In Nord- und Ostsee lagern Millionen Tonnen konventionelle Munition und chemische Kampfstoffe als Relikte des Zweiten Weltkriegs. Durch Korrosion drohen gefährliche Inhaltsstoffe freigesetzt zu werden. Aber mit einer Bergungsplattform soll das Problem gelöst werden.
Die Partner der aktuellen Bundesregierung haben in ihrem Koalitionsvertrag versprochen, die Lösung eines sehr speziellen, aber drängenden und viele Jahre lang aufgeschobenen Umweltproblems endlich in Angriff zu nehmen. Die Frage, wer letztendlich die finanziellen Mittel dafür zur Verfügung stellen sollte, bleibt zwischen Bund und Ländern erwartungsgemäß heftig umstritten. Zwar definierte das Grundgesetz die Beseitigung von Kampfmitteln und Kampfmittelrückständen aus der Zeit der beiden Weltkriege grundsätzlich als Aufgabe der Bundesländer, doch im Laufe der Zeit setzte sich im Namen der sogenannten Staatspraxis eine erhebliche Beteiligung des Bundes an den Entsorgungskosten durch. Nach langem Ringen hatte sich der Haushaltsausschuss des Bundestags im November 2022, auch auf entsprechendes Drängen der Unionsparteien hin, zu einer deutlichen Aufstockung des Etats 2023 des Bundesumweltministeriums für den „Nationalen Meeresschutz“ auf insgesamt 102 Millionen Euro einigen können.
100 Millionen Euro für Plattform
Mit diesem Geld soll das „Sofortprogramm Munitionsaltlasten“ in Nord- und Ostsee gestartet werden, wobei alleine für den Bau einer schwimmenden, unbemannten und automatisierten Bergungs- und Vernichtungsplattform schätzungsweise 100 Millionen Euro benötigt werden. Pläne für dieses innovative Projekt liegen schon seit einigen Jahren vor, beispielsweise von den beiden Kieler Werften Thyssenkrupp Marine Systems und German Navals Yards. Doch scheiterte die Umsetzung bislang an konkreter Auftragserteilung mangels dafür nötigem Budget. Im Spätsommer 2023 verkündete die grüne Bundesumweltministerin Steffi Lemke dann offiziell den Bau der Entsorgungplattform für das Jahr 2024. Mit ihr soll künftig durch Kooperation mit der deutschen Wirtschaft die aus Nord- und Ostsee geborgene Munition direkt auf dem Meer unschädlich gemacht werden. „Das Ziel ist, zu Beginn 2025 dann tatsächlich Munition zu bergen und zu entsorgen. Wir betreten damit weltweit Neuland“, so Steffi Lemke. Allerdings soll auch schon vorab mit bereits vorhandener Technik eine intensivierte Kampfmittel-Räumung aufgenommen werden. Wobei die Bundesumweltministerin deutlich klarmachte, dass die beschlossenen Mittel von rund 100 Millionen Euro natürlich nicht ausreichen werden. Dass sie aber davon ausgehe, dass nach erfolgreichem Start der Plattform die weitere Finanzierung des Projekts gesichert werde.
Als Pilotregionen für die Bergung von Munitionsaltlasten wurden Ende September zwei Gebiete in der Lübecker Bucht auserkoren, die in der Ostsee neben der Kieler Außenförde als am meisten belastet angesehen werden. In der Nordsee gilt vor allem der Jadebusen als von Munitionsrückständen am stärksten betroffenes Seeterrain. Dass man sich zunächst auf die Ostsee konzentrieren möchte, dürfte dem Sachverhalt geschuldet sein, dass dort die Munition meist noch ziemlich deutlich auf dem Meeresboden zu erkennen ist, während sie in der Nordsee mehr versandet ist. Die Erkundungs- und ersten Bergungsmaßnahmen in der Lübecker Bucht, vor allem vor den Ortschaften Scharbeutz, Haffkrug, Pelzerhagen und Boltenhagen, sollen im April 2024 aufgenommen werden und zunächst einmal sechs Monate dauern. Im Laufe dieses halben Jahres möchten die Experten Erkenntnisse über den aktuellen Zustand der Munition gewinnen, um dieses Wissen bei der genauen Konzeption der Plattform einbeziehen zu können. Gleichzeitig sollen Aufträge für vergleichbare Arbeiten in der Mecklenburger Bucht ausgeschrieben werden.
