Das Alltagsphänomen zählt noch immer zu den größten Geheimnissen des menschlichen Körpers. Es gibt diverse Theorien über Funktion und Auslöser. Wissenschaftlich gesichert scheint aber nur zu sein, dass Gähnen ansteckend ist und wohl etwas mit der Temperatur-Regulierung des Gehirns zu tun hat.
Schon vor rund 2.500 Jahren hat sich Hippokrates, sozusagen der Urvater der wissenschaftlichen Medizin, mit dem Kuriosum des menschlichen Gähnens beschäftigt. Dabei hat er den in der griechischen Mythologie wurzelnden Aberglauben, dass die Seele beim Gähnen den Körper verlassen und zu den Göttern des Olymps aufsteigen könne, verscheucht. Hippokrates These, wonach das Gähnen den Sauerstoffgehalt im Körper erhöhen könne, sollte erst 1987 vom US-Neuropsychologen Robert Provine von der University of Maryland widerlegt werden. Er führte ein Experiment durch, in dem 18 College-Probanden bei einer Luftzufuhr mit niedrigerem Sauerstoffanteil zwar schneller müde und auch zu schnellerem Atmen gezwungen wurden, aber im Vergleich zu einer Versuchsanordnung mit Bereitstellung von sauerstoffgesättigter Luft nicht öfter gähnen mussten.
Im Fachjargon Chasmologie genannt
Dank dieser bahnbrechenden Studie, die dem Gähnen endgültig seinen Status als Turbo-Atmen entzogen hatte, wurde Provine zum Pionier der Gähn-Forschung, die im Fachjargon als Chasmologie bezeichnet wird und an der Wissenschaftler aus unterschiedlichen Disziplinen wie Neurologie, Psychologie, Biologie oder Allgemeinmedizin beteiligt sind. Obwohl in der Chasmologie in den letzten Jahrzehnten eine ganze Reihe von Studienarbeiten veröffentlicht wurden, gilt das Gähnen wissenschaftlich noch immer als wenig erforscht. Das Thema ist aber nicht gerade an oberster Stelle der medizinischen Prioritätenliste angesiedelt, schließlich hat der angeborene Reflex für niemanden gesundheitliche Nachteile. Da neben dem Menschen auch viele Säugetiere und die meisten Wirbeltiere gähnen, darf man vermuten, dass Gähnen im Verlauf der Geschichte einen evolutionären Vorteil haben musste. Um welchen es sich dabei genau handelt, konnte bislang nicht mit letzter Gewissheit geklärt werden.
Gähnen wird allgemein in Zusammenhang mit Müdigkeit und Langeweile gesehen. Doch es gibt auch gänzlich andere Auslöser wie Stress, Angst, Aufregung oder Hunger. Durchschnittlich bis zu zehn Mal am Tag sperrt jeder Mensch seinen Mund weit auf und atmet unter Dehnung einer Vielzahl von Gesichtsmuskeln Luft zunächst tief ein und danach langsam wieder aus. Der Vorgang kann bis zu 6,5 Sekunden dauern und wird vor allem am Morgen häufig von Recken und Strecken begleitet. Im Laufe des Lebens können sich die Gähner auf bis zu 250.000 summieren, wobei auch schon Föten im Mutterleib ausgiebig ihr Mündchen aufzureißen pflegen. Gähnen in der Öffentlichkeit gilt als unfein und gesellschaftlich nicht salonfähig. Nur im stillen Kämmerlein kann man sich wohlig-genüsslich einem ausgiebigen Gähnen hingeben. Dabei werden nicht nur die Atemwege geweitet und die Gesichtsmuskeln gedehnt, sondern es kann auch ein Druckausgleich im Umfeld des Mittelohrs, ein Schub für die Blutzirkulation und womöglich auch noch für die Funktion anderer Organe wie dem Gehirn erfolgen. Beim Gähnen werden im menschlichen Gehirn Rezeptoren aktiv, die mit Dopamin arbeiten oder auf Opiate reagieren. Die heute gebräuchliche Umgangsform, eine Hand vor den Mund zu halten, ist übrigens aus der mittelalterlichen Vorstellung entstanden, dass Dämonen die Seele aus dem weit aufgerissenen Rachen entführen könnten.
