Gleich zwei biologische Ursachen für den plötzlichen Kindstod haben unterschiedliche Forschungsteams innerhalb des vergangenen Jahres aufdecken können. Beide stehen in direktem Zusammenhang mit der Regulation von Atmung und Schlaf.
Auch wenn die Wahrscheinlichkeit, dass Eltern von einem Schicksalsschlag wie dem plötzlichen Kindstod betroffen sein könnten in Deutschland als vergleichsweise gering einzuschätzen ist, so bleibt das Horror-Szenario dennoch eine schreckliche Vorstellung. Das in der Fachsprache als Sudden Infant Death Syndrome (SIDS) bezeichnete Phänomen stellt auch die medizinische Forschung bereits seit Jahrzehnten vor zahlreiche Rätsel. Statt fundierter biologischer Ursachenaufklärung lagen größtenteils nur Spekulationen über mögliche Risikofaktoren vor. Immerhin konnte die Zahl der verstorbenen Säuglinge dank nützlicher, prophylaktischen Charakter tragenden Ratschläge, die den Eltern inzwischen schon im Krankenhaus im Anschluss an die Entbindung auf den Weg nach Hause mitgegeben werden, in beträchtlichem Maße gesenkt werden.
Lag der entsprechende Wert Ende der 1980er-Jahre hierzulande noch bei über 1.000 Kindern pro Jahr, so sind im Jahr 2020 noch 84 Säuglinge infolge von SIDS verstorben. Laut Angaben der AOK stellt sich dieser traurige Fall bei einem von 2.000 Kindern ein, anderen Quellen zufolge bei einem von 5.000 Kindern, wobei Jungen mit etwa 60 Prozent der Fälle etwas häufiger betroffen sind als Mädchen. Per Definition handelt es sich beim plötzlichen Kindstod um ein üblicherweise während des Schlafes auftretendes, unerwartetes und von keinen ersichtlichen Ursachen begleitetes Versterben eines scheinbar rundum gesunden Babys im Alter von maximal einem Jahr. Die Mehrzahl der Fälle tritt dabei zwischen dem zweiten und vierten Lebensmonat auf. Je älter der Säugling wird, desto mehr sinkt das Risiko, das nach Vollendung des ersten Lebensjahres gleichsam gen Null tendiert. Rund 80 Prozent der Fälle lassen sich den ersten sechs Lebensmonaten zuordnen.
Schon seit geraumer Zeit werden in der Forschung Vermutungen verlautet, dass es mehrere biologische Ursachen für SIDS geben könnte. Dabei wurde insbesondere über ein nicht ausreichend ausgebildetes Atemsystem, eine mögliche Atemstörung oder über einen Defekt im Prozess der Erweckbarkeit des Babys diskutiert. Auch eine Beteiligung bestimmter Viren am Zustandekommen von SIDS, sogenannte Enteroviren, die für die Ausbildung einer Herzmuskelentzündung oder von Herzrhythmusstörungen verantwortlich sein können, wurde wissenschaftlich erwogen. Doch da es für all diese Hypothesen keine gesicherten Studienbelege gab, wurde der Fokus ganz gezielt in die Richtung einiger wesentlicher Risikofaktoren gelenkt, die von den Eltern zum Wohle ihres Kindes in Eigenverantwortung beeinflusst werden können.
Da die Mehrzahl der an SIDS verstorbenen Babys auf dem Bauch liegend aufgefunden wurde, gilt die Bauchlage während des Schlafes gemeinhin als Hauptrisikofaktor. Die Säuglinge nehmen in dieser Position, die sie selbst noch nicht durch Drehung auf den Rücken verändern können, häufig ihre eigene ausgeatmete Luft wieder auf. Der Körper wird daher schlechter mit Sauerstoff versorgt und wegen der sogenannten Rückatmung wird die Fähigkeit zum Aufwachen beeinträchtigt. Das Einbetten des Babys in einem Schlafsack mit einem eng anliegenden Oberteil und einem geräumigen unteren Bereich für die Beine wird zur Gewährleistung der Rückenlage empfohlen, von der Verwendung von Bettdecken, die leicht über den Kopf geraten und das Atmen beeinträchtigen können, wird ebenso abgeraten wie von zu weichen oder zu tiefen Matratzen. Dem Aufstellen des Kinderbetts im Elternschlafzimmer werden rundum positive Aspekte zugeschrieben – Stofftiere oder Kissen rund um das Köpfchen haben im Kinderbett während der Ruhephase nichts zu suchen. Die gleichmäßigen Atemgeräusche der Erwachsenen können die Atemregulation des Babys befördern und etwaige Atem-Unregelmäßigkeiten des schlafenden Säuglings können von den Eltern schneller erkannt werden.
