Vulkane bestimmen seit jeher das Leben auf Island. Forscher bemühen sich, Ausbrüche so sicher vorherzusagen wie das Wetter. Doch was im Erdinneren vor sich geht, bleibt geheimnisvoll.
Askja ist anders als die anderen Vulkane. Über Askja weiß kaum jemand wirklich Bescheid, dafür kommt man zu schlecht an ihn ran. Er liegt vom größten Gletscher Europas flankiert im vereisten isländischen Hochland. Was man weiß: 1.516 Meter ist der Vulkan hoch, sein System aus unterirdischen Kanälen erstreckt sich über 150 Kilometer nach Norden und über weitere 30 Kilometer in den Süden. Von 1874 bis 1929 brach er so oft explosiv aus, dass Isländer diese Zeit als „Jahre des Askja-Feuers“ kennen. Und er hat wieder angefangen zu rumoren.
Schon im Juli 2022 trafen sich Forscher des Isländischen Wetterdienstes, des Instituts für Geowissenschaften und Mitarbeiter des Katastrophenschutzes, um die Lage des Vulkans zu besprechen. Immer wieder hatten sie Beben verzeichnet, das steigende Magma in der Vulkankammer hatte den Erdboden innerhalb nur eines Jahres um 35 Zentimeter angehoben. Und so schickten Zeitungen, Radio- und TV-Sender eine Warnung um die Welt: Askja steht wohl kurz vor einem Ausbruch.
Wenige Wochen später die Entwarnung. Askja schien sich beruhigt zu haben, das bestätigten Messungen bis in den November. Im Januar stieg die Aktivität wieder, baute sich über den Februar hinweg weiter auf, bis es am 5. März 2023 von mehreren Forschern hieß: „Ein Ausbruch von Askja scheint unmittelbar bevorzustehen.“ Die Medienberichte in den Tagen danach waren ziemlich chaotisch: Warnung, Entwarnung, neue Warnung; teilweise lagen nur Tage zwischen den Einschätzungen.
Die Entwicklung um Askja ist so etwas wie ein Symbol für die Vulkanologie. Höchstes Ziel dieser Wissenschaftsdisziplin ist die Vorhersage: Wann bricht welcher Vulkan in welcher Form aus und was sind die Konsequenzen? Finden Forscher darauf Antworten, rettet das Leben. Und genau hier liegt das Problem: Die Zeit der Vulkane ist eine andere als die der Menschen. Ob ein Vulkan aktiv ist oder schlummert? Weiß man erst nach 10.000 Jahren ohne Ausbruch. Dass ein Vulkan „erloschen“ ist, das ist kaum mehr als Umgangssprache. Angeblich erloschene Vulkane sind auch nach Hunderttausenden Jahren wieder ausgebrochen.
Vulkane arbeiten Jahrzehnte still
Wie aber will man als Wissenschaftler sichere Voraussagen treffen, wenn einem im eigenen Leben, nach Kindheit und Pubertät nur 60, vielleicht 70 Jahre bleiben, um Daten zu sammeln, einer Zeitspanne, die in der Rechnung der Vulkane noch nicht einmal einem Lidschlag gleichkommt?
„Das können wir nicht“, sagt Þorvaldur Þórðarson, Professor für Vulkanologie und Petrologie an der Universität Island, lehnt sich in seinem Bürostuhl zurück und lächelt wie jemand, der sein Gegenüber gerne mal ins Leere laufen lässt. „Wir rechnen mit Zeiträumen mehrerer Generationen, bis es zu handfesten Aussagen kommt.“ Der Endfünfziger genießt für eine Sekunde die Erwartung, lehnt sich dann wieder nach vorne. „Aber die physikalischen und chemischen Prinzipien im Erdinneren, die haben wir eigentlich verstanden.“ Bei Magma sei das ähnlich wie bei Glas, der Hauptbestandteil ist Quarz. Bei einem höheren Quarzanteil sinkt die Schmelztemperatur, die Masse wird zähflüssiger und kann weniger Energie speichern.