„Rostende Granaten auf unseren Meeresböden sind eine der größten ökologischen Herausforderungen beim Schutz unserer Meere“, so Schleswig-Holsteins grüner Umweltminister Tobias Goldschmidt mit Blick auf den Start des Ostsee-Pilotprogramms. „Mit dem heutigen Tag beginnt das Zeitalter des Handelns. Dies ist ein Meilenstein bei der Bewältigung einer Generationenaufgabe und ein wichtiger Baustein beim Schutz unserer kranken Meere.“ Ähnlich sieht das seine Parteikollegin Steffi Lemke: „Mit dem Sofortprogramm Munitionsräumung haben wir endlich den Anschub geleistet, dieses Problem anzugehen.“ Laut manchen Experten könnte es schon bis 2040 gelingen, die gesamte Munition aus den beiden Meeren zu entfernen. Aus Sicht von Tobias Goldschmidt lässt sich eine solche Lösungs-Prognose zwar nur als „sehr ambitioniert“ einschätzen, aber: „Wir brauchen Ambitionen.“ Zumal die „derzeit existierenden Methoden im großen Maßstab zu kostenintensiv und zeitaufwendig sind“, so das Bundesministerium für Bildung und Forschung.
Bewusste Verklappung in die Meere
Es sind schon gewaltige Mengen an Munition, die vor den Küsten von Nord- und Ostsee auf dem Meeresboden nun schon fast 80 Jahre vor sich hin verrotten. Laut offiziellen Angaben des Umweltbundesamtes handelt es sich dabei um Altlasten von 1,6 Millionen Tonnen konventioneller Munition und 5.000 Tonnen chemischer Kampfstoffe. Diese waren im Zweiten Weltkrieg durch Militäroperationen oder nach Einstellung der Kampfhandlungen durch bewusste Verklappung – die Entsorgung von Abfällen und Baggergut in Gewässern – in die beiden Meere gelangt. Laut Schätzungen der Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages entfallen auf die Nordsee rund 1,3 Millionen Tonnen konventioneller Munition, auf die Ostsee lediglich 0,3 Millionen Tonnen. Dafür ist die Ostsee deutlich stärker von versunkenen chemischen Kampfmitteln betroffen, den hier vermuteten 5.000 Tonnen stehen lediglich rund 90 Tonnen in deutschen Nordseegewässern vornehmlich vor Helgoland gegenüber.
Ein Großteil der Munition wurde im Auftrag der Siegermächte ganz gezielt in Nord- und Ostsee verklappt. Deutschland sollte komplett entmilitarisiert werden – und man wollte sich des riesigen deutschen Waffenarsenals der Einfachheit halber durch Versenkung im Meer entledigen. Um ein allzu wildes Verklappen zu vermeiden, wurden von den Alliierten 18 sogenannte Munitionsversenkungsgebiete in Nord- und Ostsee eingerichtet. Allerdings warfen die Kapitäne der Entsorgungsschiffe ihre brisante Fracht teilweise schon auf dem Weg zu den offiziellen Munitionsfriedhöfen über Bord. Das sollte eine spätere genaue Kartierung ziemlich schwierig bis unmöglich machen.
2011 hatten Experten von Bund und Ländern einen Grundlagenbericht mit insgesamt 71 munitionsbelasteten Gebieten veröffentlicht. Im Jahr 2021 wurde eine Aktualisierung vorgenommen, der zufolge 21 munitionsbelastete Flächen in deutschen Meeresgewässern der Nordsee sowie 50 munitionsbelastete Regionen und 21 Verdachtsfälle in der Ostsee beschrieben worden waren. Allerdings wurde von der Bund-Länder-Arbeitsgruppe „Munitionsaltlasten im Meer“ gleich einschränkend dazu angemerkt, dass auch mit der neuen Kartografierung „nur ein geringer Teil der tatsächlich belasteten Flächen bekannt sei“. Die Mehrzahl der bei den offiziellen Entsorgungsfahrten verklappten Sprengkörper waren ohne Zünder versenkt worden, da die Alliierten ja keine Minenfelder auf dem Meeresboden anlegen wollten. Dennoch ist auch heute eine Bergung durch Kampfmittel-Experten mit erheblichen Risiken behaftet, weil sich zwischen all den zünderlosen Bomben, Granaten oder Torpedos auch noch scharfe, nicht explodierte Blindgänger befinden können. Die auch schon mal Fischern ins Netz gehen und dadurch an Bord tödliche Unfälle verursachen können. Auch bei der Verlegung von Versorgungskabeln und Pipelines oder dem Ausbau der Offshore-Windanlagen können potenziell gefährliche Munitionsfunde ein erhebliches Problem darstellen. Mit großem Aufwand müssen Kampfmittelräumdienste dann solche Blindgänger entschärfen. Für den Fall, dass dies nicht möglich sein sollte, bleibt nur eine kontrollierte Sprengung vor Ort, was allerdings wegen der dabei entstehenden gewaltigen Druckwelle beträchtliche negative Auswirkungen auf Fische und Meeressäuger haben kann. (Deshalb wird bei Sprengungen, bei denen die schädlichen Inhaltsstoffe ohnehin nicht vollständig vernichtet, sondern teilweise ins Meer freigesetzt werden, inzwischen meist ein Schall und Druckwelle mindernder sogenannter Blasenschleier eingesetzt.)
