In Mährisch-Schlesien können Besucher einen grimmigen Gott, wunderschöne Wälder, romantische Städtchen und eine spannende Industriekultur entdecken.
Als die beiden Slawenapostel Kyrill und Method die Bewohner Mährens zum Christentum bekehren wollten, gingen sie mit der Brechstange vor. Sie zerstörten die Statue des slawischen Gottes Radegast auf dem Berg Radhoscht und errichteten dort ein Kreuz. Doch Radegast ist nicht aus den Beskiden verschwunden. Auf einer 1.105 Meter hohen Kuppe südwestlich von Pustevny wurde 1930 eine mehrere Meter hohe Statue der heidnischen Gottheit aufgestellt, die 1998 durch eine Granitkopie ersetzt wurde. Doch wer ist das eigentlich, Radegast? Die fast asiatisch anmutende Figur trägt über dem grimmigen Löwengesicht noch die Konturen eines mit Hörnern versehenen Stierkopfes, der auf den ersten Blick an einen gehörnten Wikingerhut erinnert. In seiner knorrigen rechten Hand hält er ein Füllhorn, auf dem eine Ente thront. Als die Statue des slawischen Kriegs- und Siegesgottes enthüllt wurde, der auch für Gastfreundschaft, Überfluss, die Ernte, die Fruchtbarkeit und die Sonne zuständig ist, soll es der Legende nach zu mehreren merkwürdigen Zwischenfällen gekommen sein. Der Soldat, der die Skulptur bewachte, soll sogar vom Blitz erschlagen worden sein. Heute jedoch verbreitet Radegast kaum noch Angst und Schrecken, und die zahlreichen Besucher, die von der Bergstation des Sessellifts nach Pustevny hierher hinaufsteigen, verbinden mit Radegast in der Regel vor allem den Namen einer beliebten ostmährischen Biersorte.
Tolle Aussicht vom Baumwipfelpfad
Nicht jeder, der mit dem Sessellift von Trojanovice nach Pustevny fährt, begibt sich auf die Spuren des gastfreundlichen Slawen-Gottes. Vor allem Familien haben oft ein ganz anderes Ziel: den 660 Meter langen Valaška-Weg. Er ist einer der schönsten Baumwipfelpfade Tschechiens und bietet auf 1.090 Metern Höhe grandiose Ausblicke. Einen besonderen Kick bieten ein Skywalk, auf dem man das Gefühl hat, in der Luft zu schweben und eine leicht schwankende, mit tibetischen Fahnen geschmückte Hängebrücke, deren Betreten etwas Mut erfordert.
Von der Spitze des Baumwipfelpfades blickt man nicht nur auf die umliegenden Beskiden, das Auge schweift auch bis nach Stramberg. Eine Stadt, die wir am nächsten Tag besuchen. Sie gilt als Musterbeispiel für die Holzbauweise in der Region – doch nachdem wir an schmucken, massiven Holzhäusern vorbeigegangen sind und den lang gestreckten Marktplatz überquert haben, stoßen wir auf einer Anhöhe noch auf ein markantes Steingebäude. Von der ehemaligen Burg Strallenberg ist noch ein Rundturm erhalten, der im Volksmund Trúba genannt wird, was so viel heißt wie Trompete. Ursprünglich soll die Burg auf einem Hügel auf der anderen Seite des Ortes geplant gewesen sein. Doch jedes Mal, wenn man Baumaterial und Steine hinaufschleppte, seien in der Nacht Gnome beziehungsweise Wichtelmännchen gekommen und hätten die Steine wieder bergab gerollt.
Eine schöne Geschichte, die niemanden erschrecken muss. Etwas anders sieht es da aus, wenn es um die Entstehungsgeschichte der Stramberger Ohren geht, einer weit bekannten Spezialität, die in Tschechien in Discountermärkten landesweit angeboten wird. „Der Legende nach entdeckten die Stramberger Bürger, die sich 1241 gegen einen Tartarenüberfall zur Wehr setzten, in einem verlassenen Lager ihrer Feinde gesalzene Menschenohren“, erzählt Ladislav Hezky, der sein Leben ganz den Stramberger Ohren gewidmet hat. Er betreibt eine kleine Manufaktur, in der das Süßgebäck in Handarbeit hergestellt wird. „Wir schaffen bis zu 3.500 Ohren am Tag.“ Jedes Jahr nimmt der passionierte Konditor am Ohrenfestival teil, bei dem der beste Ohrenbäcker gekürt wird und bei dem unter anderem überdimensionale, bis zu 40 Kilogramm schwere „Öhrchen“ aus gewürztem Honigteig gebacken und gemeinsam verspeist werden. Der Geschmack der knusprigen Ohren, die unter anderem mit Zimt, Nelken und Sternanis verfeinert werden, erinnert an Lebkuchen.
