Helen Mirren ist die Grande Dame des britischen Kinos. Mittlerweile wird sie auch als Fashion-Ikone gefeiert, aber durch ihre überragende Schauspielkunst wird auch jede Rolle zum Ereignis. Sie spielt einfach so, wie sie es am besten kann: mit Herz, Verstand und Sinnlichkeit.
Helen Mirren hat sich einen ganz besonderen Stellenwert erarbeitet: Charakter-Darstellerin, Mode-Ikone, Vorbild. Gerade erst lief sie mit Ende 70 als Model auf der Paris Fashion Week. Der bekannte Spruch „guter Wein wird mit dem Alter immer besser“ trifft wohl auf keine andere Star-Schauspielerin besser zu als auf sie. Helen Mirren war über 40, als sie in dem Kultfilm „Der Koch, der Dieb, seine Frau & ihr Liebhaber“ zur erotischen Sensation wurde; sie war 50, als sie für „King George – Ein Königreich für mehr Verstand“ ihre erste Oscarnominierung erhielt und über 60, als sie den Oscar für die Titelrolle in „Die Queen“ bekam. Und jetzt, mit 78, ist sie noch immer auf der Höhe ihrer Kunst und begeistert durch ihre Wandlungsfähigkeit, wie ein kurzer Blick auf ihre aktuellen Projekte zeigt: Gerade noch war sie in dem Boliden-Kracher „Fast & Furious 10“ zu sehen, spielte dann in dem Biopic „Golda“ die israelische Ministerpräsidentin Golda Meir und sorgte in der epochalen Western-TV-Serie „1923“ als Materfamilias zusammen mit Harrison Ford dafür, dass die ikonische Yellowstone-Ranch nicht vor die Hunde geht.
Helen Mirren gehört ganz ohne Zweifel zum Kreis der hochkarätigen Stars, die all jene Lügen strafen, die behaupten, Frauen ab einem gewissen Alter würden in Hollywood keine interessanten Rollen mehr angeboten bekommen. „Das trifft auf mich zum Glück nicht zu. Ich glaube sogar, dass die Rollen besser werden, wenn man erst einmal das ‚Sexy-junges-Ding‘-Image hinter sich gelassen hat. Ich finde es jedenfalls total aufregend, dass man mich vor einiger Zeit sogar auch noch für den Action-Film entdeckt hat“, meint sie mit einem Lächeln auf den Lippen. „Und abgesehen davon“, fährt sie fort, „habe ich auch nie wirklich verstanden, weshalb Frauen – auch wenn sie schon etwas älter sind – eigentlich nicht mehr erotisch oder begehrenswert sein sollten. Denn für die Lebenslust gibt es doch kein Verfallsdatum.“
„Für Lebenslust gibt es kein Verfallsdatum“
Wie Recht sie hat. In ihrer Gegenwart denkt man gar nicht an ihr Alter. Man ist vielmehr vollkommen gefangen von ihrer charmanten und verführerischen Ausstrahlung, die unter vielen anderen schon Hollywoodstars wie Bruce Willis, Nicolas Cage und John Malkovich ins Schwärmen brachten. „Helen ist die einzige Frau, die ich kenne, die in einem tief ausgeschnittenen Abendkleid genauso sexy aussieht wie in einem hochgeschlossenen Kampfanzug zum Maschinengewehr im Anschlag“, meinte Malkovich, nachdem er für die beiden „R.E.D.“-Thriller vor einigen Jahren gemeinsam mit Mirren vor der Kamera stand.