Die Frequenz des Gähnens kann mit einer erhöhten Ausschüttung von Botenstoffen wie Serotonin oder Dopamin stimuliert werden. Eine erhöhte Freisetzung von Endorphinen hat dagegen ein Nachlassen des Reflexes zur Folge.
Um das Gähnen in unpassenden Momenten zu unterdrücken, kann man zu diversen Tricks greifen: Am bekanntesten ist das tiefe Einatmen durch die Nase, sobald sich ein Gähnen ankündigt, auch das kurze Tippen auf die Zungenspitze soll eine sichere Prophylaxe sein. Ebenso gilt das feste Zusammenpressen der Zähne, bei dem der Drang, tief Luft holen zu wollen, unterdrückt werden kann, als relativ sicheres Hausmittel. Allerdings sollte dabei über die Lippen weiter geatmet werden. Wenn zufällig zur Hand, kann in der Öffentlichkeit eine kurz an den Kopf gehaltene, kalte Trinkflasche den Gähn-Drang stoppen, auch ein paar Spritzer kaltes Wasser auf die Stirn können Wunder wirken. Negative gesundheitliche Folgen sind für das Unterdrücken des Gähnens nicht bekannt.
So weit, so gut. Damit sind aber die wissenschaftlich abgesicherten Erkenntnisse bezüglich des Gähnens fast gänzlich ausgeschöpft. Der „Spiegel“ hat es schon 2020 im Gegensatz zu ziemlich allen anderen Publikationen, die sich in unterschiedlichen, häufig als Wahrheiten verpackten Spekulationen über diverse Thesen zur Funktion des Gähnens ausgelassen hatten, ziemlich drastisch auf den Punkt gebracht: „Forscher haben in Experimenten verschiedene Vermutungen überprüft. Gähnen wir, um den Körper besser mit Sauerstoff zu versorgen? Macht es wacher? Kühlt das Ein- und Ausatmen mit weit aufgerissenem Mund das Gehirn? All das scheint nicht der Fall zu sein. Bislang konnten die Forschenden keine körperliche Funktion des Gähnens eindeutig dingfest machen. Dafür aber eine zwischenmenschliche: Gähnen ist ansteckend. Wer jemanden gähnen sieht, muss kurz darauf oft selbst den Mund aufreißen. Auch Affen und Hunden geht es so. Manchmal reicht es, sich das Gähnen vorzustellen – etwa, wenn man einen Text darüber liest. Je besser sich Menschen in andere einfühlen können, desto eher lassen sie sich auch vom Gähnen anstecken. Deshalb vermuten Wissenschaftler, dass das Gähnen vor allem der Kommunikation dient. Droht gerade keine Gefahr – ist es also langweilig und wir können uns entspannen? Vermutlich haben sich unsere Vorfahren das durch ein kräftiges ‚Uaaahh‘ mit weit aufgerissenem Mund mitgeteilt.“
Wachmacherfunktion erscheint plausibel
So trefflich-nüchtern der „Spiegel“ die Ungewissheiten bezüglich der tatsächlichen körperlichen Funktion des Gähnens auf den Punkt gebracht hat, so hat er sich doch im zweiten Teil seiner Analyse ebenfalls etwas auf spekulatives Eis begeben. Denn, so unbestritten in der Chasmologie der Ansteckungs-Effekt des Gähnens auch ist, so ist der vermeintlich für die Zusatzstimulation verantwortliche und immer wieder zitierte Faktor gegenseitiger Sympathie, Nähe oder gar Empathiefähigkeit, gar nicht so eindeutig geklärt. Die US-Genetikerin Liz Cirulli von der Duke University konnte in einer Studie mit 328 Probandinnen und Probanden die populäre Empathie-Hypothese, die seit einer Untersuchung der Universität Pisa mit 109 Erwachsenen weit verbreitet ist, entkräften. Zwei Drittel der Teilnehmer und Teilnehmerinnen konnten schließlich nach Betrachten eines kurzen Gähn-Videos auch ohne nähere Bekanntschaft mit den Darstellern die ansteckende Gähn-Wirkung unter Beweis stellen. „Ich hoffe“, so Cirulli, „das bedeutet, dass es etwas Genetisches ist.“ Die US-Wissenschaftlerin schlug daher eine genetische Abweichung als Ursache für die ansteckende Wirkung des Gähnens vor.