Inkorrekt ablaufende Vorgänge im Gehirn
Neben dem Schlafen in Bauchlage gelten das Rauchen und eine Überwärmung als die beiden anderen wesentlichen Risikofaktoren für SIDS, was zur Formulierung der sogenannten Drei-R-Faustregel geführt hat: „Rückenlage – Rauchfrei – Richtig gebettet“. 16 bis 18 Grad Celsius werden als optimale Raumtemperatur für ein schlafendes Baby angesehen, um eine Überwärmung und dadurch womöglich eine Beeinträchtigung der Herz-Kreislauf-Regulation vermeiden zu können. Experten gehen davon aus, dass das Risiko für einen plötzlichen Kindstod deutlich reduziert werden kann, wenn das Baby in einem rauchfreien Zuhause aufwächst. Auch dem Stillen des Säuglings wird eine prophylaktische Wirkung zugesprochen. Das könnte daran liegen, dass Stillkinder im Vergleich zu Flaschenkindern einen weniger tiefen Schlaf haben sollen, der sie bei Störungen in der Sauerstoffaufnahme oder bei Überwärmung leichter aufwachen lässt. Auch das Absolvieren der empfohlenen Regelimpfungen konnte in Studien mit einer Reduzierung des SIDS-Risikos in Zusammenhang gebracht werden.
Im Laufe des vergangenen Jahres wurden nun gleich zwei aufsehenerregende Untersuchungen veröffentlicht, in denen erstmals zwei mögliche biologische Ursachen des plötzlichen Kindstods aufgezeigt werden konnten. Diese könnten trauernden Eltern künftig Selbstvorwürfe womöglich ersparen. Die Untersuchungen zeigten, dass jeweils nicht korrekt ablaufende Vorgänge im Gehirn des Babys die entscheidende Rolle zu spielen scheinen. Im vergangenen Jahr hatte die Biochemikerin Carmel Therese Harrington vom The Children’s Hospital Westmead in Sydney, die selbst ein Baby infolge von SIDS verloren hatte, den Mangel eines bestimmten Enzyms namens Butyrylcholinesterase (BChE) im Baby-Gehirn als einen möglichen Auslöser des plötzlichen Kindstods entdeckt. Da dieses Enzym elementar für die Kommunikation im Gehirn ist, könnte eine unzureichende Menge extrem negative Auswirkungen auf den Erregungsweg zwischen Atmung und Schlaf haben. Sprich, das Baby kann nicht automatisch aufwachen, sobald die Atmung aussetzt.
Für seine Forschungen, deren Studienergebnisse in „The Lancet eBioMedicine“ veröffentlicht wurden, hatte das Team um Carmel Harrington die im Rahmen des Neugeborenen-Screening-Programms entnommenen Blutproben von 60 später am plötzlichen Kindstod verstorbenen Säuglingen analysiert und mit Blutproben von gesunden Babys verglichen. Dabei stellte sich heraus, dass die Aktivität des Enzyms BChE bei den vom plötzlichen Kindstod betroffenen Säuglingen in deutlichem Maße verringert war. Daraus zogen die Forscherinnen und Forscher die Schlussfolgerung, dass ein BChE-Mangel im Gehirn von Säuglingen zu verlängerten sogenannten Apnoes (Atemaussetzern) während des Schlafes und dadurch schlimmstenfalls zum Tod führen könne. Damit konnte eine frühere Vermutung der Wissenschaft, dass eine Störung des Weckmechanismus im Gehirn eine der wichtigsten Ursachen für SIDS sein könnte, bestätigt werden. Nur dass es sich dabei nicht um einen Defekt, sondern um einen Enzym-Mangel zu handeln scheint. Sollte sich dieses Studienergebnis durch weitere Forschungen untermauern lassen, könnten in Zukunft viele Leben gerettet werden. Es würde sich dann die Möglichkeit eröffnen, das Enzym BChE als Biomarker zu nutzen, um ein mögliches Risiko für einen plötzlichen Kindstod bei Säuglingen frühzeitig ermitteln zu können. Harrington und ihr Team arbeiten jedenfalls schon an der Entwicklung eines entsprechenden Screenings.