Helen Mirren wurde 1945 als Helen Lydia Mironoff in London geboren. Sie hat russische Wurzeln, auf die sie auch heute noch sehr stolz ist. Ihr Großvater, Mitglied einer aristokratischen Familie, floh nach der russischen Revolution ins Exil nach England. Ihr Vater arbeitete als Taxifahrer und hatte vor allem das Ziel, sich nicht nur zu integrieren, sondern vollkommen zu assimilieren. Auch deshalb änderte er 1950 den Familiennamen in Mirren. Ein stromlinienförmiges Leben schien auch für Helen vorprogrammiert zu sein. Doch sie wollte sich auf gar keinen Fall vom spießigen britischen Establishment vereinnahmen lassen. „Schon in der Schule habe ich gerne rebelliert. Und dann ist es passiert: Mit 13 Jahren habe ich im Theater eine Shakespeare-Aufführung von ‚Hamlet‘ gesehen, die meine Welt völlig auf den Kopf gestellt hat. Ich dachte bloß: So etwas gibt es also auch! Es gibt mehr als nur Fernsehen, Spießbürger und langweiliges Kleinstadtleben! Das war mein Schlüsselerlebnis. Von da an wollte ich unbedingt Schauspielerin werden. Sehr zum Kummer meiner Eltern, die beide aus der Arbeiterklasse stammten und natürlich wollten, dass ihre Tochter etwas ‚Anständiges‘ lernen sollte. Doch ich habe mich schließlich durchgesetzt – und meine Entscheidung seitdem keinen Tag bereut. Obwohl die Schauspielerei anfangs eine ziemlich brotlose Kunst war. Ich wusste damals oft nicht, wovon ich die Miete bezahlen sollte.“
„Auszeichnungen sind nur ein Nebeneffekt“
Immerhin wurde Helen Mirren mit 19 Jahren als jüngste Schauspielerin überhaupt in die Royal Shakespeare Company aufgenommen und feierte auf der Bühne sehr schnell erste Triumphe. 1969 gab sie mit „Das Mädchen vom Korallenriff“ ihr Kinofilm-Debüt. Im Swinging London der 60er- und 70er-Jahre hat es Helen Mirren dann ganz schön krachen lassen: Sie hatte Affären mit etlichen Schauspielern und Musikern, ließ Aktfotos von sich machen und spielte auch noch nackt im semi-pornografischen Skandalfilm „Caligula“ mit. „Da bekam man wenigstens eine halbwegs anständige Gage“, meint sie mit gespielter Entrüstung. „Natürlich ist diese Sex-und-Gewalt-Orgie totaler Schund, aber in England wurden damals nicht so viele Filme gedreht. Ich habe zu der Zeit tatsächlich einige Filme unter dem Motto ‚Ich war jung und brauchte das Geld‘ gemacht, in denen ich mehr oder weniger hüllenlos vor der Kamera stand. Eine ganze Weile war ich sogar ziemlich verschrien als ‚die Blonde mit den großen Brüsten‘. Aber das ist lange her. Seitdem war ich in sehr vielen und sehr verschiedenen Rollen zu sehen. Eine Bandbreite, die ich als Schauspielerin auch immer wieder gesucht und sehr geschätzt habe. Ich habe Huren, Königinnen, Mütter, Chefredakteurinnen und sogar eine Expertin für die olmekische Hochkultur gespielt. Oder nehmen wir nur einmal Königin Elisabeth II. oder Hitchcocks Ehefrau und Tolstois Gattin …“
In den frühen 1980er-Jahren hatte sie eine längere Beziehung mit dem Schauspieler Liam Neeson, den sie bei den Dreharbeiten zu „Excalibur“ kennengelernt hatte. Nach der Trennung verliebte sie sich in den US-amerikanischen Regisseur Taylor Hackford („Ray“), den sie nach ein paar Jahren „wilder Ehe“ 1997 schließlich heiratete. Mit ihm drehte sie im Jahr 2010 auch den Film „Love Ranch“, in dem sie eine Bordell-Besitzerin verkörperte.