Bewaldete Hügel und romantische Städtchen, das ist die eine Seite von Mährisch-Schlesien. Doch die Region ist keineswegs nur eine Naturidylle, sondern auch industriegeschichtlich bedeutsam. In Kopřivnice, ehemals Nesselsdorf, finden Auto- und Technikfreunde ihr Eldorado, denn gleich drei Automobilmuseen und eine Eisenbahnausstellung sind einen Besuch wert. Obwohl wir uns am Rande der Beskiden befinden, dominiert hier ein anderer Gebirgsname: Tatra. Denn die Nesselsdorfer Wagenbau-Fabriks-Gesellschaft, die ursprünglich Kutschen und Pferdefuhrwerke herstellte, baute 1897 das erste Auto in Mitteleuropa. Im Jahr 1919 gab das Unternehmen seinen Fahrzeugen den Markennamen Tatra, wenig später hieß das ganze Unternehmen so.
Museum für Nutzfahrzeuge
Die Geschichte dieses Automobilherstellers lässt sich in Kopřivnice in mehreren Museen nachvollziehen. Das Tatra Truck Museum, das 2021 eröffnet wurde, konzentriert sich vor allem auf Nutzfahrzeuge und präsentiert diese zum Teil mittels Augmented Reality. Auf insgesamt 14 Stationen werden die Anfänge des Unternehmens ebenso dargestellt wie die Gegenwart – dazu kommen Fahrzeuge für spezielle Einsatzzwecke, von Tatra-Feuerwehrfahrzeugen bis zu Tatra-Bussen für den öffentlichen Nahverkehr.
Auf über 5.000 Quadratmetern sind mehr als 80 Fahrzeuge und Fahrgestelle ausgestellt, die sich zum größten Teil in der Privatsammlung von Jiří Hlach befanden, an dessen erstem Todestag das Museum eingeweiht wurde. Wesentlicher älter als das Lkw-Museum ist das Tatra-Pkw-Museum im Stadtzentrum. Und wer dann noch nicht genug hat: Historische Autos, Traktoren und Motorräder verschiedener Marken zeigt in Kopřivnice auch eine umfangreiche Privatsammlung – das Auto Moto Muzeum Oldtimer Kopřivnice. Wer viel Benzin im Blut hat, kann in dem Ort also leicht ein oder zwei Tage verbringen.
Für Technikbegeisterte hat Mährisch-Schlesien aber noch mehr zu bieten, denn die Region war einst das industrielle Herz der habsburgischen und später der tschechoslowakischen Schwerindustrie. Die Witkowitzer Eisenwerke im Süden der Stadt Ostrava wurden 1826 als Rudolfshütte gegründet. Zehn beziehungsweise 13 Jahre später, 1836 und 1839, hat man die ersten beiden Hochöfen errichtet. Im Jahr 1843 übernahm Salomon Rothschild das Unternehmen. Er besaß die Konzession für den Bau der Kaiser-Ferdinands-Nordbahn von Wien nach Krakau, deren Schienen zum großen Teil in den Witkowitzer Eisenwerken hergestellt wurden. Bis zum Einmarsch der Deutschen hielt die Familie Rothschild die Mehrheit am Unternehmen. Die Nationalsozialisten arisierten die Eisenwerke, gliederten die geraubten Anlagen in die Hermann-Göring-Werke ein und errichteten in der Nähe von Ostrava ein weiteres Werk für die Rüstungsproduktion, Nowa Huta. Nach 1945 wurden die Eisenwerke dann verstaatlicht – und einige Jahre später nach dem tschechischen Minister- und Staatspräsidenten Klemens Gottwald benannt.