Zähflüssiges Magma führt also tendenziell zu schnelleren Ausbrüchen. Dünnflüssiges Magma lässt länger auf sich warten, der Ausbruch ist dafür aber oft explosiver. Ein wichtiger Faktor dabei ist ausgerechnet: Wasser. „Im Magma ist es gasförmig vorhanden. Das Gas sammelt sich bei Hitze zu kleinen Bläschen, das kennt man aus einem Wasserkocher“, sagt Þórðarson. Diese Blasen entziehen dem umliegenden Magma weitere Wassermoleküle, um weiter zu wachsen. Dadurch wird das umliegende Magma zähflüssiger, wird aber auch weggedrückt, weil die Blasen mehr Platz für sich beanspruchen. „Eingeschlossen in einer Vulkankammer kann das Magma aber ja nirgendwohin. Also steigt der Druck immer weiter“, sagt Þorvaldur Þórðarson. Der Forscher lehnt sich in seinem Stuhl zurück. Im Gesicht ein Grinsen irgendwo zwischen stolz und spitzbübisch, formt er mit den Armen einen ausdehnenden Kreis – „und dann Pufff!“
Nie zu 100 Prozent berechenbar
Wasser sei nur ein Beispiel, es gebe extrem viele Variablen. „Die eigentliche Herausforderung ist der Zeitpunkt, wo es zu viel wird.“ Forscht man über die Vorbereitungszeit von Vulkanen, sind das Prozesse, die Jahre brauchen, oft Jahrhunderte, womöglich Jahrtausende. Kurz vor einem Ausbruch rechnet man plötzlich in anderen Dimensionen. „Millisekunden oder doch nur Mikrosekunden, klar, beides ist eine verdammt kurze Zeit“, sagt Þórðarson. „Aber Milli- oder Mikrosekunde, das kann darüber entscheiden, ob der Ausbruch mit einer heftigen Explosion daherkommt – oder still, mit großen Lavaflüssen.“ Und Askja?
„Ich kann mit Sicherheit sagen, dass es zu einem Ausbruch kommt“, sagt Þorvaldur Þórðarson. „Und die Zeit bis dahin wird mit jedem Tag kürzer. Und kürzer. Und kürzer.“
Ein anderer Vulkanforscher holt tief Luft, als er das hört. Páll Einarsson, emeritierter Professor für Geophysik und Vulkanologie, fängt seinen Satz ein paar Mal neu an, zögert, dann sagt er: „Wie sicher wir von einem Ausbruch ausgehen und wie schnell der kommt, nun ja.“ Wieder kurzes Zögern. „Es gibt auch unter uns Wissenschaftlern Leute, die sich … mitreißen lassen. Ich bin eher jemand, der sich mit ein bisschen Ruhe wohler fühlt.“
Also bricht Askja nicht in nächster Zeit aus? „Was wir in Askja gesehen haben, ist das erste Stadium eines Vulkans, der seit Jahrzehnten vor sich hin arbeitet und der plötzlich seine Stimmung ändert, Vorbereitungen für einen unmittelbaren Ausbruch sehen wir bisher nicht.“
In Island gibt es 32 weit verzweigte Vulkansysteme mit 34 aktiven Vulkanbergen, aber nur eine Hand voll Forscher, um sie alle zu beobachten. Daher teilen die Wissenschaftler sie in drei Stufen ein: Ruhende Vulkane arbeiten zufrieden vor sich hin. Aktive Vulkane verursachen Erdbeben, in ihren Kammern passiert etwas, der Druck steigt, sie kommen einem Ausbruch näher. Und dann gibt es die dritte Art, „diese Kandidaten sind heikel, die stehen gefährlich nah vor einem Ausbruch“, sagt Einarsson. „Askja gehört für mich in die mittlere Kategorie. Andere sind da eher Sorgenkinder.“
Einarsson spricht über die Vulkane wie ein Lehrer über die Charaktere seiner Schüler, in seinen Beschreibungen gibt es „selbstzufriedene“, „schüchterne“ und „ruhige“ Berge, aber auch „jähzornige“ und „Choleriker“. Viele sagen: Wir können die Vulkane und ihr Verhalten nicht vorhersagen. Einarsson erwidert: „Das ist schlicht falsch. Vulkane können vorhergesagt werden. Und wir haben einen ziemlich guten Erfolg darin, gerade in der Kurzzeit-Vorhersage.“ Das sei wichtig.
