In den westeuropäischen Ländern leidet etwa ein Prozent der Menschen unter einer Epilepsie. Der renommierte Neurologe und Epileptologe Dr. Günter Krämer gibt Einblicke in diese Erkrankung, die inzwischen eine Alterskrankheit geworden ist.
Herr Dr. Krämer, was genau ist Epilepsie?
Eine Epilepsie ist Ausdruck oder Folge einer Störung des Gehirns, die zu wiederholten epileptischen Anfällen führt. Das hört sich sehr allgemein und vieldeutig an, aber genauso ist es auch.
Trotz immer besserer Kenntnisse wissen wir auch heute immer noch nicht genau, warum es zu einem bestimmten und in der Regel nicht genau vorhersehbaren Zeitpunkt zu einem Anfall kommt und in der mehr oder weniger langen Zwischenzeit nicht. Wir wissen allerdings, dass sehr viele verschiedene Einflüsse körperlicher und psychischer Art das Auftreten von Anfällen begünstigen können.
Wie sehen epileptische Anfälle aus?
Epileptische Anfälle können sehr unterschiedlich aussehen. Kurz gesagt kann alles, was im Gehirn geschehen kann beziehungsweise was die Nervenzellen des Gehirns bewirken können, auch epileptisch bedingt sein. Der sogenannte große Anfall – „Grand mal“ – mit Bewusstseinsverlust, Hinstürzen und zunächst Versteifung und dann rhythmischem Krampfen an Armen und Beinen für ein bis zwei Minuten ist dabei nur eine Form und keineswegs die häufigste.
Häufigste Anfallsform bei Kindern sind die sogenannten Absencen. Dies sind kleine, sehr kurze, nur wenige Sekunden dauernde epileptische Anfälle ohne Krampfen. Führendes Zeichen ist eine kurze Abwesenheit mit fehlender Ansprechbarkeit und Erinnerungslücke (Amnesie). Weil sie wenig dramatisch sind, wurden Absencen früher Petit-mal-Anfälle (französisch: „kleines Übel“; Anm. d. Red.) genannt. Erwachsene haben oft sogenannte fokale, von einer Stelle des Gehirns ausgehende Anfälle, die sich allerdings auch zu „großen“ Anfällen ausweiten können.
Epileptische Anfälle können auch rein subjektiv sein, also mit Symptomen einhergehen, die nur von den Betroffenen und nicht von Dritten wahrgenommen werden. Dies kann ein umschriebenes Kribbelgefühl in einer Hand sein, eine meist eher unangenehme Geruchswahrnehmung oder ein Gefühl, etwas Bestimmtes schon einmal gesehen, gehört oder erlebt zu haben.
Die Häufigkeit der Anfälle unterscheidet sich bei den verschiedenen Epilepsieformen stark. Es gibt Menschen mit Epilepsie, die nur sehr seltene Anfälle mit langen beschwerdefreien Intervallen haben, und es gibt solche, die jede Woche oder manchmal sogar jeden Tag Anfälle haben. Anfälle können auch so kurz hintereinander oder sogar ohne Pause auftreten, dass man von einem „Status epilepticus“ spricht.
Steckt hinter jedem Krampfanfall eine Epilepsie?
Nein, ein epileptischer Anfall ist keineswegs gleichbedeutend mit Epilepsie. Etwa jeder zehnte Mensch erleidet im Verlauf seines Lebens mindestens einen epileptischen Anfall, nur wiederum etwa jeder Zehnte von diesen – knapp ein Prozent der Bevölkerung – hat oder bekommt eine Epilepsie.
Sehr viele epileptische Anfälle sind sogenannte akute symptomatische Anfälle, das heißt akute Reaktionen des Gehirns auf Reize, früher auch als Gelegenheitsanfälle bezeichnet. Der häufigste Reiz bei Kleinkindern ist Fieber, bei dem bestimmte Stoffe im Blut durch die in diesem Alter noch teilweise durchlässige sogenannte Blut-Hirn-Schranke (eine dünne Membran, die Gehirn und Rückenmark umgibt; Anm. d. Red.) in das Gehirn gelangen und Anfälle auslösen. Entsprechende Anfallsauslöser bei Erwachsenen können zum Beispiel Durchblutungsstörungen des Gehirns, Kopfverletzungen oder schädlicher Gebrauch von Alkohol oder Drogen sein. Auch wenn es zu mehreren akuten symptomatischen Anfällen kommt, liegt keine Epilepsie vor.
Eine Epilepsie wird von der Internationalen Fachgesellschaft als eine Störung des Gehirns bezeichnet, die durch eine dauerhafte Neigung zur Entwicklung epileptischer Anfälle sowie durch die neurologischen und biologischen, kognitiven (Denken und Gedächtnis betreffenden), psychologischen und sozialen Konsequenzen dieses Zustands gekennzeichnet ist. Die Definition einer Epilepsie setzt das Auftreten mindestens eines epileptischen Anfalls voraus, was aber nur dann ausreicht, wenn es weitere entsprechende Informationen gibt und mit relativ hoher Wahrscheinlichkeit mit weiteren Anfällen zu rechnen ist.
Mit welchen Symptomen und weiteren Erkrankungen kann Epilepsie einhergehen?
Epileptische Anfälle und Epilepsien gehen häufig nicht nur mit körperlichen Störungen wie Kopfschmerzen oder einem Zungenbiss einher, sondern auch mit psychischen Störungen wie Gedächtnisstörungen, Angst oder Depression.
Welche Folgen kann ein Anfall haben?
