Remco Evenepoel gilt unter Experten als künftiger Dauersieger bei großen Rundfahrten. Beim Giro d’Italia hatte der junge Belgier das Rosa Trikot schon erobert, doch dann musste er aufgeben. Sein Gegner war ein fast schon vergessener: Corona.
Im April erklärte Gesundheitsminister Karl Lauterbach die Corona-Pandemie für beendet, einen Monat später hob auch die Weltgesundheitsorganisation WHO den globalen Gesundheitsnotstand auf. Doch natürlich ist deswegen das Virus nicht plötzlich verschwunden. Corona ist nur deswegen kein größeres Thema mehr, weil es die Maßnahmen größtenteils nicht mehr gibt und die Menschen dank Impfung und der fortgeschrittenen Durchseuchung seltener und weniger schwer daran erkranken. Aber Corona bleibt in allen Gesellschaftsbereichen problematisch – auch im Sport. Bestes Beispiel: Die 106. Ausgabe des Giro d’Italia, bei der die Teams Soudal-QuickStep, AG2R Citroën und Corratec-Selle Italia zahlreiche Coronafälle meldeten. Insgesamt verließen mehr als ein Dutzend Fahrer aufgrund von Covid-Erkrankungen den Giro.
Mitten in der Grand Tour zogen die Organisatoren die Maßnahmen an und führten unter anderem die Maskenpflicht wieder ein. „Ja, wir haben die Aufmerksamkeit etwas zu früh aufgegeben. Wir müssen weiterhin wachsam bleiben“, hatte Giro-Direktor Mauro Vegni gesagt. Der deutsche Radprofi Lennard Kämna, der seine erste Grand Tour als Co-Kapitän als Klassementfahrer angetreten hatte, zeigte Verständnis dafür. Doch der Bora-Hansgrohe-Profi betonte auch: „Wir haben keine Angst vor Covid. Es ist so, wie es ist. Wir versuchen, in unserer Bubble so clean wie möglich zu sein, und wir versuchen natürlich, nicht krank zu werden.“
Corona bleibt ein Problem
In anderen Sportarten wird meist gar nicht mehr auf das Virus getestet, dementsprechend sind ähnliche Meldungen dort zuletzt kaum noch aufgetaucht. Doch im Radsport nehmen einige Teams die Testung nach wie vor ernst, denn in der fordernden Ausdauersportart müssen Athlet und Teamführung genauestens über die körperlichen Befindlichkeiten Bescheid wissen. Und mit Corona ist vor allem im Hinblick auf Herz-Kreislauf-Erkrankungen nicht zu spaßen – von Long Covid ganz zu Schweigen. Und so achten die meisten Radprofis darauf, bei einem positiven Test vom Rad zu steigen – unabhängig davon, ob sie symptomfrei sind oder nicht. Der Norweger Sven Erik Byström ging beim Giro einen anderen Weg, er trat trotz positiven Tests zu mehreren Etappen an. „Es war hart“, sagte der Profi vom Team Intermarché-Circus-Wanty, „es ging nur darum durchzukommen.“ Und außerdem: „Wenn alle mit einem positiven Test aussteigen, gibt es kaum noch Fahrer, wenn wir in Rom ankommen.“ Doch nur wenig später zeigte Byström Symptome und musste vorzeitig aufgeben.
Remco Evenepoel zeigte sofort ein besseres Verantwortungsbewusstsein gegenüber sich selbst, auch wenn er durch seine Aufgabe deutlich mehr verlor als Byström. Das belgische Ausnahmetalent hatte das Rosa Trikot des Führenden erobert und war auf Kurs Gesamtsieg – als ein positiver Coronatest ihm einen Strich durch die Rechnung machte. Die Nachricht vom Giro-Aus kam nur wenige Stunden, nachdem Evenepoel beim Sieg im Zeitfahren auf der neunten Etappe einen 45-Sekunden-Vorsprung auf Verfolger Geraint Thomas aus Großbritannien herausgefahren hatte. „Als Teil der Routine in unserem Team habe ich mich einem Test unterzogen, der leider positiv war“, ließ Evenepoel, der von leichten Erkältungssymptomen berichtete, verlauten: „Ich hatte mich darauf gefreut, hier in den kommenden zwei Wochen zu fahren.“ Und zu gewinnen. Denn der erst 23-Jährige ging als großer Favorit an den Start, in Italien wollte er nach der Vuelta im Vorjahr seinen zweiten Triumph bei einer Grand Tour feiern.