Denn gefährlich seien gerade „die Impulsiven“, sie entladen sich schnell und lassen kaum Zeit zur Vorbereitung. „Das jüngste Beispiel ist der Ausbruch von Hekla“, sagt Einarsson und erzählt, am 26. Februar 2000 sei es um 17 Uhr bereits dunkel gewesen. Punkt 17 Uhr, das weiß er so genau, weil er an diesem Abend Beobachtungsdienst hatte und die Seismografen plötzlich ausschlugen. Er rief die Zeitungen an, das Radio und das Fernsehen, aber auch die Regierung, die Polizei und Anwohner der Region. Uns bleiben maximal 90 Minuten, sagte er ihnen. Hekla lässt Forschern keine Jahre, sondern nur ein paar Stunden, bevor er ausbricht. Bestenfalls. Die kürzeste bekannte Vorbereitungszeit: 40 Minuten.
Am 26. Februar 2000 griff das National Radio die Neuigkeit auf, ein Kollege von Einarsson übernahm den Interviewtermin für die Abendnachrichten. Das Gespräch, erzählt Einarsson, verlief in etwa so:
„Moderator: Wie lange wird es denn noch dauern?
Vulkanologe: Nur ein paar Minuten.
Moderator: Wie viele Minuten?
Vulkanologe: Ich würde sagen, etwa 15.“
17 Minuten später wurde der Ausbruch von Hekla live übertragen. „Wenn ich sage, dass wir für die Zeit unmittelbar vor dem Ausbruch bereits sehr gut darin sind, Voraussagen zu treffen, dann sage ich das nicht aus Eitelkeit“, sagt Einarsson. „Es entspricht schlicht den Fakten.“ Ja, bei der Langzeitvorhersage hätten Vulkanologen noch viel zu lernen, aber irgendwann werde man Ausbrüche ankündigen können, „so sicher wie das Wetter“.
Das Hauptproblem der Langzeit-Vorhersage ist, dass niemand unmittelbar verfolgen kann, was im Erdinneren vorgeht. Es gibt nur indirekte Daten, durch die man Rückschlüsse ziehen kann. Wie stark bebt der Boden? Wie sehr hebt er sich und innerhalb welches Zeitraums? Erhitzt sich das Wasser heißer Quellen? Bilden sich Magma-Tunnel, sogenannte Dykes, und wenn ja, fließen sie auf eine Senke zu, sodass es wahrscheinlich ist, dass es dort zu Lavaflüssen kommt? GPS-Sensoren, Satellitenbilder, Seismografische Ausschläge, Fotografien – wer berechnen kann, wieviel Masse sich an der Erdoberfläche bewegt, kann daraus ableiten, wie viel Druck unter der Erde herrscht, wie dick- oder dünnflüssig das Magma ist. Und kann Szenarios erstellen, welche Ereignisse wahrscheinlich, weniger wahrscheinlich oder unwahrscheinlich sind. „Und hier muss ich zugeben: Eigentlich passiert immer irgendetwas, mit dem wir so überhaupt nicht gerechnet haben“, sagt Páll Einarsson. „Vulkane schaffen es, uns jedes einzelne Mal zu überraschen.“
So wie zuletzt beim Ausbruch des Bárðarbunga in der Nacht vom 28. auf den 29. August 2014 – er dauerte bis Ende Februar 2015 und stellte Forscher und Katastrophenschutz vor mehrere Herausforderungen: Zwar waren es nur Lava-Eruptionen, die als vergleichsweise gut zu handhaben gelten, aber um den Vulkan herum gibt es massenhaft Gletschereis – und das kann beim Abschmelzen Flutwellen auslösen, Flüsse überspülen, „es kommt einem vor, als würde das Land verrücktspielen“, sagt Einarsson. Nun ist zumindest dieses Szenario nicht eingetreten, der Vulkan war in einer recht eisfreien Zone ausgebrochen. „Aber das Gas“, sagt Einarsson. 120.000 Tonnen Schwefeldioxid am Tag blies der Wind in Richtung Meer. „Mögliche Todesopfer an der Küste, die Luftqualität, sogar in Reykjavik, war kritisch. Darauf waren wir nicht vorbereitet.“ Es habe sogar an Instrumenten gefehlt, um überhaupt die Gaskonzentration verlässlich zu messen.