Bald Screening-Test für Neugeborene?
Jüngst hat nun ein Forschungsteam des Boston Children’s Hospital unter Leitung der Biochemikerin Dr. Robin Hayes eine zweite mögliche Ursache für den plötzlichen Kindstod entdeckt, nämlich eine Anomalie im Säuglings-Gehirn, und seine Erkenntnisse im vergangenen Mai im Fachmagazin „Journal of Neuropathology & Experimental Neurology“ publiziert. Demnach hatte der sogenannte Serotonin-2A/C-Rezeptor, der laut den Wissenschaftlern eine wichtige Rolle für die Regulierung der Atmung während des Schlafes spielt, bei an SIDS verstorbenen Säuglingen eine Veränderung aufgewiesen. Für ihre Untersuchungen hatte das Team Gewebeproben aus dem Hirnstamm von 70 zwischen 2004 und 2011 an SIDS verstorbenen Babys untersucht und die Ergebnisse mit Proben von Säuglingen verglichen, die ihr Leben wegen anderer Ursachen verloren hatten. Bei 58 der 70 SIDS-Gewebeproben konnten die Wissenschaftler Veränderungen an dem genannten Rezeptor nachweisen. Diese Anomalie habe zur Folge, dass Serotonin, als Gewebshormon ein wichtiger Botenstoff und Neurotransmitter, nur noch in verringertem Maße im Gehirn gebunden werden könne. Was laut den Forschenden dazu führen könne, dass das Gehirn auf Sauerstoffmangel im Schlaf nicht mehr mit Aufwachen reagieren kann. Frühere Studien mit Nagetieren hatten den Nachweis geliefert, dass der Serotonin-2A/C-Rezeptor im Gehirn am Prozess des Wachwerdens bei Sauerstoffmangel ganz entscheidend beteiligt ist. „Bei Nagetieren trägt die Aktivierung des Rezeptors zum Wachwerden und zur Atemkontrolle bei, und dies schützt das Gehirn vor Sauerstoffmangel im Schlaf“, so das Forschungsteam.
Eine Anomalie des Rezeptors könne daher laut den Wissenschaftlern diesen Schutzmechanismus des Gehirns schwächen oder sogar gänzlich zum Erliegen bringen. Wie die Rezeptor-Anomalie mit dem plötzlichen Aussetzen der Atmung bei Säuglingen genau zusammenhängt, müsse allerdings noch in weiteren Arbeiten untersucht werden, so die Forschenden. Und bislang könne die Anomalie auch nur in Gewebeproben von verstorbenen Säuglingen festgestellt werden, nicht aber präventiv am lebenden Kind. „Im Moment haben wir noch keine Möglichkeit, Kinder mit solchen biologischen Anomalien im Serotoninsystem zu erkennen“, so Dr. Hayes. Daher rät sie Eltern dringend zur Befolgung der bekannten Drei-R-Faustregel, um die kritische Phase der Herz-Lungen-Entwicklung und der Ausbildung des Atemkontroll-Systems ihres Nachwuchses während des ersten Lebensjahres meistern zu können. „Obwohl wir Anomalien am Serotonin-2A/C-Rezeptor bei SIDS festgestellt haben“, so die Forschenden, „bleibt die Verbindung zwischen diesen Unregelmäßigkeiten und der Todesursache unklar. Es besteht noch erheblicher Forschungsbedarf, um die Auswirkungen dieser Rezeptor-Anomalien im Kontext eines größeren Netzwerks aus Serotonin- und Nicht-Serotonin-Rezeptoren zu bestimmen, die lebenswichtige Funktionen in der Herz- und Atemsteuerung bei Belastungen schützen.“