Bellingham den BVB am Ende der Saison verlassen wird. Auch wenn Sebastian Kehl die Chance auf einen Verbleib sieht und Edin Terzic gebetsmühlenartig nur über Sportliches sprechen will: Das Thema Bellingham schwingt neben der Meisterschaft mit. Denn einen solchen Spieler zu verlieren, ist nicht nur für Borussia Dortmund ein herber Verlust, sondern auch für die Bundesliga.