Die Autorin Julia Schoch hielt auf Einladung des saarländischen Bildungsministeriums, des Saarländischen Rundfunks und der Peter und Luise Hager-Stiftung die „Rede an die Abiturient*innen 2023“. FORUM druckt mit freundlicher Genehmigung einen Auszug.
Erst lange nach meiner Schulzeit ist mir etwas klargeworden: Nur wenige Dinge, von denen ich in meiner Kindheit und Jugend angenommen hatte, dass sie einmal wichtig werden würden, waren in meinem Leben danach wirklich von Belang. Vieles ist anders gekommen, kaum etwas von dem Gelernten war zu gebrauchen. Gebrauchen konnte ich später aber Erinnerungen an Situationen, Sätze, Erlebnisse, die zwischen Menschen stattgefunden hatten und die mir bis heute im Gedächtnis geblieben sind. Dinge, die ich selbst erfahren musste und die sich nicht hätten abkürzen lassen, indem man sie erzählt bekommt. Sie haben mich etwas gelehrt – allerdings auf eine diffuse, nicht ganz nachvollziehbare Weise, also so, wie wir meistens etwas lernen.
„Der Schreck über meinen Wagemut“
Die Erkenntnis ist immer eine nachgereichte. Zum Beispiel, dass unser Einfluss begrenzt ist und der Fortgang der Geschichte von vielerlei Faktoren abhängt. Nur selten jedenfalls ist wirklich unser Wille entscheidend. Manchmal gibt sich der Zufall sogar ganz deutlich zu erkennen. Noch ein Vorkommnis aus meiner Zeit als Schülerin führt mir das vor Augen. Es war in der elften Klasse, als die Sekretärin unserer Schule unverhofft in die Unterrichtsstunde gestürmt kam. Einer von uns dürfe in die USA, verkündete sie, ein Jahr an einer High School verbringen, das Angebot werde komplett bezahlt. Die einzige Bedingung: Sie müsse den Namen gleich wissen, jetzt, sofort – nein, es sei keine Zeit, um die Eltern zu fragen. (Zur Erinnerung: Es war das Jahrhundert, in dem es noch keine Handys gab.) Sie blickte in die Runde: Also, wer fährt? Sieben von uns, darunter ich, beschlossen zu losen. Wir waren bereit, ohne großes Überlegen den Zufall über unsere Zukunft entscheiden zu lassen.
Der Schreck über meinen Wagemut, der vielleicht nur Gedankenlosigkeit war, kam mir erst viel später, Jahre danach.
Manchmal denke ich daran. Wäre das Los mit meinem Namen gezogen worden, wäre ich gefahren. Und dann? Keine Ahnung, aber so viel steht fest: Mein Leben wäre anders verlaufen, ganz sicher. Natürlich hätte ich mich unsterblich verliebt, dort, in Kentucky oder Ohio oder was weiß ich, wohin die Reise gehen sollte. Und dann, später, wäre ich vermutlich immer mal wieder dorthin zurückgekehrt, hätte vielleicht sogar dort studiert, zumindest aber „irgendwas mit Englisch“ gemacht nach dem Ende meiner Schulzeit. Man kann den Faden noch länger spinnen. Hätte ich also nicht – eher aus einer Ratlosigkeit heraus – Romanistik studiert, wäre ich meinem späteren Mann nicht begegnet, und unsere Kinder wären nie geboren worden. Sogar diese Rede wäre eine komplett andere geworden, wenn es überhaupt dazu gekommen wäre, dass ich sie gehalten hätte.

Solche Gedankenspiele sind leicht furchteinflößend. Allerdings nur, wenn wir uns einbilden, da wäre ein anderer Weg gewesen, ein besserer, und unser wirkliches Leben wäre nur eine matte Abweichung davon. Dann nehmen wir jedes Straucheln, jede unvorhergesehene Wegbiegung als ein Unglück wahr. „Ist unser aktuelles Leben womöglich nur eine lausige Variante?“, fragen wir uns. Hätten unsere Entscheidungen besser ausfallen können? Das sind Fragen, die müßig sind. Das Einzige, das ich Ihnen mit Gewissheit sagen kann, ist: Wir haben nur wenige Dinge in der Hand.
Sollten wir – und das heißt am heutigen Tag: sollten Sie – also besser keine Pläne machen? Doch! Machen Sie Pläne, nehmen Sie sich ruhig etwas vor, basteln Sie meinetwegen sogar an der großen, menschheitsumspannenden Utopie, nur gehen Sie nicht gleich unter, wenn nichts draus wird. Und mit „untergehen“ meine ich: sich verhärten, sich abschotten und verschanzen, verbittern, grollen, verzweifeln, sich selbst verletzen oder auf andere losgehen. Das alles sind ja nur Spielarten von Reaktionen, mit denen wir auf Enttäuschungen reagieren. Und enttäuscht sind wir alle wahnsinnig schnell. Wir bilden uns etwas ein, malen uns etwas aus, wir erhoffen und verlangen etwas, von uns selbst, von den anderen, vom Leben insgesamt. Meistens, weil es uns eingeflüstert wird. Und dann, wenn das Gewünschte nicht eintritt, hadern wir.
