Julian Nagelsmann wird neuer Bundestrainer. Das polarisiert und birgt Risiken – für den DFB wie für den Trainer. Dennoch ist er ziemlich sicher die beste Lösung.
Dieser neue Bundestrainer ist in jedem Fall etwas Besonderes. Julian Nagelsmann ist mit 36 der jüngste Bundestrainer der Nachkriegszeit und der jüngste überhaupt nach Otto Nerz, der 1926 im Alter von 34 startete. Er ist der Nachfolger des ersten beurlaubten Bundestrainers, Hansi Flick, dem er nach dessen Abgang zum DFB auch schon beim FC Bayern München nachfolgte. Er übernimmt den DFB nach zweimaligem Vorrunden-Aus bei Weltmeisterschaften und eben der letztlich gescheiterten Flick-Ära auf einem absoluten Tiefpunkt. Und er wird der vierte Trainer, der Deutschland bei einem großen Heimturnier betreut – nach Helmut Schöns Heim-WM-Sieg 1974, Franz Beckenbauer bei der EM 1988 und Jürgen Klinsmann bei der WM 2006.
Erfahrung trotz jungem Alter
Das sind aber nicht die Gründe, warum über Julian Nagelsmann so viel diskutiert wird. Die liegen an vielen anderen Stellen. Okay, an seinem Alter schon, manch einer hält ihn für „zu unreif“, schließlich ist er nur ein paar Tage älter als Miroslav Klose als Stürmer der Weltmeister im Jahr 2014. Doch Erfahrung hat Nagelsmann schon genug. Und zwar vielfältige. Die TSG Hoffenheim rettete er mit 28 einst als jüngster hauptamtlicher Bundesliga-Coach der Geschichte in höchster Not vor dem Abstieg und führte sie anschließend in die Champions League. Mit RB Leipzig erreichte er in der Königsklasse 2020 das Halbfinale. Und dann trainierte er noch knapp zwei Jahre die Bayern. Seine Beurlaubung im März war eine der meistdiskutierten der Bundesliga-Geschichte. Schließlich waren damals noch alle drei Titel für die Bayern möglich, unter Nachfolger Thomas Tuchel blieb am Ende nur die Last-Minute-Meisterschaft.
Doch eben diese drei Vereine, die Nagelsmann in seiner Vita stehen hat, polarisieren auch. Und das tut er auch als Person. Mit frechen Sprüchen versprüht er häufig Lausbubencharme, manchmal schießt er aber auch über das Ziel hinaus. Womit er oft selbstkritisch umging. Nachdem er im April 2022 wegen vermeintlich mangelnder Einstellung seiner Bayern-Profi moserte „Wir sind nicht bei der Freiwilligen Feuerwehr Südgiesing, sondern beim FC Bayern München“, beschwerten sich Feuerwehrmänner, Nagelsmann habe sie als Symbol für lasche Einstellung genannt. Als Wiedergutmachung simulierte er in voller Montur einen Einsatz der Feuerwache 4 in Schwabing. Auch als er im Februar dieses Jahres nach einem 2:3 in Mönchengladbach aus der Schiedsrichter-Kabine kommend über „weichgespültes Pack“ schimpfte, schlug dies hohe Wellen.
Nagelsmann trägt das Herz auf der Zunge. Das ist oft sein Problem. Aber oft auch seine Stärke. Er hat nicht ganz den Menschenfänger-Charme eines Jürgen Klopp. Doch wie sonst wohl nur der Coach des FC Liverpool hat Nagelsmann die Gabe, komplizierte Dinge sprachlich anschaulich runterzubrechen und Menschen damit zu packen.
Fachlich, darüber dürften eigentlich keine Zweifel bestehen, ist er einer der besten deutschen Trainer. Ein Naturtalent, ein Klassenprimus, überall der jüngste und beste und von allen über den grünen Klee gelobt. Da fällt die Erdung manchmal schwer. Das hat Julian Nagelsmann auch schon erfahren müssen. Doch insgesamt steht er durchaus mit beiden Beinen auf dem Boden.
Scharfe Kritik nach München-Aus
Aus seiner Schlussphase in München hat er sicher einiges gelernt. Zum Beispiel, dass nie für möglich gehaltene Dinge sich gegen einen drehen, wenn man wegen anderer Probleme in die Kritik gerät. Plötzlich wurde sogar darüber gemunkelt, dass er mal mit der Harley zum Training kam, welch extravaganten Kleidungsstil er pflegt und warum er im Training mal den Ball jongliert. Ach ja, und natürlich seine Beziehung zu einer ehemaligen Sport-Reporterin der „Bild“, die nie jemand rund um den FC Bayern öffentlich thematisierte, die aber Tuschel-Thema an der Säbener Straße gewesen sein soll.
