Warum mobben Kinder und Jugendliche Klassenkameraden? Welche geschlechterspezifischen Unterschiede existieren? Und welche Folgen kann Mobbing haben? Diese Fragen und viele mehr hat uns Diplom-Psychologe Dr. Matthias Böhmer beantwortet.

Herr Dr. Böhmer, ab wann spricht man bei Kindern und Jugendlichen von Mobbing?
Mobbing liegt vor, wenn eine schwächere Person wiederholt und über einen längeren Zeitraum absichtlichen schädigenden Handlungen einer oder mehrerer ihr überlegenen Personen ausgesetzt ist und Schwierigkeiten hat, sich aus eigener Kraft gegen die Übergriffe – die sowohl offline als auch online erfolgen können – zur Wehr zu setzen. Bestimmend für Mobbing sind also die drei Merkmale Machtungleichgewicht, Wiederholung und Verletzungsabsicht. Das heißt, dass der Mobbing-Täter dem Mobbing-Opfer körperlich, intellektuell oder bezüglich des sozialen Status überlegen ist, dass der Täter seine Handlungen mehrfach und über einen längeren Zeitraum hinweg ausübt und dass er bei seinen Handlungen das Opfer absichtlich verletzt oder zumindest verletzen möchte.
Wie unterscheidet sich Mobbing zwischen Kindern und Mobbing zwischen Jugendlichen?
Mobbing kann bereits im Kindergartenalter auftreten, hat häufig seinen Höhepunkt bei den Zwölf- bis 15-Jährigen und nimmt danach wieder ab. Je älter die Kinder und Jugendlichen werden, desto seltener üben sie physisches Mobbing aus, gleichzeitig kommt es zu einer Zunahme von relationalem Mobbing. Mit physischem Mobbing sind körperliche Handlungen wie schlagen, treten, kratzen oder beißen gemeint. Unter relationalem Mobbing versteht man Angriffe auf die sozialen Beziehungen wie lästern, ausgrenzen, ignorieren oder Gerüchte verbreiten.
Gibt es geschlechterspezifische Unterschiede – mobben Jungs anders als Mädchen?
Ja, neben dem Alter spielt auch das Geschlecht bei Mobbing eine Rolle. So berichten mehr Jungen als Mädchen, Täter von Mobbing zu sein, ein Befund, der sich für Mobbing-Opfer so nicht zeigen lässt. Betrachtet man die Mobbing-Formen, so sind Jungen häufiger als Mädchen in physisches Mobbing und Mädchen häufiger als Jungen in relationales Mobbing verwickelt. Beim verbalen Mobbing, also bei mündlichen Angriffen wie Beschimpfungen, Bedrohungen oder gemeinen Anspielungen, zeigt sich hingegen kein Geschlechtsunterschied.
Sie schreiben, dass Mobbing immer in Gruppen stattfindet. Wie sieht so ein Gruppenbildungsprozess aus?
Auf den ersten Blick scheint es, dass Täter und Opfer die einzigen Mobbing-Akteure sind. Aktuelle Forschungsansätze gehen hingegen davon aus, dass neben Tätern und Opfern auch weitere Akteure mit unterschiedlichen Rollen auf das Mobbinggeschehen Einfluss nehmen. So wird darüber hinaus zwischen den Assistenten und Verstärkern des Täters, den Verteidigern des Opfers und den Außenstehenden unterschieden. Der Täter initiiert das Mobbing, führt es selbst aus oder bringt andere Personen dazu, beim Mobbing mitzumachen. Er ist der Anführer und gibt Befehle an seine Assistenten weiter. Die Assistenten sind Mitläufer, sie unterstützen den Täter aktiv, helfen ihm beispielsweise, das Opfer festzuhalten oder greifen es selbst an. Sie nehmen keine Führungsposition ein, sie befolgen die Befehle für die Mobbingangriffe. Positiv verstärkt durch die Unterstützung seiner Assistenten zeigt der Täter sein mobbendes Verhalten weiterhin. Die Verstärker halten sich in der Nähe auf, wenn ein Opfer angegriffen wird. Verstärker ermutigen den Täter durch Lachen, Jubeln oder interessiertes Zuschauen in seinen Taten. Sie werden jedoch kaum gegenüber dem Opfer aktiv.
