Usedom ist nicht nur wegen der wunderbaren Natur eine Reise wert. Auch Kunstfreunde kommen auf ihre Kosten. In Lüttenort wird das Erbe des bekanntesten Malers der Ostseeregion, Otto Niemeyer-Holstein, bewahrt. Besucher tauchen in einen besonderen Kosmos ein.
Nur 300 Meter trennen Ostsee und Achterwasser an einer besonderen Stelle. Zwischen Koserow und Zempin dümpeln Segelboote in der kleinen, von Schilf umkettelten Marina vor der Landbrücke. Hin und wieder gleitet ein Kanu durch die spiegelglatte Wassernaht wo der Peene-Fluss in die Lagune zuströmt. Wie eine sich rekelnde Katze schmiegt sie sich an das Ufer von „Lüttenort“ – die schmalste Stelle der Insel Usedom.
Eine Naturbühne für Kunst
Der „kleine Ort“ beherbergt ein großes Vermächtnis. Der wohl bekannteste Maler der Ostseeregion, Otto Niemeyer-Holstein (1896–1984) – von Ortsansässigen auch pragmatisch-liebevoll als ONH abgekürzt – lebte und arbeitete fast fünf Jahrzehnte hier. Zunächst als Sommer- und Wochenendresidenz, später als politische Enklave und Schutzraum vor den Nazis, hat er sich hier ein Refugium erschaffen, in dem Natur auf Kunst trifft. Es ist ein Ort der Entschleunigung. Es lohnt sich, sich die Zeit zu nehmen, um sich auf den Kosmos des Künstlers einzulassen. Die Eintrittsschleuse ins Reich des ONH ist der angrenzende Museumsgarten und Skulpturenpark, den „Passanten“ zu Rad, Fuß oder Wasser auf dem Weg über den schmalen Landstrich zwischen Meer und Lagune entdecken können. Geschützt von einem flachen Mauerwerk gibt das Areal den Blick in eine Parallelwelt frei: Unter dem schützenden Blätterdach der hochwüchsigen Pappeln und schattigen Eichen liegen, knien, schlafen oder stehen Skulpturen aus Marmor, Zementguss, Sandstein oder Bronze im Gras oder unter schattigen Bäumen. Die Plastiken sind Zeugen von Otto Niemeyer-Holsteins großem Freundeskreis, unter denen viele bekannte Bildhauer der Zwischenkriegszeit zu finden sind. Holstein selbst war kein Skulpteur. Erst beim zweiten Blick begreift man das verklärt wirkende Gartenareal als eine gut durchdachte Freiluftgalerie aus offenen, sich begegnenden Achsen. Dieser dicht begrünte Ort, in der die Zeit keine Zeiger besitzt, wurde erst über viele Jahrzehnte zu einer Naturbühne für Kunst.
Vor 90 Jahren erwarb der Visionär das 5.000 Quadratmeter große „Ödland ohne Vegetation“. Auf seinen Reisen durch Europa hatte er sich immer wieder Gärten angesehen. Durch Kompostierungen mit haufenweise Pferdeäpfeln und Kalk gelang es ihm, das vom Salz des Meerwassers durch eine Sturmflut verwüstete Niemandsland zu dieser Freilicht-Kunstoase zu transformieren. Heute ist das seit 1933 historisch gewachsene Ensemble von Wohnhaus, Atelier und Garten ein nahbar erlebbares „Personalmuseum“ und in dieser Form ein einmaliges Kleinod der Region Mecklenburg-Vorpommern. Holstein hatte der Region Usedom zu seinem Tod 1985 sein Lebenswerk hinterlassen, damit Besucher sein auf Staffelei und Papier gebrachtes Inneres nachvollziehen und seinen Lebensraum als sein Alter Ego begreifen können.
1925 war der in Kiel geborene Künstler nach Lebensstationen in ganz Europa nach Berlin gezogen. Auf der Suche nach einer temporären Bleibe in der Natur hatte er die Landscholle bereits 1928 mit seiner Frau Anneliese auf einem Segelausflug entdeckt. Ein von ihr gepflückter Wiesenstrauß soll sein Impuls gewesen sein. Vielleicht führt auch deswegen vom Eingangstor ein Laubengang so direkt zu einer weißen Stuhlgruppe mit Tisch und Wildblumenbouquet, der wirkt, als würde er schon immer dort stehen. Die Urzelle seines Wohnhauses bildet ein ausrangierter Packwagen der Berliner Stadtbahn, den Otto Niemeyer-Holstein 1933 als Sommerunterkunft nach Lüttenort bugsiert hatte. Später bildet der Waggon das Verbindungsstück zwischen Garten und Wohnbereich. Das Interieur ist wie ein zusammengewürfeltes atmosphärisches Patchwork. Man könnte meinen, in Italien, Frankreich, Spanien, Großbritannien, der Schweiz und Berlin gleichzeitig zu sein. Von all seinen Reisen und Lebensstationen hatte der umtriebige (Lebens-)Künstler Möbel und Artefakte mitgebracht. Bevor Lüttenort seine Lebens- und Wirkungsstätte, aber auch sein Zufluchtsort und ein Ort zum Ankommen werden sollte, war sein Leben selbst wie eine Galerie bewegender Erlebnisse.