Mögliche, aber erfreulicherweise vergleichsweise seltene Folgen eines epileptischen Anfalls bestehen in sturzbedingten Verletzungen, die von harmlosen Platzwunden über Knochenbrüche bis hin zu Herz-Kreislauf-Störungen und sogar einem meist nur kurzfristigen Herzstillstand reichen können. Ein unwillkürlicher Urinabgang während eines Anfalls hat dabei keine Bedeutung, sondern kommt bei einer vollen Blase auch bei anderen Bewusstseinsstörungen vor. Eine sehr seltene Folge eines Anfalls kann ein sogenannter plötzlicher unerwarteter Tod bei Epilepsie (engl.: sudden unexpected death in epilepsy oder SUDEP; Anm. d. Red.) sein.
Wie können sich epileptische Anfälle ankündigen? Und kann man diesen entgegensteuern?
Bei den epileptischen Anfällen wird zwischen fokalen (von einem „Herd“ beziehungsweise einer bestimmten Stelle im Gehirn ausgehenden) und generalisierten (von Anfang an beide Gehirnhälften beteiligenden) Formen unterschieden. Generalisierte Anfälle gehen für die Betroffenen mit einem sofortigen Bewusstseinsverlust einher, kündigen sich also nicht an. Bei den fokalen Anfällen sind sehr viele verschiedene Ankündigungszeichen oder Vorboten möglich. Häufiger ist dies zum Beispiel ein vom Bauch langsam über die Speiseröhre zum Kopf aufsteigendes Übelkeitsgefühl. Daneben sind viele andere Wahrnehmungen als erstes Zeichen eines Anfalls möglich.
Wie kann man Epilepsie diagnostizieren?
Die Diagnose einer Epilepsie stützt sich bei sehr vielen Menschen neben der Vorgeschichte – zum Beispiel weitere Epilepsie-Erkrankungen in der Familie – auf die Anfallsbeschreibung der Betroffenen selbst, besonders bei fokalen, bewusst erlebten Anfällen, die Ableitung eines EEGs und die Durchführung einer bildgebenden Diagnostik des Gehirns mittels Magnetresonanztomographie. Auch bei einer Epilepsie kann das EEG unauffällig sein und auch beim MRT ist dies häufig der Fall. Nach einem ersten Anfall ist dann häufiger eine abwartende Strategie sinnvoll. Besonders bei Kindern mit anderen Hinweisen auf eine Hirnschädigung kann eine genetische Untersuchung weiterhelfen, bei anderen Patienten kann die Ableitung eines Langzeit-EEGs sinnvoll sein.
Welche Ursachen nimmt die Forschung an?
Die möglichen Ursachen einer Epilepsie bestehen in allem, was das Gehirn schädigen kann. Neben zahlreichen genetischen, angeborenen Einflüssen inklusive Stoffwechselstörungen mit Beteiligung des Gehirns oder Fehlbildungen des Gehirns gibt es viele andere mögliche Ursachen wie Durchblutungsstörungen, Entzündungen oder Tumoren des Gehirns. Auch sogenannte Autoimmunerkrankungen spielen eine zunehmend erkannte wichtige Rolle. Nach wie vor gelingt es aber auch bei Einsatz aller zur Verfügung stehenden Methoden bei vielen Epilepsien noch nicht, die jeweilige Ursache herauszufinden.
Wie viele Menschen leiden in etwa an Epilepsie?
In Deutschland und den anderen westeuropäischen Ländern sind knapp ein Prozent der Bevölkerung von einer Epilepsie betroffen. Man geht hierzulande entsprechend von etwa 80.000 Menschen aus, weltweit von über 50 Millionen.
Sind Frauen, Männer und Kinder gleichermaßen betroffen?
Männer haben insgesamt etwas häufiger eine Epilepsie als Frauen. Während Epilepsie noch vor wenigen Jahrzehnten mehr oder weniger als Kinderkrankheit galt, beginnen inzwischen mehr Epilepsien in der zweiten als in der ersten Lebenshälfte – Epilepsie ist also zu einer Alterskrankheit geworden. Dies ist sowohl Folge des deutlichen Anstiegs der durchschnittlichen Lebenserwartung als auch von mit einer Epilepsie einhergehenden Alterskrankheiten wie Schlaganfällen oder der Alzheimer-Krankheit und anderen Demenzen.
Welche Möglichkeiten gibt es in der Therapie?
Die Therapie einer Epilepsie stützt sich auf eine Beachtung von einigen Verhaltensweisen wie einem weitgehend regelmäßigen Schlaf-Wach-Rhythmus und ausreichend Schlaf sowie Meiden von Drogen – Alkohol in kleinen Mengen ist möglich – und bei den allermeisten Epilepsien auf die regelmäßige Einnahme von anfallsunterdrückenden Medikamenten. Davon stehen inzwischen sehr viele zur Auswahl und die Kunst der Ärzte besteht darin, für jeden Patienten das oder manchmal auch die richtigen herauszufinden, um das Therapieziel – ein Maximum an Anfallsfreiheit bei einem Minimum an Nebenwirkungen und einem Optimum an Lebensqualität – zu erreichen. Wenn alleine mit Medikamenten keine Anfallsfreiheit erreicht werden kann, sollte möglichst früh in einem spezialisierten Epilepsiezentrum überprüft werden, ob die Möglichkeit einer Operation – eines epilepsiechirurgischen Eingriffs – besteht. Erwähnt sei auch noch, dass es neben Medikamenten und Operationen mit Entfernung von für die Epilepsie verantwortlichem Hirngewebe inzwischen auch noch andere Therapieansätze gibt. Besonders im Kindesalter ist bei vielen Epilepsien eine sogenannte ketogene Diät erfolgreich und es gibt einige Neurostimulationsmethoden, die das Gehirn mit schwachen elektrischen Impulsen stimulieren und so eine Epilepsie günstig beeinflussen können.