Wie kaum einer anderen Schauspielerin gelingt es Helen Mirren mit Leichtigkeit, zwischen Theater-, Fernseh- und Filmrollen hin und her zu wechseln. Darunter in Rollen, für die sie im Laufe der Zeit immer wieder mit Preisen geehrt wurde. „Ach, Auszeichnungen und Preise – das ist ein schöner Nebeneffekt meiner Arbeit. Natürlich freue ich mich darüber. Aber für mich sind diese ‚Grenzüberschreitungen‘ nur das Salz in der Suppe. Ich habe mich selbst nämlich immer als eine sehr neugierige Schauspielerin gesehen, die sich nie über das Medium definiert hat. Im Mittelpunkt meiner Arbeit steht immer die Schauspielkunst!“
Im Dezember 2003 wurde ihr eine ganz besonderer Ehrung zuteil: Sie wurde als Dame Commander des Order of the British Empire in den Adelsstand erhoben. Eine erste Auszeichnung als Commander of the British Empire im Jahr 1996 hatte sie allerdings noch abgelehnt: „Ich habe lange mit mir gerungen, ob ich diese zweite Ehrung nicht auch ablehnen sollte. Aber schließlich hat mein Stolz dann doch die Oberhand behalten“, meint sie lachend. „Letztlich habe ich es dann für meine Mutter und meinen Vater getan, die es beide leider nicht mehr miterleben konnten. Den beiden hätte es aber sicher sehr gefallen. Zur ‚Dame‘ erhoben zu werden ist in England ja eine wirklich große Sache. Es katapultiert einen sozusagen mitten ins gehobene Establishment, wo ich mich aber eigentlich noch nie gesehen habe. Und wo ich mich auch nach wie vor nicht so richtig wohlfühle.“
Wie Helen Mirren privat so tickt, das hat sie uns vor ein paar Jahren in einem Interview verraten: „In beruflicher Hinsicht bin ich sehr streng zu mir selbst. Ich nehme nämlich jede Rolle sehr ernst. Und auch privat bin ich eigentlich ein ziemlich ernster Mensch. Natürlich lache ich auch gerne. Aber ich nehme das Leben ganz sicher nicht auf die leichte Schulter. Das liegt bestimmt auch an meiner Erziehung. Wir haben zu Hause bei Tisch kaum Small Talk gemacht, sondern eher intensiv über den Sinn des Lebens diskutiert oder darüber, ob es eine Seele gibt, oder was eigentlich Kunst ist … Daher kommt wohl auch meine tiefe Liebe zur Philosophie. Ehrlich gesagt bin ich privat eher ein Kopfmensch. Es fällt mir durchaus nicht leicht, mich emotional zu öffnen – es sei denn, es steht so im Drehbuch. Aber im wirklichen Leben trage ich mein Herz ganz sicher nicht auf der Zunge.“
In den verschiedensten Rollen zu sehen
Dann kommt sie aber doch noch ins Schwärmen und legt dabei ganz besonders viel Wert darauf, dass man von ihr nicht etwa den falschen Eindruck hat, sie würde sich am liebsten bei jeder Gelegenheit in ihr Schneckenhaus zurückziehen. Denn Helen Mirren weiß natürlich, dass für eine Schauspielerin von Rang die Begegnungen mit den unterschiedlichsten Menschen immer enorm wichtig sind. „Es sind aber vor allem die talentierten, fantasievollen, intelligenten und mutigen Menschen, die mich inspirieren und mein Leben so reich machen. Wissen Sie, wir Schauspieler sind ein sehr seltsames Völkchen: eine Mischung aus Zigeunern, Schurken und Kindern, die das Träumen noch nicht verlernt haben.“
Es versteht sich von selbst, dass Helen Mirren sich als Schauspielerin immer noch ständig selbst herausfordern will. Und wie fantastisch sie diesem Anspruch gerecht wird, kann man zum Beispiel in dem Serien-Spin-off „1923: A Yellowstone Origin Story“ Staffel eins sehen, der im September mit umfangreichem Bonusmaterial als DVD erschienen ist. Oder in dem Kinofilm „White Bird“, der am 26. Oktober ins Kino kommt. Sie spielt darin die französische Großmutter Sara, die ihrer Enkelin, die sich einer mit Gesichtsdeformation geborenen Mitschülerin gegenüber sehr abschätzig gezeigt hat, eine zutiefst ans Herz gehende Geschichte aus dem im Zweiten Weltkrieg von Nazis besetzen Frankreich erzählt. Ihr nächstes Projekt heißt „Switzerland“, in dem sie unter der Regie von Anton Corbijn die große Kriminalschriftstellerin Patricia Highsmith verkörpern wird.