Empathie-Befürworter führen dagegen das Argument an, dass Kleinkinder unter vier Jahren oder auch autistische Menschen, bei denen das Einfühlungsvermögen noch nicht richtig ausgeprägt beziehungsweise nicht vorhanden ist, sich in der Regel überhaupt nicht zum Gähnen animieren lassen. Auch Tiere wie Schimpansen oder Löwen ahmen Gähnen nach. Sogar zwischen unterschiedlichen Arten kann Gähnen ansteckend sein, was in Versuchen zwischen Mensch und Hund bereits hinreichend nachgewiesen werden konnte: Denn das Haustier pflegt das Gähnen seines Herrchens oder Frauchens aufzugreifen und nachzuahmen. Gähnen sei daher ähnlich ansteckend wie Lächeln oder Stirnrunzeln, so die Schlussfolgerung von Forschenden der Emory University in Atlanta. Für den Nachahmungseffekt des Gähnens werden übrigens meist sogenannte Spiegelneuronen, spezielle Nervenzellen des Gehirns, verantwortlich gemacht.
Etwas überraschend mag die ebenfalls relativ populäre Hypothese der Wachmacher-Funktion des Gähnens sein. Das könnte gewissermaßen ein probates Mittel sein, um unser Gehirn in anstrengenden Situationen mit einem Hallo-Wach-Effekt anzustacheln. Wofür auch zu sprechen scheint, dass Menschen besonders häufig morgens nach dem Aufwachen, zur Mittagszeit und abends vor dem Schlafengehen gähnen. Funktioniert das Gähnen als eine Art Muntermacher? Vor allem auch in langweiligen Situationen, aus denen wir uns mit einem herzhaften Gähnen wieder herauskatapultieren möchten? Viele Chasmologen halten diesen Ansatz für richtig. Beispielsweise Prof. Ingo Fietze, Leiter des Interdisziplinären Schlafzentrums an der Berliner Charité, der das Gähnen als eine Art Weckruf des Körpers, verbunden mit einer Aktivierung des vegetativen Nervensystems, einstuft: „Man kann schon davon ausgehen, dass der Körper damit Müdigkeit bekämpfen will.“ Ähnlich sieht das Schlafforscher Jürgen Zulley, Professor für Biologische Psychologie an der Universität Regensburg: „Steigerung der Aufmerksamkeit ist der kleinste gemeinsame Nenner, wenn man den biologischen Zweck des Gähnens erklären will.“ Es gibt jedoch auch eine Studie des Schweizer Neurologen Prof. Adrian Guggisberg. Bei Versuchen mit Probanden, die in einer Dunkelkammer eingeschlossen zunehmend Langeweile verspürten, konnten keinerlei Veränderungen in der Hirnaktivität vor und nach dem Gähnen gemessen werden. Prof. Guggisbergs Fazit lautet daher, dass dem Gähnen keinerlei wachmachender Effekt zugeschrieben werden könne. Es tue dem Menschen körperlich gut, verbunden mit „einem Gefühl der Erleichterung“, wobei jedoch noch geklärt werden müsse, ob die entspannende Wirkung des Gähnens muskulär oder psychisch bedingt sei.
