Mit ihrer WM-Goldmedaille hat Para-Schwimmerin Elena Semechin den ersten großen Erfolg seit ihrer Krebserkrankung gefeiert. Bis zu den Paralympics in einem Jahr will die Berlinerin die richtige Balance zwischen Erschöpfung und Erholung finden.
In Paris hat Elena Semechin keine guten Erinnerungen. Direkt nach ihrem Gold-Coup bei den Paralympics 2021 in Tokio flog die Schwimmerin mit ihrem Trainer und Lebensgefährten Phillip in die Stadt der Liebe – doch wirklich genießen konnte sie den lang herbeigesehnten Urlaub nicht. Sie fühlte sich sehr schlecht und ahnte, dass etwas mit ihrem Körper nicht stimmte. Die niederschmetternde Diagnose erhielt sie dann bei ihrer Rückkehr nach Deutschland: Krebs. Der bösartige Gehirntumor wurde kurze Zeit später in einer Operation entfernt, nach einer anschließenden Chemotherapie ist Semechin aktuell krebsfrei. Und voller Hoffnung, in einem Jahr nach den Paralympischen Spielen die französische Hauptstadt in deutlich besserer Erinnerung zu haben. „Ich freue mich, da noch mal hinzufahren und Paris ohne die ganzen Symptome erleben zu können“, sagt die 29-Jährige.
Ihr Ticket für die Paralympics vom 28. August bis zum 8. September 2024 hat Semechin durch ihren überzeugenden WM-Sieg auf ihrer Paradestrecke 100 Meter Brust bei den jüngsten Titelkämpfen in Manchester Anfang August gebucht. Es war ihr erster großer Titel seit der Krebs-Diagnose. „Das ist jetzt eine große Erleichterung“, sagt die sehbehinderte Berlinerin. Schon 2013 und 2019 hatte sie auf dieser Strecke WM-Gold geholt, im Vorjahr inmitten ihrer Chemotherapie fast schon sensationell Silber. Die Chemo schloss sie im Februar ab und konnte sich seitdem deutlich intensiver wieder dem Sport widmen. Unmittelbar nach dem Rennen haderte sie ein wenig mit ihrer Zeit von 1:13,13 Minuten („Ich habe es mir ein bisschen schneller erhofft“), doch mit etwas Abstand hat sich das relativiert.
„Mir ist schon bewusst, dass das eine sehr, sehr gute Leistung ist“, sagt die ehrgeizige Schwimmerin: „Ich bin sehr zufrieden damit, wie es gelaufen ist. Ich bin nicht mehr weit weg von meiner Topform, von meinen Bestleistungen.“ Das gebe ihr ein gutes Gefühl, nach den schwierigen letzten zwei Jahren „auf dem richtigen Weg“ zu sein. „Das beruhigt mich, so kann es weiter gehen.“ Das 100-Meter-Rennen war ihr einziges bei der WM. „Um mehr Strecken vorzubereiten, hätte man noch anders trainieren müssen. Und ich wusste nicht, wie mein Körper überhaupt damit klarkommt“, erklärt sie: „Das war auch schon genug und eine körperliche Herausforderung.“
Voller Hoffnung für die Paralympics
Bevor sie sich aber wieder ins Training stürzte, wollte Semechin etwas Abstand vom Becken finden und ihr Privatleben maximal auskosten. „Auf Festivals gehen, Freunde wiedersehen und meine Hochzeitsfeier nachholen“ – das waren ihre Pläne für die unmittelbare Zeit nach der Weltmeisterschaft. Eine große Hochzeitsfeier war vor zwei Jahren nicht möglich gewesen, weil Semechin, die mit ihrem Mädchennamen Krawzow in Tokio die Goldmedaille gewonnen hatte, sich zwei Tage später der Gehirn-OP unterziehen musste. Es war ihr damals aber ein großes Bedürfnis, die Trauung nicht aufzuschieben. Sie und ihr Mann Phillip hatten sich bei einem Wettkampf 2009 kennengelernt und sind seit 2018 liiert. „Es ist toll, einen Mann wie Phillip an meiner Seite zu haben“, sagt Semechin.
