Nachdem immer mehr US-Bundesstaaten Abtreibungen verbieten, sorgen sich Paare, ob demnächst sogar die Pille illegal wird. Die Folge: Immer mehr Männer lassen sich sterilisieren.
Wer John Curingtons Büro betritt, bekommt als Erstes einen Gummi-Hoden in die Hand gedrückt. „Hier, spüren Sie den Samenleiter?“, fragt der 57-Jährige, während seine Finger über das detailgetreue Modell gleiten. Dann ergreift er zwei scherenartige Werkzeuge, fixiert den „Samenleiter“ – und Schnipp! „Zwei kleine Schnitte“, sagt der Urologe, „und nach 15 Minuten ist alles vorbei. Noch Fragen?“
Curington leitet mit seinem Kollegen Douglas Stein eine Vasektomie-Praxis in der Großstadt Tampa in Florida. Über ausbleibende Kundschaft konnten sich die beiden Mediziner noch nie beschweren. Seit aber das Oberste Gericht in den USA das generelle Recht auf Abtreibung gekippt hat, kann sich die Praxis vor Anfragen nicht retten.
„Dieses Urteil war ein Schock“, sagt Curington. „Viele Paare haben Angst, dass als Nächstes auch noch der Zugang zu Verhütungsmitteln eingeschränkt wird.“ Völlig aus der Luft gegriffen scheint diese Sorge nicht: So schrieb Richter Thomas Clarence in seiner Urteilsbegründung, frühere Entscheidungen zu gleichgeschlechtlichen Partnerschaften und Verhütung sollten „überdacht“ werden. Urologe Curington leitet daraus ab, dass es demnächst vielleicht nur noch eine sichere Methode gibt, um ungewollte Schwangerschaften zu verhindern: eine Vasektomie.
Tatsächlich lassen sich in den USA seit dem Gerichtsurteil mehr Männer sterilisieren als zuvor. Es ist ein Phänomen, das sich quer durchs Land zieht, besonders aber in konservativen Bundesstaaten auftaucht, die sofort nach dem Urteil jegliche Abtreibungen verboten haben. Laut einer Umfrage der New York Times bei zehn Urologinnen und Urologen schnellt die Nachfrage überall gleichermaßen nach oben. Eine Praxis in Oklahoma berichtet von einer Verdopplung der täglichen Sterilisierungen – Oklahoma ist ein Bundesstaat mit besonders strengen Regelungen. Dort dürfen Frauen selbst nach Inzest oder einer Vergewaltigung nicht abtreiben.
Douglas Stein, der zweite Urologe in der Vasektomie-Praxis, ist deshalb überzeugt: „Verhütung wird immer mehr zur Männersache.“ Stein hat schon Zehntausende von Sterilisierungen durchgeführt. „Früher“, sagt der 69-Jährige, „war das Ganze noch mit einem gewissen Stigma behaftet.“ Geburtenkontrolle sei generell als Frauen-Domäne betrachtet worden, auch in langjährigen Beziehungen. Männer, die sich selbst zeugungsunfähig machen? Eine Ausnahme, fast schon ein Angriff aufs Selbstbild.
„Das Durchschnittsalter geht zurück“
In den vergangenen Jahren hat sich laut Stein aber etwas verändert. „Die Menschen machen sich immer mehr Gedanken zu Übervölkerung, Klimaschutz und Verhütung“, sagt der Mediziner. Das Urteil des Supreme Court hätte das Fass nun zum Überlaufen gebracht. „Wer weiß, was sich konservative Politiker als Nächstes einfallen lassen“, sagt Stein. Die Folge: Kamen früher vor allem Männer über 40 zu ihm, die ihre Familienplanung beenden wollten, meldeten sich nun immer mehr junge, kinderlose Herren. „Das Durchschnittsalter geht zurück“, sagt Stein. Auch er spricht offen darüber, dass er sterilisiert ist, genau wie sein Kollege John Curington.
Zwischen 20 und 30 Vasektomien nehmen die beiden Mediziner täglich vor. An diesem Tag liegt Dave Cretul im OP-Saal, ein 33-jähriger Software-Entwickler aus Florida. „Meine Frau und ich wollten nie Kids“, sagt Cretul, „und da dachte ich, ich ziehe das jetzt durch.“ Knapp 600 Dollar kostet die Sterilisierung; die meisten Krankenkassen in den USA übernehmen den Eingriff, so auch bei dem jungen Mann aus Florida. „Im Vorfeld war ich schon etwas aufgeregt“, sagt Cretul, „aber ich weiß ja, dass die Doktoren hier Experten sind.“
Kaum hat der Patient die Hose heruntergelassen, schreitet Urologe Stein auch schon zur Tat: Nachdem er den Penis mit einem Gummiband fixiert hat, sprüht er den Hodensack mit einer Desinfektionsflüssigkeit ein. „Das wird jetzt ein bisschen warm“, erklärt der Mediziner, „und gleich zwickt es. Das ist die Betäubungsspritze.“ Ein kurzer Schnipp mit der Schere, fertig. „Haben Sie etwas gemerkt? Ist Ihnen schwindelig?“ Als Dave Cretul beides verneint, kann er wieder aufstehen. Das Uber wartet bereits vor der Tür, die OP hat keine halbe Stunde gedauert.
