Die Meere heizen sich weltweit auf – das beeinflusst nicht nur den Lebenszyklus einzelner Arten, sondern sogar ganze Nahrungsnetze. Experten geben einen Einblick, wie es um den Nordsee-Kabeljau und den Ostsee-Hering steht.
Die Ozeane haben sich in diesem Jahr stärker erwärmt als bisher – Schuld daran, sind das Wetterphänomen El Niño und die schwächer gewordenen Passatwinde im Atlantik. Selbst hierzulande ist diese Tendenz schon seit einiger Zeit zu bemerken. An der Helgoländer Reede in der Nordsee etwa haben sich die Meerestemperaturen zwischen 1962 und 2019 um 1,9 Grad erhöht. Dort untersucht die Biologische Anstalt des Alfred-Wegener-Instituts (AWI) das Nordseewasser in einer lang angelegten Messreihe. Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler des AWI erklärten, dass die Standorte der Deutschen Bucht, also ein flaches, von Landmasse begrenztes Meer, stärker vom jahreszeitengeprägten Kontinentalklima beeinflusst werde als durch das feuchtere und temperaturstabilere Atlantikklima. Dadurch erwärmten sich die Gebiete in der südlichen Nordsee schneller als die in der nördlichen, wie die schottische Küste. Es sind vor allem drei Stressfaktoren, die dafür sorgen, dass das natürliche Gleichgewicht der Meere erheblich gestört wird: die globale Erwärmung der Meere, die Ozeanversauerung, die durch die in die Atmosphäre ausgestoßenen Treibhausgase zugenommen hat, und die infolge des Klimawandels veränderten Strömungsverhältnisse in den Meeren. Auch das Plastik in den Ozeanen, Schadstoffen und Lärmeinträge stresst die Meereslebewesen.
Bestände durch Wärme und Fischerei überlastet
Viele Meeresbewohner – vom Aal bis zur Meeresschildkröte – haben sich an die vorherrschenden Strömungen angepasst, ihr gesamter Lebenszyklus orientiert sich an ihnen.
Die nordatlantische Drift, die die meisten als Golfstrom kennen, beginnt sich in Zeiten des Klimawandels abzuschwächen. „Viele Tiere haben sich im Lauf der Evolution an diesen großen atlantischen Strom angepasst und nutzen ihn als Transportmittel. Ein prominentes Beispiel ist der Aal“, sagt Dr. Gerd Kraus, Direktor des Thünen-Instituts für Seefischerei in Bremerhaven. Kurz: Wenn der Golfstrom ins Stottern kommt, gerät auch der Lebenszyklus des Aals, speziell das Driften der Larven aus der Karibik zurück an die europäischen Küsten, aus dem Takt.
Das Rostocker Thünen-Institut für Ostseefischerei beobachtete anhand von Langzeitdaten, dass die Heringe angesichts des Klimawandels nicht mehr so gut heranwachsen. Die Ostseeheringe beginnen normalerweise im späten Winter mit dem Laichen. „Das Laichgeschehen wird durch die steigenden Wassertemperaturen im Frühjahr gesteuert. Steigt die Temperatur über circa vier Grad an, ist das das Signal für den Hering, zu den Laichgründen zu schwimmen und sich zu reproduzieren“, beschreibt Gerd Kraus den Prozess.
Doch wegen der milderen Winter in jüngster Zeit werde dieser Schwellenwert im Wasser immer frühzeitiger erreicht. Wenn nach einigen Wochen in den küstennahen Gewässern und Bodden die Heringslarven ausschlüpfen, finden sie kaum Zooplankton und verhungern. Damit ausreichend Zooplankton heranwachsen kann, benötigen die Kleinkrebse selbst allerdings ausreichend Nahrung. Das ist in aller Regel das pflanzliche Phytoplankton, das jedoch erst zu blühen beginnt, wenn genügend Licht für die Photosynthese zur Verfügung steht. „Weil der gesamte Prozess vom Phytoplankton zum Zooplankton durch die Länge des Tageslichts gesteuert ist, der Schlupf der Heringslarven aber von den Wassertemperaturen abhängt, kommen beide Prozesse durch den Klimawandel aus dem Takt“, schildert Gerd Kraus. Unter dem Effekt des Klimawandels und hohem Fischereidruck in der Vergangenheit ist der Bestand des Ostseeherings seit Anfang der 2000er-Jahre immer mehr geschrumpft.