Wie verhalten sich die Verstärker dann?
Häufig bilden sie die herumstehende, anfeuernde und Handyvideo drehende Menschentraube. Durch ihr Verhalten wirken sie – wie die Assistenten – positiv verstärkend auf den Täter ein. Dies führt dazu, dass der Täter und seine Assistenten ihr Mobbing fortführen. Durch das Lachen der Verstärker wird das Opfer zusätzlich erniedrigt. Gemeinsam wirken Täter, Assistenten und Verstärker somit als „Mobbing-Team“ negativ auf das Opfer ein. Das Opfer ist Ziel der wiederholten schikanierenden Angriffe. Da das Opfer dem Täter und seinen „Helfern“ unterlegen ist, duldet es häufig „stillschweigend“ das Mobbing, beziehungsweise versucht es zu ignorieren oder reagiert mit Rückzug. Der Täter erfährt somit vom Opfer keine negativen Konsequenzen wie wehren oder Hilfe holen; folglich fühlt er sich in seinem Verhalten bestärkt und setzt das Mobbing fort.

Gibt es auch Unterstützer auf Seiten des Opfers?
Die Verteidiger bilden das „Anti-Mobbing-Team“. Sie stellen die einzige Gruppe dar, die das Opfer schützt. Sie sprechen ihm Mut zu, helfen, wenn das Opfer angegriffen wird, und versuchen, den Täter zu stoppen. Nur sie zeigen im Mobbinggeschehen zivilcouragiertes Verhalten. Sie holen Hilfe, melden die Vorfälle in der Schule. Der Täter erfährt für sein Verhalten von den Verteidigern Widerstand, also negatives Feedback. Dies wirkt hemmend auf das Mobbingverhalten des Täters. Die Gruppe der Verteidiger selbst ist jedoch meist klein. Daher können sie häufig nur punktuell helfend zur Seite stehen. Als besonders relevant ist die Erweiterung des Blickwinkels auf die Außenstehenden, die dem ersten Anschein nach am Mobbinggeschehen unbeteiligt sind. Sie bilden die größte Gruppe. Sie wären in der Lage, dem Opfer zu helfen, unterlassen dies jedoch in den meisten Fällen. Sie wollen nicht mit dem Mobbing in Verbindung gebracht werden. Sie versuchen, die Taten zu ignorieren und ziehen sich zurück. Das Problem ist jedoch, dass genau dieses Verhalten des Ignorierens oder Nichteingreifens der Außenstehenden – wenn auch teilweise nur ungewollt – den Täter darin bestärkt, weiter zu mobben. Durch die stillschweigende Duldung des Mobbingverhaltens erfährt der Täter keine negativen Konsequenzen für sein Verhalten und fährt er mit seinen Attacken fort. Die Außenstehenden sind daher ein Teil des Mobbingproblems, da sie den Täter indirekt unterstützen. Wenn Außenstehende ihre Rolle aufgeben, um zu Verteidigern des Opfers zu werden und aktiv gegen Mobbing eingreifen, können sie die Mobbingsituationen effektiv beenden. Sie bilden damit neben den Verteidigern die wichtigste Gruppe im Kampf gegen Mobbing.
Wie oft kommt Mobbing an Schulen vor? Beziehungsweise kann man dies überhaupt erfassen?
Mobbing an Schulen ist leider keine Seltenheit. Allerdings lassen sich zur Häufigkeit von Mobbing an Schulen sehr unterschiedliche Zahlen finden, was mit den verschiedenen Vorgehensweisen zu tun hat, mit denen man diese Zahlen erfasst. Betrachtet man die Ergebnisse der „Health Behaviour in School-aged Children“-Studie (HBSC), einer Art Pisa-Studie über die Gesundheit und das Wohlbefinden von Heranwachsenden in Europa und Nordamerika, so waren im Schuljahr 2017/2018 9,4 Prozent der Mädchen und 9,5 Prozent der Jungen Opfer von Mobbing und 2,5 Prozent der Mädchen und 7,5 Prozent der jungen Täter. Die HBSC-Studie erfasst Mobbing dabei durch repräsentative Befragung von Schülerinnen und Schülern in allen deutschen Bundesländern.
