Im „Ryke“ in Prenzlauer Berg lässt sich saisonale, regionale und nachhaltige Küche zu charaktervollen Naturweinen genießen. Mit Casual Fine Dining am Wasserturm.
Manchmal erinnert Berlin an eine Art Matrjoschka: Die äußeren Schichten haben in ihrem Inneren etwas versteckt, von dem man kaum etwas ahnt. So entpuppt sich nur wenige Schritte von der tosenden Prenzlauer Allee entfernt die Rykestraße als eine ganz eigene Welt für sich. Die nach dem Namen eines Bürgermeisters aus dem 15. Jahrhundert benannte Straße ist mit Kopfsteinpflaster versehen. Sie führt zu Berlins ältestem Wasserturm. Der 400 Meter hohe Turm wurde Mitte des 19. Jahrhunderts vom britischen Ingenieur Henry Gill erbaut und war eine der ersten Wasserversorgungsanlagen der Stadt. Der Wasserturm in Prenzlauer Berg wird von Berlinern auch heute noch manchmal „Dicker Hermann“ genannt.
Alles in allem wirkt die Gegend fast schon ein bisschen wie aus der Zeit gefallen – wären da nicht die vielen Lädchen, Restaurants und Cafés, die das Straßenbild säumen und an die Jetzt-Zeit erinnern. An der Ecke zur Sredzkistraße befindet sich ein kürzlich neu eröffnetes Restaurant, das schlicht den Namen der Straße trägt: „Ryke“.
Wer die Räumlichkeiten an der Nummer 39 von früher kennt, als das Restaurant noch „Akemi“ hieß, kommt aus dem Staunen nicht so schnell wieder heraus. Vom knallig-poppigen Interieur in den Farben Rot und Schwarz des Vorgänger-Lokals der Gastronomin Xioafen Fan hat das „Ryke“ eine wirklich erstaunliche Metamorphose vollzogen. Der neue Laden wirkt dank der Naturmaterialien hell, luftig und weit: Regale, Bänke und Tische sind aus Kiefernholz. Der Tresen ist mit handgefertigten Terrakottafliesen verkleidet. Das Interior-Konzept entwickelte das Atelier Raumfragen um die Innenarchitektin Sandra Bruns, die zugleich auch als Professorin an der Detmolder Schule für Gestaltung lehrt.
Die beigen, strukturierten Wände an den Stirnseiten sind mit recyceltem Bauschutt verputzt. Eyecatcher ist im hinteren Bereich eine schwebende Papier-Leuchte namens „Nuage“. Das Objekt stammt aus der Hand des Detmolder Künstlers Timo Heijnk. Alles in allem vermittelt das Interieur eine unaufdringliche Leichtigkeit, die einen sanft umhüllt. Das gestalterische Konzept ist bis ins kleinste Detail durchdekliniert und findet sich auch in dem unprätentiösen, handgefertigten Geschirr wieder, auf dem später unsere Speisen serviert werden. Zugleich spiegelt das Ambiente auch das kulinarische Credo des Casual Fine Dining wider, das ebenso auf Natürlichkeit setzt. „Wir haben uns Verantwortung und Bewusstsein für Nachhaltigkeit auf die Fahne geschrieben. Die Karte orientiert sich an den saisonalen Gegebenheiten und der Region, unsere Lieferanten achten auf artgerechte Tierhaltung“, erläutert uns Inhaberin Xioafen Fan ihr Konzept.
Xiaofen Fan betreibt mehrere Lokale
Die aus Shanghai stammende Gastronomin führte das „Akemi“ fast eine ganze Dekade lang. Dort hatte die Wahl-Berlinerin panasiatische Küche angeboten, bis sie 2023 ihr Lokal mit dem „Ryke“ gänzlich neu erfunden hat. Das „Akemi“ war Xioafen Fans erstes Restaurant, bevor noch andere hinzukommen sollten. Dazu zählen die Ramen-Suppenküche in Friedrichshain, das auf Dim Sum spezialisierte „Made in China“ und ein thailändisches Restaurant namens „Bangkok Bites“. Und nun also das „Ryke“. „Es gibt inzwischen so viele asiatische Läden im Kiez, ich dachte, es ist mal wieder Zeit für etwas Neues“, erklärt die Gastronomin uns ihr neues Konzept, bevor wir in den kulinarischen Teil des Abends starten.