Die Nachfrage in der Praxis ist inzwischen so hoch, dass Patienten auf eine Warteliste kommen. Rund drei Monate dauert es, bis sie einen Termin bekommen. „Bei jungen Männern frage ich immer nach, ob sie sich wirklich sicher sind“, sagt Douglas Stein. Er selbst hat den „World Vasectomy Day“ mit ins Leben gerufen; entlang der Highways wirbt er auf großen Plakaten für seine Dienste – er ist so umtriebig, dass ihm amerikanische Medien den Titel „Vasektomie-König“ verliehen haben. „Aber“, sagt Stein, „es ist eben auch eine Entscheidung, die man nicht leichtfertig treffen sollte.“
Ist das Phänomen also nur ein kurzfristiger Trend? Oder weist es doch auf langfristige gesellschaftliche Veränderungen hin? Fest steht, dass sich in der Vergangenheit rund 500.000 US-Amerikaner jährlich haben sterilisieren lassen. Zwischen 2002 und 2017 gingen die Zahlen sogar leicht zurück, wie ein Paper der Standford University darlegt. Die Forschenden weisen aber auch darauf hin, dass die Werte schwanken: So gab es während der Finanzkrise zwischen 2007 und 2009 einen Anstieg um 34 Prozent – wirtschaftliche Erwägungen spielen bei der Familienplanung also offenbar nach wie vor die Hauptrolle.
Wenn Internet-Trends ein Anhaltspunkt sind, dann müssen sich Urologen in den USA jedenfalls keine Sorgen machen. Der TV-Sender Fox11 berichtet, dass am Tag des Gerichtsurteils die Frage „Wo bekomme ich eine Vasektomie?“ um 850 Prozent häufiger gegoogelt wurde als zuvor. Die meisten Anfragen kamen demnach aus Texas und Florida. Auch in den sozialen Netzwerken ist die Männer-Verhütung ein Thema: Bei Snapchat wurden Videos mit dem Hashtag „Vasectomy“ rund 300 Millionen Mal aufgerufen. Der Hastag „snipsniphooray“ (Schnipp, Schnipp, Hurra) kommt auf über 30 Millionen Ansichten. Auch auf Dating-Plattformen taucht der Begriff „Vasektomie“ häufiger auf – bei Tinder etwa fünfmal mehr als noch ein Jahr zuvor, wie die New York Times berichtet.
Manchmal bis zu 22 Eingriffe am Tag
Einige Urloginnen und Urologen haben sich in den USA bereits auf die steigende Nachfrage eingestellt. In Iowa fährt eine mobile Vasektomie-Klinik – ein Anhänger mit OP-Bereich – von einem Supermarkt-Parkplatz zum nächsten. Dadurch sollen Männer im ländlichen Raum, die keine Klinik in der Nähe haben, einen Zugang zu der Dienstleistung erhalten.
Auch in Florida haben die „Vasektomie-Könige“ aufgerüstet: Vor der Praxis verfrachtet John Curington mehrere Plastikboxen in den Kofferraum seines Teslas. Ausgestattet mit sterilen Tüchern, Scheren und Einmalhandschuhen fährt er quer durch den Bundesstaat, um Männer zu sterilisieren. Einen Anhänger wie in Iowa besitzt er nicht; stattdessen mietet er vor Ort Büros, um sie in provisorische OP-Säle zu verwandeln. „Manchmal“, sagt der Arzt, „komme ich auf bis zu 22 Eingriffe am Tag.“ Das Recht auf Kinderlosigkeit – es ist auch ein Geschäftsmodell.
In Entwicklungsländern hat der Urologe ebenfalls schon zur Schere gegriffen – zum Beispiel 2013 im Rahmen eines Freiwilligenprojektes auf den Philippinen. „Da kam es häufig vor, dass uns katholische Gruppen wegen unserer Arbeit angefeindet haben“, sagt Curington. In den USA habe er so etwas bisher nicht erlebt. „Noch nicht“, fügt der 57-Jährige hinzu. „Und dabei bleibt es hoffentlich auch.“