Ein Café auf dem Hochofen
Heute sind die Witkowitzer Eisenwerke, abgesehen von Nowa Huta, längst stillgelegt und gelten als nationales Kulturdenkmal. Einen grandiosen Blick über das Gelände und die stillgelegten Hochöfen hat man vom Bolt Tower, auf dem sich das höchstgelegene Café Ostravas befindet. Der fast 80 Meter hohe Stahlturm, der auf einem ehemaligen Hochofen aufsetzt, lockt nicht nur mit einem Café, sondern auch mit einem Aussichtsdeck, auf dem mehrere Teleskope aufgestellt sind. Das über 100 Hektar große Werksgelände ist aber nicht nur von oben interessant. Ebenso lohnenswert sind Führungen durch das ehemalige Industrieareal und ein Besuch der dort eingerichteten Museen, zum Beispiel im historischen Wissenschafts- und Technologiemuseum und im modernen Science and Technology Centre. Besonders reizvoll ist eine Städtereise nach Ostrava, wenn sich das stillgelegte Industriegelände in eine Bühne für mitreißende Musikfestivals verwandelt – etwa für das „Beats for Love“ oder das „Colours of Ostrava“-Festival, die hier jedes Jahr stattfinden.
Wie sehr Ostrava durch das Eisenwerk geprägt wurde, erfahren wir bei einem Stadtspaziergang mit dem Geschichtslehrer Tomas Majlis, dessen Vater einst selbst im Witkowitzer Eisenwerk gearbeitet hat. „Jedes Jahr am 1. Mai durften die Familienangehörigen der Arbeiter das Werk besuchen“, erinnert sich Tomas. Er berichtet davon, dass die Stadt vor der Gründung der Eisenhütte nur 1.500 Einwohner hatte. „Um 1828 änderte sich alles“, berichtet Majlis.
Dennoch wuchsen die Stadt und das Unternehmen bis etwa 1870 nur langsam – und litten zudem unter der Wirtschaftskrise der 1870er-Jahre. Damals halbierte sich die Zahl der Beschäftigten von 4.000 auf 2.000. Um den Turnaround zu schaffen, holten die Rothschilds den Wiener Industriellen Paul Kupelwieser als neuen Generaldirektor. Er leitete die Witkowitzer Eisenwerke von 1876 bis 1893. „Kupelwieser war der Meinung, dass eine erfolgreiche Fabrik zufriedene Arbeiter braucht“, sagt Majlis. Deshalb beschloss Kupelwieser, eine Stadt für die Arbeiter zu bauen, Neu-Witkowitz. Dort entstanden Häuser in verschiedenen Größen und mit unterschiedlichem Komfort, etwa Baracken für alleinstehende Arbeiter oder bessere Häuser für Büroangestellte, und die nötige Infrastruktur wie Krankenhäuser, Waisen- und Altersheime. Da viele Arbeiter aus ländlichen Gebieten in die Stadt kamen, erhielten sie auch die Möglichkeit, in ihren kleinen Gärten Tiere zu halten.
Internationales Musikfestival
Stahl und Eisen werden in Ostrava nach wie vor produziert, allerdings viel sauberer und weiter weg vom Zentrum. Das ehemalige Hüttenwerk Nowa Huta heißt heute „Liberty Ostrava“ und produziert vor allem Stahl für die Bau- und Maschinenbauindustrie sowie Rohre für die Ölbranche. Die Stadt Ostrava selbst hingegen hat sich von der schwarzen Lunge und dem eisernen Herzen Tschechiens zu einer grünen Metropole gewandelt, die sich vor einigen Jahren sogar um den European Green Capital Award beworben hat. Stadtführer Valdimir Hladik, den wir auf dem Rathausturm von Ostrava treffen, behauptet sogar, Ostrava sei mittlerweile die grünste Stadt der Tschechischen Republik.
Der Comenius-Garten am Ufer des Flusses Ostravice und andere Grünflächen in der Stadt laden zum Picknick ein – und selbst ehemalige Bergbau-Abraumhalden, wie die Halde Ema, sind heute Jogging- und Wandergebiete. Heavy Metal gibt es in Ostrava trotzdem – spätestens beim nächsten „Colours of Ostrava“-Festival. Das größte internationale Musikfestival der Tschechischen Republik ist eine Art tschechisches Woodstock inmitten rostiger Hochöfen und Fabrikhallen und findet auf insgesamt 16 Bühnen statt. Das grimmige Löwengesicht des Slawen-Gottes Radegast ist übrigens auch auf dem Festival zu sehen: Es prangt als Logo auf den Bierständen der Brauerei Radegast, die in der Nähe aller Festivalbühnen zu finden sind. Wer sich einen Becher Bier holt, schaut meist nicht grimmig, sondern erfreut – denn der halbe Liter kostet weniger als zwei Euro.