Mit 17 Jahren musste er an die Front
Lange war er auf der Flucht vor den Erinnerungen an den Ersten Weltkrieg. Bereits mit 17 Jahren wurde er von der Schulbank weg an die Front eingezogen und landete mit psychischen Traumata in einem Sanatorium im Engadin. Aus Langeweile begann er dort, schwarz-weiß-schraffierte Postkartenmotive zu zeichnen und man entdeckte sein Talent. Erste Aufträge folgten. Holstein pflegte sein ganzes Leben viele Freundschaften mit gleichgesinnten Künstlern der Kriegsjahre, die wie er zur „verlorenen Generation“ der Künstler gehörten, die durch zwei Weltkriege gingen. Viele Maler, Bildhauer, Musiker und Komponisten konnten ihre Talente nie richtig ausleben oder wurden erst postum bekannt. Der Expressionismus und die neue Sachlichkeit – Stilrichtungen des frühen 20. Jahrhunderts – beeinflussten Holstein wesentlich, als fände er einen inneren Halt in dieser greifbaren Kunstform. An die 5.000 Werke sind vom Künstler gelistet – darunter 3.000 Gemälde, 1.000 Aquarelle, 1.000 Zeichnungen und Druckgrafiken, Lithografien und Radierungen, von denen die meisten in privatem Besitz oder weltweit verstreut sind. Ein Drittel befindet sich in 60 Museen in Deutschland und der Schweiz. Vor allem in seinen letzten Lebensjahren erfuhr der Künstler große Anerkennung als Teil von vielen Ausstellungen, nachdem er in den 30er-Jahren „als entarteter Künstler“ systemisch und zeitkontextuell gedemütigt und entmündigt wurde.
Es wirkt, als wäre der Künstler nur kurz weg
Zum Nachlass in Lüttenort gehörten auch die architektonischen Pläne für den 2001 fertiggestellten Galerie-Anbau. Der gläserne, weiß eingefasste moderne Gebäudekubus mit seinem galerieartigen Museum sollte nur der lichtdurchflutete Rahmen für Bilder sein. In den zweimal jährlich wechselnden Ausstellungen wird der museumseigene Fundus seiner Werke, wie auch der von etwa 200 befreundeten Zeitgenossen der „klassischen Moderne“ gezeigt. Die Künstler haben ihre Arbeiten untereinander getauscht oder verschenkt. Auch viele regionale Motive von der Insel bringen das Außen ins Innere der transparenten Galerieräume. Der Museumsgarten zeugt von einer stillen Zeitlosigkeit. Es lohnt sich, sich die Zeit zu nehmen, um sich auf den Kosmos des Künstlers einzulassen, der immer noch präsent zu sein scheint. Es ist so, als ob er nur mal kurz zum Strand gegangen ist, dessen jahreszeitliche Stimmungsbilder er in fünf Jahrzehnten mit seinem Skizzenhandbuch eingefangen hat.
Das Museum und Atelier von OHN soll den eigenen Blick für den Wegesrand der Besucher schärfen, so sein Wunsch. In der Natur gleicht nunmal kein Tag dem anderen. Sie wird von Wind, Regen, Sonne oder Schnee täglich aufs Neue moduliert. Holstein faszinierte die Grenzwelt zwischen Land und Meer, Salz- und Süßwasser, Deichen und Buhnen: „Wenn ich Schritt für Schritt über den Deich gehe, baut sich in mir eine große Spannung auf, mit jedem Schritt kommt etwas Neues in mein Blickfeld – erst der Horizont, dann der Übergang zum Wasser, das Meer mit seinen Farben, die Düne und der Strand – meine größte Geliebte, sie hat mich nie enttäuscht“, so der Künstler, der nicht müde von seinen täglichen Gängen zwischen Achterwasser und Ostsee wurde und auch nicht davon, die grafische Anordnung der Pfähle, die Farben der Steine, den grobkörnigen Sand des Achterwassers oder den Strand auf der Halbinsel Gnitz mit feinen Pinselstrichen immer wieder aufs Papier zu bannen. Kein Blatt, keine neue Spur in Sand und Schnee gingen ihm verloren.
Der winterliche Strand mit seinem matten, vibrierenden Licht, das sich mit dem Wind in den Schilfhalmen verfängt, hatte es ihm in seinen letzten Lebensjahren besonders angetan. Jeder Gang durch Lüttenort, so hat er es beschrieben, eröffnete ihm bei jedem Licht und jeder jahreszeitlichen Stimmung eine neue Dimension und einen Blick auf sein sich dort spiegelndes Leben. An Lüttenort – Usedoms schmalster Stelle – war er nach vielen Reisen endlich bei sich angekommen.