Drohendes Umweltdeaster durch Korrosion
Doch das größte Umweltdesaster droht inzwischen durch die zunehmende Korrosion der Metallhüllen der Sprengkörper, die im Salzwasser nach rund 80 Jahren teilweise schon durchgerostet sind und daher ihre gefährlichen, hochgiftigen oder auch krebserregenden Inhaltsstoffe im Meer verbreiten. In eigens für Forschungszwecke in hoch belasteten Zonen ausgesetzten Miesmuscheln konnte schon eine hohe Konzentration von Abbauprodukten der Sprengstoff-typischen Verbindungen (STV) wie Trinitrotoluol (TNT) nachgewiesen werden. Die gleiche Schadstoffsubstanz, die zentraler Bestandteil konventioneller Munition ist und als giftig, krebserzeugend und auch als erbgutverändernd angesehen wird, konnte auch in Lebern von Plattfischen ermittelt werden, die in der Nähe von Munitionslagerstätten gefangen worden waren. Auch die in konventioneller Munition enthaltenen Schwermetalle wie Quecksilber können nach dem Wegrosten der Metallhüllen in das Meerwasser gelangen. Auch wenn der analytische Nachweis dieser Schwermetalle noch sehr schwierig ist, weil sie bislang nur in sehr geringen Konzentrationen festgestellt werden konnten. Dennoch wird von einer Anreicherung in Meeresorganismen wie Muscheln ausgegangen. Die Gefahr, dass sich all diese Schadstoffe bei weiterem Nichthandeln der politisch Verantwortlichen auch in der menschlichen Nahrungskette niederschlagen könnten, ist längst nicht mehr von der Hand zu weisen.
Chemische Kampfstoffe sind in der Regel schwerer als Wasser, mit Ausnahme des Nervenkampfstoffs Tabun. Versenkter chemischer Kampfstoff zeigt somit keine Tendenz, an die Meeresoberfläche aufzusteigen und dort dann verdriftet zu werden. Zudem werden nach Reaktion der chemischen Kampfstoffe mit Meerwasser in der Regel deutlich weniger toxische Stoffe freigesetzt. Mit Ausnahme von sogenanntem Zäh-Lost (und in geringerem Maße auch dem typischen Hautkampfstoff S-Lost) sowie einigen arsenhaltigen Verbindungen. Zäh-Lost, eine Mischung von S-Lost mit einem Verdickungsmittel, kann auch längere Zeit nach Freisetzung aus Munitionsbehältern in Form von mehr oder weniger elastischen Brocken auftreten und noch seine volle Wirksamkeit als Hautkampfstoff entfalten, wenn es beispielsweise durch Fischernetze an die Meeresoberfläche gelangt. Die meisten bisher bekannten Unfälle mit chemischen Kampfstoffen wurden durch Zäh-Lost als Klumpen in Fischernetzen rund um das Versenkungsgebiet östlich der dänischen Ostseeinsel Bornholm verursacht. Die arsenhaltigen Verbindungen Clark I, Clark II und Adamsit können aufgrund ihrer Beständigkeit laut dem Umweltbundesamt „auch längerfristig im maritimen Milieu existieren und insbesondere im Sediment lokal in höheren Konzentrationen verbleiben“. Ein aktuell weitaus größeres Gefahrenpotenzial geht von weißem Phosphor aus, der als verheerender Wirkstoff in bestimmter Brandmunition, vor allem den gefürchteten Phosphor-Brandbomben, Verwendung gefunden hatte.
Brocken davon, die äußere Ähnlichkeit mit Bernstein aufweisen können, werden häufiger an Ostseestränden angespült, vor allem bei Usedom, wo während des Krieges rund 1,2 Tonnen Phosphor-Bomben durch Fehlabwürfe ins Meer gelangt waren. Urlauber werden mit Warntafeln vor dem Anfassen der Brocken gewarnt, denn weißer Phosphor kann sich bereits bei Temperaturen zwischen 20 und 40 Grad selbst entzünden und dabei bis zu 1.300 Grad Hitze entwickeln.