Weitgehende Einigkeit herrscht unter Chasmologen darüber, dem Gähnen eine soziale, zwischenmenschliche Funktion zuzuordnen. Auch wenn es unter den Experten recht verschiedene Meinungen gibt, was genau diese soziale Funktion sein soll. Als Beleg dafür wird die ansteckende Funktion des Gähnens ins Feld geführt. Prof. Guggisberg vermutet daher, dass das Gähnen hauptsächlich der Kommunikation dient, weil über alle Kulturkreise hinweg Menschen gemeinsam mit Artgenossen gähnen. „Das Signal, das Gähnen aussendet, wird immer erkannt“, so Prof. Guggisberg gegenüber der „Welt“. „Das merken wir sofort und intuitiv.“ Ein ethnologischer Ansatz rückt die Stimmungsübertragung und Synchronisation früher menschlicher Stammesverbände oder Sippen in den Fokus. Das gemeinsame Gähnen wird demzufolge als Kommunikationssignal interpretiert. Es könne eine Methode gewesen sein, um die Wachsamkeit gegenüber potenziellen Gefahren zu erhöhen oder durch das gleichzeitige Anzeigen von Müdigkeit das Gruppenzugehörigkeitsgefühl zu verstärken. Das könnte dann womöglich auch eine Erklärung für den evolutionären Vorteil des Gähnens sein. Laut dem US-Psychologen Prof. Andrew Gallup könnte das gemeinsame Gähnen in Urzeiten „Vorteile für das kollektive Bewusstsein und das Erkennen von Bedrohungen“ gehabt haben.
Überbleibsel aus evolutionären Zeiten
Auch die derzeit am höchsten gehandelte Hypothese zur körperlichen Funktion des Gähnens, die Regulierung der Hirntemperatur, wird dank Prof. Gallup als Überbleibsel unserer evolutionären Vergangenheit angesehen. Die gesamte frühzeitliche Gruppe könne durch das gemeinsame Gähnen einen erhöhten Aufmerksamkeitsstatus erhalten haben. Das menschliche Gehirn könne laut Prof. Gallup leicht überhitzen. Schon wenn die Temperatur des Gehirns gerade einmal um 0,1 Grad von der idealen Körperwärme von 37 Grad nach oben abweiche, könne sich die Reaktionszeit verlangsamen und die Gedächtnisleistung nachlassen. Prof. Gallup stellte die These auf, dass Blut, das ins Gehirn gelangt, nach dem Gähnen ein wenig kühler ist als das Gehirn selbst. In einer ersten Studie konnte Prof. Gallup ermitteln, dass Gähnen bei Menschen genau dann besonders ansteckend war, wenn ihnen Wärmepackungen an die Stirn gehalten wurden. Umgekehrt ließ der Reflex zum Mitgähnen deutlich nach, wenn die Stirn gekühlt worden war. Bei Versuchen mit Laborratten, denen Sensoren ins Gehirn implantiert wurden, konnte Prof. Gallup 2010 nachweisen, dass bei den Tieren ein verstärktes Gähnen einsetzte, nachdem ihre Gehirntemperatur um genau 0,1 Grad Celsius erhöht worden war. Durch das tierische Gähnen sank die Temperatur dann wieder ab. Gallup zufolge ist das menschliche Gehirn ähnlich empfindlich wie das der Ratten. Das durch das Gähnen verursachte Einatmen kühlerer Luft könne daher die Gehirntemperatur senken, nachdem zuvor das zum Gehirn hin fließende Blut abgekühlt worden sei.
Dass das Gähnen womöglich der Thermoregulation des Gehirns dienen könnte, konnte Prof. Gallup schließlich auch 2014 in einer Studie mit Probanden und Probandinnen aus Wien und der US-Stadt Tucson weiter untermauern. Dabei war auffällig, dass die Teilnehmenden im Sommer mehr gähnten, als im Winter. War die Außentemperatur zu niedrig oder zu hoch, wurde deutlich weniger gegähnt. Für die „Apotheken-Umschau“ besteht gemäß eines Artikels vom Mai 2023 kein Zweifel mehr daran, dass Gähnen „wie Stoßlüften im Oberstübchen“ ist. Prof. Gallups Thermoregulations-Hypothese könnte auch als Erklärung für das gehäufte Gähnen vor dem Einschlafen und Aufwachen dienen. Denn genau in diesen beiden Phasen durchläuft der Körper die größten Temperaturschwankungen.