Sie dürfen damit rechnen, dass es auch in Ihrem Leben anders kommt, als Sie es sich im Moment denken oder es Ihnen weisgemacht wird.
Der Volksmund hat dafür bekanntlich die schöne Sentenz geprägt: „Und erstens kommt es anders, und zweitens als man denkt.“
Jetzt wissen Sie Bescheid. Ich bitte Sie nur um Folgendes: Wenn es passiert, erstarren Sie nicht, klammern Sie sich nicht an Muster, nur weil es vertraute Muster sind, geraten Sie auch nicht in Panik, und lassen Sie sich bloß nicht verführen von denen, die angesichts von Veränderungen immer sofort in einen geifernden Erklärungsrausch verfallen, nur um die eigenen Ängste in den Griff zu bekommen (ganz im Gegensatz zu Ihnen, die dann vollkommen gelassen und souverän sagen könnten: Also, mich haut nichts um, ich habe es immer schon gewusst, spätestens seit der Rede an die Abiturienten 2023!).
Das Leben ist nicht kompliziert, es ist banal. Das klingt nicht besonders sexy, ich weiß. Ich verstehe, dass es verführerischer ist, sich etwas anderes erzählen zu lassen. Es ist verführerisch, unsere banale Existenz aufzuwerten durch irgendwelche abstrusen Argumentationen. Wer von geheimen Mächten träumt, dem erscheint das Leben gleich viel sinnvoller und bedeutsamer, denn er oder sie steht ja inmitten von undurchdringlichen Entscheidungen und Prozessen. Solch ein Standpunkt wertet jedes Leben auf. Wer sieht sich nicht gern im Zentrum übermenschlicher, wenn auch verrätselter Geschicke?
„Nutzen Sie Ihre Vorstellungskraft“
Allerdings ist dieses Leben allein dadurch, dass man um seine Banalität weiß, nicht automatisch leichter zu ertragen. Schließlich liegt genug Schlimmes in der Luft beziehungsweise befindet sich bereits im Landeanflug. Ich setze jetzt mal voraus, dass es Ihnen auch so geht. Wir alle empfinden uns beständig wie kurz vorm Wegbrechen. Umwelt- und Klimakrise, Atomwaffen, Krieg, Fanatismus, der Mangel an Ressourcen. Die Welt, wie wir sie kennen, wird bald nicht mehr existieren, der Mensch als Gattung schafft sich selbst ab! Das sind die Gefahren, die als permanente Drohung über uns schweben. Gleichzeitig scheinen die Drohungen nicht so recht zu verfangen. So ähnlich wie bei Kindern, die man mit Geschrei zur Vernunft zu bringen versucht. Je länger und lauter das Geschrei, desto sicherer schalten wir irgendwann ab. Wir blenden es einfach aus und ziehen uns in uns zurück. So entsteht eine Welt des Draußen und Drinnen. Draußen tobt scheinbar ein ewiger Sturm. Und wer ein Drinnen gefunden hat, das halbwegs überschaubar und stabil ist, schätzt sich froh. Für die meisten geht es darum, sich die eigene kleine Insel der Glückseligkeit zu erschaffen, das heißt: halbwegs gut durchzukommen, seine eigene Haut zu retten, die Schäfchen ins Trockene zu bringen. Vielleicht empfinden Sie das ja bereits auch schon so. Das Gewebe namens „Gesellschaft“ ist schon lange keins mehr. Vielmehr haben wir es mit einzelnen Fetzen zu tun, die keinen wirklichen Halt bieten. In dieser Welt bewegen wir uns, mehr oder weniger gewandt, mehr oder weniger verzweifelt.
Eigentlich merkwürdig, dass in dieser Situation, die doch überall nach Veränderung, nach einem Umdenken schreit, die Angst vor Veränderungen hierzulande das vorherrschende Lebensgefühl zu sein scheint.
Es liegt an uns, das zu ändern. An Ihnen. Nehmen Sie die Gegenwart und das, was über sie gesagt wird, nicht als das Nonplusultra, nicht als das Unveränderliche hin – einfach bloß, weil es Ihnen vertraut ist. Nutzen Sie Ihre Vorstellungskraft. Wenn ohnehin alles Mögliche von heute auf morgen passieren kann, lauter Dinge, die unübersichtlich, nicht recht planbar sind, warum sich dann nicht eine Vorstellung davon machen, was noch alles möglich wäre, und es versuchen? Das Vertraute anders zu denken, es anders anzugehen, ist das Einzige, was uns wirklich am Leben hält. Nur dann fühlen wir uns lebendig.