Nach der kleinen Auszeit will sich die Sportlerin, die mit elf Jahren mit ihren Eltern als Spätaussiedlerin von Kasachstan nach Deutschland gekommen war, wieder ins Training stürzen. Dabei die richtige Balance aus Ermüdung und Erholung zu finden, wird ihre größte Herausforderung sein. Denn damit hatte sie bei der Vorbereitung auf die WM so ihre Probleme. „Jetzt habe ich gemerkt, dass der Körper doch länger braucht, um nach einer harten Einheit zu regenerieren“, berichtet Semechin. Ihr sei es mitunter schwergefallen, dies in ihrem Trainingseifer zu berücksichtigen. Im Höhentrainingslager in der spanischen Sierra Nevada hatte sie deswegen erstmals in ihrem Sportlerinnen-Leben eine Panikattacke bekommen. Sie habe in dem Moment gedacht, „dass ich das alles nicht im Griff habe und dass der Krebs wieder zurückkommt“, erzählt Semechin. Gedanken, die sie im Alltag sonst eher nicht belasten. „Aber wenn man so hart ans Limit geht und manchmal auch darüber hinaus, dann ist man auch mental und psychisch in manchen Phasen nicht ganz stabil“, erklärte sie: „Dann kann so eine Situation einen kaputt machen.“

An jenem Tag war nach der Panik-Attacke an Training nicht mehr zu denken. Semechin packte ihre Schwimmsachen zusammen, verließ die Halle, schnappte frische Luft und ließ ihren Emotionen freien Lauf. „Ich habe mich auf gut Deutsch ausgeheult“, verrät sie. Dann entschied sie für sich, an dem Tag nur noch schöne Dinge zu machen. „Ich bin ins Dorf runter gelaufen, hab’ da was Leckeres gegessen und mich abgelenkt.“ Abends sei sie früh ins Bett und habe viel Schlaf nachgeholt. Der hatte wegen der Muskel- und Gelenkschmerzen – verursacht durch das harte Training – mächtig gelitten. „Am nächsten Tag war es auch weg, da hatte ich überhaupt keine Probleme mehr“, sagt Semechin. Sie müsse auch für die Zukunft lernen, „ein Gerüst zu finden, das auch dann stabil ist, wenn man körperlich am Ende ist“, wie sie selbst sagt. Noch schaffe sie es nicht ganz, die notwendige Balance zu finden. „Manchmal gehe ich zu weit, aber dann bekomme ich das von meinem Körper auch deutlich mitgeteilt: Das war jetzt zu viel!“
Sich nach der schweren OP schnell wieder dem Schwimmsport gewidmet zu haben, hat Semechin aber keine Sekunde bereut – im Gegenteil. „Das hat mir enorm viel Kraft gegeben, das durchzustehen, mich wieder aufzurappeln“, erzählt sie. Auch während der Chemotherapie regelmäßig zum Training zu gehen, und sei es nur für Dehnübungen am Beckenrand, habe ihr das wichtige Gefühl gegeben: „Ich lebe noch – und auch mein Körper ist noch lebendig.“ Einen leichten Muskelkater zu verspüren, sei in dieser Phase ein Glücksgefühl gewesen. „Wenn man die Chemo macht, liegt man im Bett, schluckt Medikamente und bekommt das Gefühl von Elend. Wenn man zum Training geht, fühlt man sich manchmal auch elend, aber man weiß: Ich hab’ was gemacht“, erzählt Semechin: „Ich wollte mir selbst sagen: Ich habe mich ja körperlich belastet, deswegen geht es mir so schlecht.“
Schnell zurück zum Schwimmsport
Sie wollte auch für andere Menschen, die Ähnliches am eigenen Leib oder im Kreise ihrer Familie erlebt haben, ein Vorbild sein. In ihrer Nebentätigkeit als Motivationssprecherin in Unternehmen kann sie nun von ihren Erfahrungen, Ängsten, Erfolgen und Rückschlägen berichten. „Ich versuche, den Menschen neue Kraft und Energie zu geben.“ Es sei „einfach schön, wenn die Menschen das annehmen und sagen: ‚Das hilft mir.‘ Und das hilft mir dann ja auch, so fühle ich mich gebraucht“.
Mit der Krankheit geht sie erstaunlich rational um. „Ich habe den Krebs nicht besiegt. Ich habe den Krebs erst mal besänftigt“, sagt sie. Die Ärzte hätten ihr mitgeteilt, dass er früher oder später zurückkomme. „Ich habe das für mich so angenommen.“ Sie lebe im Hier und Jetzt und freue sich über die Zeit ohne Krebs. „Und wenn er irgendwann wiederkommt, dann müssen wir ihn wieder angreifen“, sagt Semechin: „Das habe ich einmal, dann schaffe ich es auch noch einmal.“