Hat Mobbing in den letzten Jahren zugenommen?
Leider kann ich dies nicht mit Sicherheit beantworten, da es zu wenige Studien gibt, die Entwicklungstrends erfassen. Betrachtet man die Daten der bereits erwähnten HBSC-Studie, so lässt sich aber feststellen, dass sich dort ein abnehmender Trend sowohl für Täter als auch Opfer zeigt, dass sich also eine Verbesserung hin zu weniger Mobbing feststellen lässt. Dies würde auch der grundsätzlichen Tendenz entsprechen, dass gewalttätiges Verhalten bei Kindern und Jugendlichen abnimmt. Dass in der Öffentlichkeit häufig der Eindruck vorherrscht, es gebe heute mehr Gewalt als früher, lässt sich unter anderem darauf zurückführen, dass Gewalt unter jungen Menschen durch die (sozialen) Medien sichtbarer geworden ist.
Gibt es „typische“ Mobbing-Opfer oder kann es jeden treffen?
Prinzipiell kann jede Person Opfer von Mobbing werden. Es lassen sich aber Merkmale beschreiben, die das Risiko erhöhen, Mobbing-Opfer zu werden. Diese Merkmale sind in der Person selbst, in Familienbeziehungen, in Beziehungen zu Gleichaltrigen, in der Schul- und Klassengemeinschaft sowie in der Gesellschaft zu finden. Risikoerhöhende personenbezogene Merkmale sind zum Beispiel ein geringes Selbstwertgefühl oder eine ausgeprägte Ängstlichkeit. Bei den Beziehungen zu Gleichaltrigen ist zum Beispiel eine geringe Beliebtheit zu nennen.
Wer sind die Täter?
So wie es keine „typischen“ Mobbing-Opfer gibt, existieren auch keine „typischen“ Täter. Aber auch hier lassen sich risikoerhöhende Faktoren für Mobbing-Täter benennen, die sich ebenfalls in der Person des Täters selbst, in seinen Familienbeziehungen, in seinen Beziehungen zu Gleichaltrigen, in der Schul- und Klassengemeinschaft sowie in der Gesellschaft finden lassen. So wird das Risiko, Täter zu werden zum Beispiel durch eine positive Einstellung zu Aggression, eine geringe Empathiefähigkeit oder eine geringe Ängstlichkeit erhöht. Risikoerhöhende familienbezogene Faktoren sind zum Beispiel ein autoritärer Erziehungsstil, familiäre Gewalterfahrung oder ein geringer familiärer Zusammenhalt.
Aus welchen Gründen fangen Kinder oder Jugendliche an, Mitschüler zu mobben?
Die Gründe für Mobbing sind recht vielschichtig. So berichten Täter von Statuserhöhung oder Statuserhalt innerhalb einer Gruppe, Langeweile, Spaß, Rache oder dem Ausleben von Macht als Beweggründe für Mobbing. Diese Motive können von unterschiedlichen diskriminierenden Einstellungen der Täter mitbestimmt werden. So können Täter beispielsweise negativ bezüglich bestimmter ethnischer und sozialer Herkünfte, Behinderungen oder sexueller Identitäten eingestellt sein und Personen, die entsprechende Merkmale aufweisen, mit größerer Wahrscheinlichkeit mobben.
Welche Folgen kann Mobbing für Betroffene haben?