Entsprechend schwer dürfte ihm die Entscheidung gefallen sein, zur zehnten Etappe nicht mehr anzutreten und das Rosa Trikot kampflos abzugeben. „Ich bin stolz, das Rennen mit zwei Etappensiegen und vier Rosa Trikots zu verlassen“, schrieb der Weltmeister bei Instagram. Natürlich kamen auch Stimmen auf, die den Rückzug als Gesamtführender aufgrund eines positiven Corona-Tests mindestens kritisch hinterfragten. „Es scheint, als existiere Covid nur noch im Radsport“, schrieb der niederländische Radsport-Journalist Raymond Kerckhoffs bei Twitter. Patrick Lefevere, Teamchef von Soudal Quick-Step und damit der sportliche Vorgesetzte von Evenepoel, verteidigte die Entscheidung mit einer Antwort auf diesen Tweet: „Du weißt nie, was unter der Haut los ist. Das hier ist kein 9-17-Uhr-Job. Keine Risiken.“
„Die richtige Entscheidung“
In Evenepoels Heimat wurde der Ausstieg durchaus kontrovers diskutiert, die erfolgsverwöhnten belgischen Radfans hätten ihr Supertalent gerne ganz oben auf dem Podest gesehen. Doch der belgische Virologe Marc van Ranst erklärte dem Sender Sporza: „Evenepoel hat für seine Gesundheit die richtige Entscheidung getroffen. Außerdem lebt man dort immer noch in einer Gruppe. Man kann dort jeden anstecken, selbst jetzt, wo das Virus weniger stark ist.“ Auch Mannschaftsarzt Yvan van Mol verteidigte die Team-Devise, jeden positiv getesteten Fahrer aus dem Feld zu nehmen. „Wir haben im Nachhinein noch nicht genügend Erkenntnisse, um sicher sein zu können, dass dies keine Auswirkungen auf ihre Gesundheit haben wird“, sagte van Mol.
Die Nachricht von Evenepoels frühzeitigem Giro-Aus wurde auch von seinen Konkurrenten Jonas Vingegaard und Tadej Pogacar aufmerksam verfolgt. Die beiden Gewinner der vergangenen drei Ausgaben der Tour de France hatten sich auch für die diesjährige Große Schleife vom 1. bis 23. Juli auf ein Duell eingestellt – doch plötzlich kamen Spekulationen um einen möglichen Evenepoel-Start in Frankreich auf. „Wir werden uns etwas Zeit nehmen und dann sehen wir, wann er wieder Rennen fährt“, hatte Teamsprecher Phil Lowe alle Möglichkeiten offengelassen. Klar ist allerdinggs, dass Evenepoel mit einer Teilnahme das komplette Feld durcheinanderwirbeln und die Renntaktiken der anderen Teams auf den Kopf stellen würde. Doch Teamchef Lefevere beendete die Spekulationen schnell: „Nein, er wird nicht an der Tour de France teilnehmen“, sagte der Sportliche Leiter von Soudal Quick-Step: „Wir werden sein Programm nicht ändern, das wäre nicht sehr intelligent.“ Für seinen Ausnahmefahrer sei es zunächst das Beste, „sich zu erholen und zu entspannen“.