Zum Einstieg empfiehlt uns Xioafen Fan einen der georgischen Orangenweine. Der Tsolikouri kommt vom kleinen Familienweingut Baia in Georgien, wo Namensgeberin Baia Abuladze und ihre beiden Geschwister Bio-Weine anbauen. Medien wie die „The Washington Post“, „Forbes Magazine“ und der MDR haben schon über das junge Winzer-Team aus dem Kaukasus und ihre edlen Tropfen berichtet. Vergoren und ausgebaut werden Baias Weine in Tonamphoren. Das hat bei georgischen Winzern schon seit 8.000 Jahren Tradition. Die mich begleitende Freudin ist derart hingerissen von dem würzigen wie ungewöhnlichen Wein, dass sie sich gleich am nächsten Tag eine Flasche Tsolikouri zu sich nach Hause bestellt. Das Internet macht’s möglich.
Ich selbst muss mich erst langsam an diesen charaktervollen Rebensaft herantasten, der doch etwas rassiger und herber schmeckt als erwartet. Doch Schluck um Schluck finde ich Gefallen an seiner Komplexität. Liebe auf den ersten Schluck in Sachen Naturwein ist für mich an diesem Abend der Boom Rosé. Der unfiltrierte und ungeschwefelte Wein stellt sich als eine spritzig-beerige Mischung aus Spätburgunder und Schwarzriesling heraus. Meine Begleiterin kommt ins Träumen: „Dieser Rosé ist wie eine Blume in der Wüste“, assoziiert sie poetisch.
Die Begleiterin ist nicht nur von der Weinselektion angetan, sondern auch von der übersichtlichen Speisekarte mit nur knapp einem Dutzend Gerichten inklusive Vorspeisen und Desserts. Zu viele Speisen auf der Karte überforderten sie schnell, findet sie. Auch ich bin an diesem Abend ganz froh, nicht erst eine seitenlange Karte studieren zu müssen. Das Einfache kann manchmal so entspannend sein.
Fischig und gemüsig wird es bei den Vorspeisen, die in ihrer bescheidenen Größe eher wie Amuse-Gueules wirken. Nichtsdestotrotz mundet das Stückchen Aal vorzüglich. Angerichtet ist es an einer ausgeklügelten Miso-Mayonnaise, einer Scheibe Tramezzini und wie zu Schnee geriebenem Scamorza. Liebhaber vegetarischer und veganer Genüsse dürfen sich an gegrillten Artischokenstückchen erfreuen, gebettet auf einer Creme aus Baba Ghanoush. Garniert ist das Ganze mit Erbsenkraut und filigran gewürfelten Kalamata-Oliven – vollkommen fleischfrei und dabei absolut umami im Geschmack.
Erfrischender Brottrunk
Genussvoll gemüsig geht es weiter bei einem Portobello mit gewürfelten Kartoffeln, Pfifferlingen und geraspeltem Meerrettich on top. Unser nächster Gang kommt leicht und dabei tiefenaromatisch daher und wir genießen den Kabeljau mit Edamame. Das Fischgericht soll zu einem der lukullischen Highlights an diesem Abend werden. Dem steht der nächste Gang mit zartem Tafelspitz aber in nichts nach. Das Fleisch werde 24 Stunden gegart und dann bei 54 Grad nachgegrillt, verrät uns der Küchenchef auf Nachfrage, während wir das Ensemble mit einer feinen Sauce béarnaise, Pfifferlingen und hauchdünn geschnittener Roter Bete goutieren.
Als ich im Verlauf des Abends auch etwas Nicht-Alkoholisches probieren möchte, empfiehlt mir Xioafen Fan ein Getränk namens Kwas. Ich probiere es und werde nicht enttäuscht. Das Kwas kannte ich noch nicht. Das Erfrischungsgetränk wird durch Fermentation von Brot hergestellt, weshalb es auch Brottrunk oder Brotgetränk genannt wird. Kwas gilt als heimlicher Nationaltrunk Russlands, ist aber auch in anderen slawischen Ländern sehr beliebt. „Viele Leute trauen sich nicht, das zu bestellen“, sagt Xioafen Fan. Wie schade. Denn der Brottrunk schmeckt so gar nicht nach Brot, sondern erfrischend und leicht säuerlich. Mich erinnert er eher an einen Kombucha. Davon könnte ich gleich mehrere Gläser am Abend trinken.
Stattdessen koste ich auch einen der hausgemachten Kefire, der ebenso erfrischend schmeckt und den Abend sanft wieder ausklingen lässt. Schließlich begehen wir noch den letzten Gang des Casual Fine Dinings an der Rykestraße und löffeln glücklich und zufrieden ein Dessert-Schüsselchen voller Rhabarberwürfel und Brombeeren mit knusprigem Gebäck und einer leichten Sauerrahm-Creme. Dann trennen sich unsere Wege an diesem Abend, hinaus in die Nacht.