„Stegreif – The Improvising Symphony Orchestra“ geht neue Wege und wird dafür ausgezeichnet. Das junge Orchester zeige Mut zur Utopie, heißt es bei der Preisverleihung.
Es ist eine noch ungewohnte Klangperformance. Aber vielleicht liegt im Auftritt des Stegreif Orchesters die Zukunft der sinfonischen Musik. Wenn sich bis zu 30 Musikerinnen und Musiker durch den Raum bewegen und „rekomponierte“ Klassik vortragen, werden die Hörgewohnheiten des Publikums auf die Probe gestellt. Improvisation spielt eine große Rolle, doch das Ensemble hat zuvor tagelang geprobt. Die Ausführenden mischen sich mit den Zuhörenden. Das setzt großes Können bei gleichzeitiger Wachsamkeit voraus. Oder Achtsamkeit, wie man heutzutage so oft sagt. Fakt ist, die jungen Musizierenden haben konventionelle Hochschulausbildungen genossen – wollen aber die tradierten Konzertformen durchbrechen, damit das Publikum die Werke neu hören und genießen kann.
Radikale Rekonstruktionen
„Stegreif – The Improvising Symphony Orchestra“ spielt ohne Noten und ohne Dirigenten. Ihre freien Bearbeitungen sinfonischer Musik nennen sie Rekomposition. Einige Orchestermitglieder haben eine Jazz-Ausbildung und sind mit Improvisation vertraut. Für andere ist die kollektive Arbeit ein regelrechter Befreiungsschlag. Immanuel de Gilde, Jahrgang 1991, ist selbst Geiger, im Stegreif Orchester jedoch Projektleiter. Er kennt die Reaktionen von neuen Mitgliedern, die das Zusammenspiel zum ersten Mal ausprobieren. „Oft sagen sie: Wahnsinn, wir wussten gar nicht, dass es so etwas gibt.“ Das elitäre Ausbildungs- und Aufführungssystem funktioniert für ihn nicht mehr. Manche Neueinsteiger kämen mit regelrechten Wettbewerbstraumata. Sie bewerben sich für eine Position bei Stegreif und werden aufgrund ihrer Vorkenntnisse eingeladen. Das übliche Vorspiel gibt es nicht, sie werden auf einer gemeinsamen Probe gleich ins kalte Wasser geworfen und müssen schwimmen. Mit ihrem Instrument.
In der konventionellen Instrumentalausbildung an den Hochschulen ist das nicht vorgesehen. „Wir schätzen das musikalische Erbe“, sagt Immanuel de Gilde, der selbst aus einer musikalischen Familie stammt. „Aber unsere radikalen Rekompositionen sollen es zukunftsfähig verwandeln und mit zeitgenössischen Strömungen erweitern.“ So innovativ der Zugang zur Musik ist, so neu gedacht wird auch die Aufführungspraxis.
Auch bei den Proben, die wie gewohnt nach Tagesplänen und Stimmgruppen organisiert sind, hat das Orchester eigene Formate für sich eingeführt. Effizienz sei bei so einem basisdemokratisch arbeitenden „wilden Haufen“ (de Gilde) entscheidend: „Wir achten auf Pausen und auf nicht zu lange Probentage.“ Stegreif wendet dazu die Methode der Stille an. „Wenn eine Person das Gefühl hat, es ist nicht mehr effektiv oder es ist zu viel Information, legen wir 20, 30 Sekunden Stille ein.“ Ob man sich dann auf den Boden lege oder ins Handy schaue, könne jeder selbst entscheiden.
Aktuell bereitet das Orchester mit den künstlerischen Leitern Juri de Marco und Lorenz Blaumer den Abschluss eines zweijährigen Projekts vor. Es heisst #bechange – 17 Klänge der Nachhaltigkeit. Die Produktion wird von der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien, Staatsministerin Claudia Roth, gefördert. Die Idee hinter der „Symphony of Change“ ist die Frage, welche Rolle die Musik bei der ökologischen Transformation spielen kann. Oder: Wie klingt Nachhaltigkeit? Die Rekomponistinnen von Stegreif näherten sich dem Thema in vier Schritten: „Awakening – Feeling – Thinking – Acting“. Zur Inspiration wurden 16 Workshops in 16 Bundesländern durchgeführt.
Die bis zu 25 Teilnehmenden probierten aus, wie Wasser klingt oder Energie sich entfaltet. Als weitere Aufgabenstellung beschäftigte man sich mit Chancengleichheit und den Nachhaltigkeitsthemen, die den Menschen am jeweiligen Workshop-Ort wichtig waren. Das Orchester ging in Konzertsäle, Jugendclubs und auf Festivals. Dabei entstand auch eine szenische Umsetzung im Raum. „Meist lassen wir das Publikum an bestimmten Stellen mitsingen“, sagt Immanuel de Gilde, „so entsteht ein gemeinsames Konzerterlebnis“.
Die Uraufführung findet demnächst in Bonn statt
Anfang September wird das rund 75-minütige Gesamtkunstwerk zum Beethoven-Fest in Bonn uraufgeführt. Dann wandelt die Formation mit den Zuhörenden durch die alte Fahnenfabrik, eine Halle, die bald abgerissen wird. Das Stück besteht aus Rekompositionen von vier Werken. Die Vorlagen stammen von Hildegard von Bingen, Wilhelmine von Bayreuth, Clara Schumann und Emilie Mayer. Die Rekomponistinnen von Stegreif haben die Stücke bearbeitet und „im Stil ihrer Urheberin“ weitergeführt. So wird alte und ältere Musik in die Gegenwart transponiert.
Im Juli wurde dem Stegreif Orchester in der Hamburger Elbphilharmonie der Tonali Award 2023 „Mut zur Utopie“ verliehen. Besser kann man die Vision der experimentierfreudigen Truppe nicht beschreiben. Sie werden dabei in der Laudatio als „Hoffnungsträger für die Gesellschaft und die nächsten Generationen“ bezeichnet, die „das Orchester als solches revolutioniert“ hätten. Der Preis ist mit 25.000 Euro sowie weiteren Auftrittsmöglichkeiten dotiert. Ein großer Gewinn für Stegreif, aber Immanuel de Gilde sagt auch: „Wir haben uns durchgesetzt, dabei bekommen wir keine Basisförderung und fragen bei den Konzertveranstaltern Gagen ab, für die sich unsere Musikerinnen und Musiker bei einem Projekt engagieren können.“
Ein Wesensmerkmal des Orchesters ist dabei seine Spontaneität. Es lohnt sich, die Webseite stegreif.org aufzurufen, denn es kommen immer wieder Konzerte hinzu. Eine Tournee mit einem festen Programm müsste man allerdings Jahre im Voraus planen – so verlangen es die großen Konzerthäuser aufgrund ihrer bestehenden Strukturen. So bleibt Stegreif eine flexible Formation, die sich projektorientiert organisiert und fast jedes Mal für den Anlass Neues kreiert. Dafür brauche man inzwischen ein zehn Personen starkes Hintergrundteam, sagt der Projektleiter.
Außerdem sind weiterhin aufgeschlossene Konzertveranstalter und Bühnen gefragt, die ihren Abonnenten das ungewöhnliche Improvisationsorchester zutrauen. Laut Immanuel de Gilde sei es gerade das erfahrene Konzertpublikum, von dem begeisterte Reaktionen kämen: „Es gibt altersübergreifend den Wunsch, manchmal etwas Neues auszuprobieren. Das nehmen wir mit offenen Augen, Händen und Ohren gerne an.“