Um dann woanders anzugreifen. Bei den nationalen Meisterschaften Ende Juni will der Belgier auf jeden Fall wieder im Sattel sitzen und siegfähig sein, ein Start bei der Dauphiné Mitte Juni wäre eher eine Überraschung. Ob er die Vuelta, die er im Vorjahr gewonnen hatte, ab dem 26. August in Angriff nimmt, scheint fraglich. Evenepoels Fokus liegt zunächst klar auf den Weltmeisterschaften Anfang August in Glasgow, wo er seinen Titel im Straßenrennen erfolgreich verteidigen möchte und auch im Zeitfahren auf Gold schielt. So ein Titel-Double war bislang noch keinem Fahrer gelungen – eine zusätzliche Motivation für den aufstrebenden Rekordjäger. Als Nachwuchsfahrer war ihm dieses Kunststück bei der Junioren-WM 2018 im österreichischen Innsbruck geglückt. Das war sein Startschuss für den Einstieg ins Profigeschäft, unmittelbar danach unterschrieb er einen Vertrag bei QuickStep. In Belgien wurde er wenig später mit dem großen Merckx verglichen und als „Kannibale von Schepdaal“ bezeichnet.
Die Vergleiche mit der belgischen Radsport-Ikone empfindet Evenepoel aber als wenig hilfreich und angemessen. Er wolle nicht „der nächste Merckx“ werden, beklagte er sich einmal: „Ich mag es nicht. Alles ist anders heutzutage, und kein Fahrer ist wie ein anderer. Ich bin nicht der neue Merckx, ich bin der neue Evenepoel.“ Merckx selbst hatte die Vergleiche mit provoziert, weil er sich zu einer nicht gerade hilfreichen Aussage hatte hinreißen lassen: „Er könnte besser sein als ich“, sagte der je fünfmalige Gewinner der Tour de France und des Giros: „Remco hat alle Qualitäten, um es zu schaffen.“ Experten trauen dem Youngster ebenfalls zu, auf Dauer Siege bei großen Rundfahrten einzufahren – ab 2024 dann auch bei der Tour de France.
Konkurrenz horcht auf
Dabei stieg Evenepoel erst im Alter von 17 Jahren komplett auf den Radsport um, bis dahin hatte er noch auf eine Karriere als Fußballer gehofft. Beim RSC Anderlecht und bei der PSV Eindhoven wurde der Belgier als Fußballer auf höchstem Niveau ausgebildet und als Linksverteidiger geschult. Evenepoel schaffte sogar den Sprung in die U17-Nationalmannschaft – und nicht nur das: Er stieg dort sogar zum Kapitän auf. Er war charakterstark, selbstbewusst und ambitioniert. Er war zwar verhältnismäßig klein, aber sein Körper war schon damals zu Außergewöhnlichem fähig. Bei ihm wurde eine ungewöhnlich hohe maximale Sauerstoffaufnahmefähigkeit gemessen, sein Ausdauervermögen war immens. Und es war auch der Grund für seinen Wechsel zum Radsport, nachdem es ihm im Fußball nicht schnell genug in die Weltspitze ging.
Auf dem Rad ging es für Evenepoel sofort steil bergauf. Er gewann 34 seiner ersten 44 Rennen und erstaunte die gesamte Szene. Vor allem sein Sieg bei der Junioren-Weltmeisterschaft in Innsbruck war ein Husarenritt, seine Alterskollegen konnten ihm nicht mal ansatzweise das Wasser reichen. „Er hat alle Erwartungen übertroffen“, sagt sein heutiger Teamchef Lefevere, „aber wir werden ihn dennoch geduldig und kontinuierlich entwickeln“.
Dazu zählen auch Rückschläge. Ein schwerer Sturz bei der Lombardei-Rundfahrt 2020 mit einem Beckenbruch zwang ihn zu einer neunmonatigen Pause, jetzt folgte der Rückzug beim Giro wegen Corona. Das Aus bei der Italien-Rundfahrt hatte eine historische Dimension: Das letzte Mal, dass der Träger des Rosa Trikots den Giro vorzeitig verließ, ist 24 Jahre her. Damals wurde Marco Pantani jedoch nicht von einer Krankheit dazu gezwungen, sondern von einem Hämatokritwert von über 50 Prozent – Schutzsperre. Merckx musste 1969 gar wegen einer positiven Dopingprobe den Giro frühzeitig als Führender beenden. Diese Parallele will Evenepoel aber unbedingt vermeiden.