Auch dem Kabeljau in der südlichen Nordsee macht der Klimawandel zu schaffen. Allerdings sind bisher die genauen Prozesse noch nicht so gut verstanden wie im Fall des Ostseeherings. „Wir vermuten, dass beim Nordsee-Kabeljau ähnliche Probleme vorherrschen wie beim Hering in der westlichen Ostsee“, sagt der Fischereibiologe. Daneben können in der Nordsee große Mengen junger Kabeljau als Beifang in den Netzen landen. „Einmal gefangen hat der Kabeljau relativ geringe Überlebenschancen, selbst wenn er ins Wasser zurückgesetzt würde“, sagt Gerd Kraus.
Die schleichende Erwärmung der Meere gefährdet auch tropische Fischarten, denn sie leben ohnehin in warmen Gewässern. Genauer gesagt trifft es vor allem jene Fische, deren Lebensraum Korallen sind. „In der Regel handelt es sich dabei nicht um die Arten, die bei uns in Europa auf dem Teller landen, sondern um Arten wie Schnappfisch und Zackenbarsche, die aus Sicht der Fischerei für lokale Gemeinschaften und für den Tourismus wichtig sind“, sagt Prof. Dr. Oscar Puebla, der einen gemeinsamen Lehrstuhl für Fischökologie am Institut für Chemie und Biologie des Meeres (ICBM) der Universität Oldenburg und am Leibniz-Zentrum für Marine Tropenforschung in Bremen innehat. Tropische Arten stießen zunehmend an die Grenze ihrer physiologischen Leistungsfähigkeit und seien im Vergleich zu den Arten der gemäßigten Zonen, die ihrerseits großen saisonalen Schwankungen ausgesetzt seien, nicht an schwankende Temperaturen angepasst. Auf der anderen Seite schrumpfe das Verbreitungsgebiet von Kaltwasserarten, wenn die Wassertemperaturen steigen. Das habe zur Folge, dass den in Kaltwasser lebenden Arten irgendwann nicht mehr möglich ist, in Richtung der Pole zu wandern.
Wenn der Temperaturanstieg der Ozeane fortschreitet, so könnten vor allem endemische Arten, also deren Vorkommen auf ein kleines Gebiet konzentriert ist, nicht mehr überlebensfähig sein. „Ein gutes Beispiel ist der Galápagos-Riffbarsch (Azurina eupalama), der vor Galapagos und der Kokos-Insel heimisch ist.
„Eine Stabilisierung ist schwierig geworden“
Die endemische Art hat unter dem El-Niño-Ereignis Anfang der 80er-Jahre gelitten und ist nun stark gefährdet und womöglich ausgestorben“, berichtet Oscar Puebla. Auch Haie und Rochen seien aufgrund ihrer Anfälligkeit für die Fischerei und ihrer langsamen Lebensweise gefährdet.
Daneben werden auch die marinen Nahrungsnetze gestört, in denen die Meeresbewohner auf vielfältige und komplexe Weise voneinander abhängen. „Es ist nicht einfach, Nahrungsnetze überhaupt zu rekonstruieren, weil uns immer noch grundlegendes Wissen über die Ernährung der Arten fehlt. Deshalb ist es noch schwieriger zu untersuchen, wie das Nahrungsnetz durch den Klimawandel beeinflusst wird“, erklärt Oscar Puebla. Zumindest gibt es erste Anzeichen dafür, dass der Klimawandel dazu beiträgt, die Nahrungsnetze auf allen Ebenen zu beeinträchtigen. Wie sie sich gewandelt haben, lässt sich etwa in der Arktis beobachten, genauer im hocharktischen Kongsfjord. Forschende des AWI stellten fest, dass an der Westküste Spitzbergens neue Krillarten einwanderten. Während dort früher nur zwei Krillarten regelmäßig vorkamen, waren es in einem Untersuchungszeitraum von sieben Jahren bis zu fünf Arten.
Können die Ökosysteme der Meere ins Lot gebracht werden? „Durch den globalen Klimawandel und die intensive Meeresnutzung sind wir an einem Punkt angelangt, an dem eine echte Stabilisierung schwierig geworden ist“, sagt Gerd Kraus. Der aktuelle Zustand der Ozeane zeige, dass sich die Meere bereits deutlich verändert haben. Die physikalischen Grundbedingungen seien nämlich andere als noch vor 50 oder 60 Jahren, sagt der Fischereibiologe.
„Ökosysteme sind am resilientesten, wenn sie vielfältig sind. Daher sollten wir uns bemühen, die biologische Vielfalt zu erhalten“, appelliert er.