Mobbing kann sowohl für Opfer als auch für Täter mit negativen Konsequenzen wie verschlechterten Schulleistungen, geringerem Wohlbefinden, schlechterer psychischer Gesundheit und gesteigertem gesundheitlichen Risikoverhalten einhergehen. Grundsätzlich lässt sich sagen: Je früher, je häufiger und je länger Kinder und Jugendliche Mobbinghandlungen ausgesetzt sind, desto gravierender sind die Folgen für ihre weitere Entwicklung. Mobbing gilt auch als ein Risikofaktor für Suizidgedanken, Suizidversuche und vollzogene Suizide. Jedoch dürfen dabei weitere vorhandene Risikofaktoren nicht unberücksichtigt bleiben, weshalb Mobbing als alleiniger Faktor nur einen geringen Erklärungswert für Suizid besitzt.
Wie genau kann man Mobbing vorbeugen und wie entgegensteuern, wenn bereits Schüler gemobbt werden?
Es ist von entscheidender Bedeutung, dass bei Mobbing genau hingeschaut und schnell gehandelt wird. Welche Handlungen genau auf einen Mobbing-Fall erfolgen, hängt entscheidend von der Haltung und dem Können der damit befassten Personen ab. Erfolgreiche Reaktionen setzen die Grundhaltung voraus, dass Mobbing ein Problem darstellt und nicht geduldet wird, sowie Kenntnisse zu Maßnahmen gegen Mobbing, um die im jeweiligen Fall geeigneten Strategien auswählen und durchführen zu können.
Konnte in Studien belegt werden, dass Präventions- und Interventionsprogramme wirken?
Ja, es existieren einige Präventions- und Interventionsprogramme, die positiv evaluiert wurden, also deren Wirksamkeit in wissenschaftlichen Studien belegt werden konnte. Exemplarisch können hier das Anti-Mobbing-Programm von Olweus oder das Fairplayer.Manual von Scheithauer und Bull genannt werden.
Stichwort Cybermobbing: Würden Sie sagen, dass Mobbing an Schulen durch die sozialen Medien stärker geworden ist? Und welche neuen Gesichter hat es dadurch angenommen?
Das lässt sich nicht mit Sicherheit sagen, aber Cybermobbing stellt gewiss ein ernstzunehmendes Problem dar. Bedeutsam ist Cybermobbing insbesondere, weil Täter ihre Opfer durch die Verwendung elektronischer Medien zu jeder Zeit und an jedem Ort attackieren können und die Opfer dadurch nahezu sämtliche Rückzugsgebiete verlieren.

Wie kann man speziell gegen Cybermobbing vorgehen?
Ist man als Kind oder Jugendlicher betroffen, sollte man sich zunächst Unterstützung von den Eltern und eventuell den Lehrkräften des Vertrauens einholen. Grundsätzlich sollte man nicht auf Angriffe reagieren, sondern stattdessen prüfen, ob man den Cyber-Täter kennt. Das ist – ganz im Gegensatz zur verbreiteten Meinung, Anonymität sei Voraussetzung für Cybermobbing – bei etwa 50 Prozent der Fall. Falls ja, sollte der Täter aus den Kontaktdaten gelöscht werden, um ihm den Zugriff auf zum Beispiel Statusmeldungen zu erschweren. Daneben sollten Beweise von den Handlungen des Täters zum Beispiel durch Screenshots gesichert werden. Im Anschluss an die Beweissicherung sollten diskreditierende Texte, Bilder oder Videos gelöscht und/oder diese dem Betreiber der jeweiligen Online-Dienste gemeldet werden. Und letztlich sollte in schwerwiegenden Fällen die Polizei eingeschaltet und gegebenenfalls Anzeige erstatten werden.
In welchen Fällen kann Mobbing in Schulen denn strafrechtlich relevant werden?
Mobbing hat dann strafrechtliche Relevanz, wenn durch Mobbinghandlungen Tatbestände des Strafgesetzbuches (StGB) tangiert werden wie zum Beispiel Beleidigung (§185 StGB), Körperverletzung (§223 StGB) oder Nötigung (§240 StGB) und diese Handlungen durch strafmündige Personen, also Personen, die das 14. Lebensjahr vollendet haben (§19 StGB), ausgeführt werden.