Der erste Schritt des Katastrophenschutzes: Eine Großbestellung in Übersee.
Solche Ereignisse, warnen einige Wissenschaftler, werden zunehmen. Island stehe vor einem Jahrhundert des Feuers. Hekla ist überfällig, Katla auch, Grímsvötn und Bárðarbunga grummeln wie unzufriedene Poltergeister und Fagradalsfjall verhält sich trotz seines Ausbruchs im vergangenen Jahr wie einer, der gerade erst angefangen hat.
Schaulustige sind die größte Gefahr
Andere Forscher sagen, vielleicht ist es sogar anders herum, vielleicht war die Ruhe die große Ausnahme – und mit dem Feuer kehrt die Insel zurück in ihren geologischen Normalzustand.
Ein Faktor, der diesen Normalzustand verstärken könnte: der Klimawandel. Auch auf Island schrumpfen die Gletscher. Wo aber der Druck des Gletschereises auf der Erdoberfläche fehlt, kommt es mutmaßlich häufiger zu Ausbrüchen. Die sind dann zwar weniger explosiv, dafür aber unberechenbarer. Und dann ist da noch die Asche. Wenn kein Eis sie mehr bremst, kann sie bis zu zehn Kilometer hoch aufsteigen – in die Verkehrshöhe von Passagierflugzeugen.
Die Forschung des Physikers Tobias Dürig kann helfen, mit solchen Zukunftsprognosen umzugehen. Der 44-Jährige untersucht in Island das Ausbruchsgeschehen von Vulkanen und hat ein Monitoring-System für Aschewolken entwickelt, das entscheiden helfen soll, wann und wo bei einem Ausbruch nicht gut zu fliegen ist. Einziger Nachteil: Das Monitoring-System hilft, die Entwicklung der Aschewolke vorherzusagen. Dafür aber muss der Vulkan bereits ausgebrochen sein.
„Wenn ein Vulkan nicht schon unmittelbar vor dem Ausbruch steht, haben Vorhersagen, wann er ausbricht, für mich immer etwas von Glaskugel“, sagt Dürig. Dafür brauche man eine Menge historischer Vergleichsdaten, die Vulkanforschung aber ist jung. Zudem gibt es den Faktor Mensch: Kürzlich wurde am Grimsköll Alarm ausgelöst. Der GPS-Sensor vor Ort zeigte ein Beben an. Große Aufregung und Überzeugung folgten: Da passiert was! „Dann hat sich herausgestellt: Nee, der Sensor ist einfach umgefallen“, sagt Dürig.
In einer Sache sind sich Þórðarson, Einarsson und Dürig einig: die größte Gefahr bei einem Ausbruch. Nicht die Asche, die womöglich Flugzeuge vom Himmel holt, nicht die Erdbeben, die Gletscher aufreißen, noch nicht einmal das Magma, das bei zu viel Druck die Erdkruste sprengt. Die größte Gefahr sei die Dummheit der Menschen. „Hekla, Bárðarbunga, Fagradalsfjall – egal wo: Die Massen wollen hin und es erleben“, sagt Páll Einarsson, der emeritierte Professor. Überfüllte Straßen, ignorierte Straßensperrungen, Verkehrschaos. „Das ist jedes Mal ein Problem.“