Beim DFB könnte man in Bezug auf Nagelsmann allenfalls zwei Probleme befürchten. Das eine – und das betrifft zumindest indirekt das Alter – ist die Machtlosigkeit in diesem Job. Egal, ob er gerade über einen 5:0-Sieg oder eine Niederlage sprach, man hatte bei Nagelsmann in der Bundesliga immer das Gefühl, er würde am liebsten morgen das nächste Spiel bestreiten. Obwohl er auch gern auf dem Trainingsplatz mit seinen Spielern Dinge einstudierte. Er ist eben nicht nur einer, der kesse Sprüche macht, sondern auch ein akribischer Arbeiter und in erster Linie Fußballlehrer. Beim DFB wird er auf die tägliche Arbeit mit seinen Spielern ebenso verzichten müssen wie auf die Möglichkeit, nach einer Niederlage drei Tage später schon wieder alles wettmachen zu können. Nach den beiden Länderspielen auf der ohnehin umstrittenen US-Tour im Oktober gegen die USA und Mexiko hat Nagelsmann noch zwei Länderspiele im November in Wien gegen Ralf Rangnicks Österreicher und einen noch nicht feststehenden Gegner. Sollte er dann mit einer Niederlage aus dem Jahr gehen, müsste er das vier Monate mit sich herumtragen. Denn die beiden nächsten und dann vor der Benennung des EM-Kaders auch letzten Länderspiele stehen im März 2024 an.
Das zweite potenzielle Problem ist Nagelsmanns Vergangenheit mit einigen Spielern, die auf diese und indirekt auch auf andere Profis Auswirkungen haben könnte. So hatte Flick vor seinem letzten Länderspiel gegen Japan Leon Goretzka nicht eingeladen, Joshua Kimmich zum Rechtsverteidiger umfunktioniert und Ilkay Gündogan zum Kapitän ernannt. Kimmich und Goretzka bildeten aber unter Nagelsmann bei den Bayern immer die Doppel-Sechs und waren überdies seine engsten Vertrauten im Kader. Nach seiner Beurlaubung sagte Kimmich mitgenommen: „Am Ende des Tages ist so das Geschäft, wenig Liebe, wenig Herz.“ Und Goretzka bedankte sich bei Instagram für „eine Zusammenarbeit, die jederzeit von Vertrauen, Spaß und gegenseitiger Wertschätzung geprägt war. Du bist ein großartiger Mensch und Trainer.“ Setzt Nagelsmann beim DFB nun wieder auf Kimmich und Goretzka als Doppel-Sechs, wäre es wieder schwierig, für Gündogan, als Kapitän im Mai Triple-Sieger mit Manchester City, einen Platz zu finden. Und kann er dann Kapitän bleiben? Schließlich hatte Kimmich eh mehr Länderspiele und wurde damit quasi übergangen. Auch die Probleme mit Manuel Neuer wird Nagelsmann zum DFB mitnehmen, falls der Torhüter und eigentliche Spielführer nach seinem Beinbruch zurückkommen und die alte Form erreichen sollte. Auch mit Niklas Süle gab es zwischenzeitlich Differenzen, der von Flick im Oktober ebenfalls nicht eingeladene Stürmer Timo Werner gilt dagegen als einer seiner Zöglinge. Lädt Nagelsmann ihn ein und Werner liefert nicht, macht der Coach sich angreifbar. Bringt er ihn zurück zu alter Stärke – unter Nagelsmann spielte Werner einst seine beste Saison in Leipzig – spricht das klar für ihn.
Vergangenheit mit Spielern
Betont werden muss auch, dass Nagelsmann offenbar richtig auf den Job brennt. Denn schließlich verzichtet er auf Geld. Auf hohem Niveau, keine Frage, aber er verzichtet. Denn beim DFB soll er bis zur EM rund 400.000 Euro im Monat bekommen, bei den Bayern hätte er noch Anrecht auf knapp 600.000 – ohne aktuell dafür arbeiten zu müssen. Zudem wäre der Vertrag in diesem Ausmaß noch bis 2026 gelaufen, wenn Nagelsmann bis dahin keinen neuen Job übernommen hätte. Auch geht er ein Risiko ein mit der Übernahme des Jobs. Auch wenn Nationalspieler Leroy Sané mit Blick auf die jüngsten Leistungen meinte, der nächste Trainer habe „nicht viel zu verlieren“, stimmt das so nicht. Ein Aus in der Vorrunde oder ein schlechtes Auftreten bei der EM würde nach dem vorzeitigen Aus in München dem Ruf Nagelsmanns weitere Kratzer verpassen. Und ein Selbstläufer wird das mit dieser Mannschaft ganz sicher nicht.
Dass der Vertrag nur bis zur EM datiert ist, spricht übrigens weder für grundsätzliches Misstrauen des DFB noch von Nagelsmann. Beide Seiten wissen, dass eine schlechte EM eine weitere Zusammenarbeit wohl unmöglich machen würde. Eine gute hingegen könnte die Basis für eine langfristige Zusammenarbeit sein, die sich beide angeblich grundsätzlich vorstellen können.
Ist Nagelsmann also eine gute Lösung? Okay, er ist nicht Rudi Völler. Kein Menschenfänger wie Jürgen Klopp. Nicht so erfahren wie Louis van Gaal oder Felix Magath. Kein Supervisor wie Ralf Rangnick. Kein Stefan Kuntz, der bei der U21 immer für gute Laune gesorgt hat. Aber er ist doch von allem ein bisschen. Und deshalb am Ende und in der derzeitigen Lage wohl der beste Trainer, den sich Deutschland für seine Nationalelf wünschen konnte.