Mit ihren fünf Titelgewinnen bei der WM 2023 hat sich Darja Varfolomeev kometenhaft in den elitären Kreis deutscher Ausnahmeathletinnen und zur größten Gold-Hoffnung des Deutschen Turner-Bundes für Olympia 2024 aufschwingen können.
Das war ja endlich mal wieder eine positive Überraschung für den bundesdeutschen Leistungssport! Denn auf der in Istanbul Anfang Oktober 2023 abgehaltenen Generalversammlung des Europäischen Olympischen Komitees wurde eine 16-jährige, dem württembergischen Club TSV Schmiden angehörende junge Dame zur Disziplinen-übergreifend besten europäischen Nachwuchsathletin gekürt und mit dem seit 2011 vergebenen, mit 15.000 Euro dotierten Piotr-Nurowski-Preis ausgezeichnet.
Der Name der Preisträgerin Darja Varfolomeev dürfte wohl nur Insidern oder jenen Experten etwas gesagt haben, die sich auch dauerhaft für die meist allenfalls bei Olympischen Spielen kurz im Rampenlicht stehenden Rand-Sportarten interessieren. Die Charakterisierung als solche dürfte insbesondere auf die Rhythmische Sportgymnastik zutreffen, die als die wohl weiblichste aller Disziplinen gilt und neben dem Synchronschwimmen bei Olympia die einzige reine Frauensportart ist. Bei der Rhythmischen Sportgymnastik, die seit 1984 mit dem Einzel-Mehrkampf und seit 1996 zusätzlich auch mit dem Gruppen-Mehrkampf im olympischen Programm vertreten ist, wird durch eine Verbindung von Kunst und Sport die Schönheit des Vortrags in den Vordergrund gerückt. Die akrobatischen, viel Geschicklichkeit, Flexibilität, tänzerisches Talent (mit Nähe zum Ballett) und Musikalität erfordernden Übungen (einschließlich möglichst eleganter Sprungelemente) am Boden mit den Handgeräten Reifen, Ball, Keulen und Band/Seil von Wettkampfrichtern ähnlich wie beim Kunstturnen oder Eiskunstlauf mit einer Kombination aus Schwierigkeitsnote D und Ausführungsnote E bewertet werden.
Neues Kräfteverhältnis
Jahrzehntelang hatten die osteuropäischen Länder mit Russland, Belarus oder Bulgarien an der Spitze die internationale Szene der Rhythmischen Sportgymnastik gleichsam nach Belieben dominieren können. Doch bei der jüngsten WM, die im August 2023 im spanischen Valencia über die Bühne gegangen ist, hatte die dem Deutschen Turner-Bund (DTB) angegliederte heimische Sportgymnastik in Person von Darja Varfolomeev, die meist nur kurz „Dascha“ genannt wird, für einen kolossalen Paukenschlag sorgen können. Sie konnte alle fünf möglichen Goldmedaillen gewinnen, wobei der WM-Titel im Mehrkampf die Siege in den vier Einzeldisziplinen Reifen, Ball, Keule und Band noch deutlich überstrahlte. Fünf Titel bei einer einzigen WM zu erringen, war vor Dascha nur der legendären Russin Jewgenija Kanajewa gelungen. Damit katapultierte sich Darja Varfolomeev gleichsam kometenhaft zur größten Goldhoffnung des DTB für die Olympischen Spiele 2024 in Paris. Auch wenn dort leider nur zwei Medaillenentscheidungen im Einzel- und Gruppenmehrkampf ausgetragen werden, es also im Unterschied zur WM keine Wettkämpfe um olympisches Gold in den Einzeldisziplinen geben wird. Im Einzelmehrkampf, an dem 94 Athletinnen teilnehmen dürfen, wird der DTB in Paris auf jeden Fall mit der maximal pro Land zulässigen Zahl von zwei Sportlerinnen vertreten sein. Dank ihres erfolgreichen Abschneidens bei ihrer ersten WM-Teilnahme 2022 in Sofia, als die damals 15-Jährige Gold mit den Keulen, dreimal Silber im Einzel-Mehrkampf, im Teamwettbewerb und mit dem Ball sowie Bronze mit dem Reifen gewonnen hatte, hatte Dascha dem DTB schon einen festen Quotenplatz sichern können. In Valencia konnte ihre knapp zwei Jahre ältere Vereinskollegin Margarita Kolosov dem DTB den zweiten Quotenplatz festmachen.
Eigentlich dürfte es keine Frage sein, wen die deutschen Sportjournalisten zur Sportlerin des Jahren 2023 küren sollten. Denn schon allein mit ihren fünf WM-Titeln 2023 hatte sich Darja Varfolomeev an die Spitze der deutschen WM-Sportgymnastik-Bilanz katapultieren können. Zumal sie in Valencia auch noch eine sechste Medaille in der Farbe Silber im Teamwettbewerb hinzufügen konnte. Gleichsam nebenbei hatte sie bei der EM 2023 in Baku den allerersten Titel einer deutschen Athletin bei einer Europameisterschaft gewinnen können, und zwar in der Disziplin Band, nachdem sie bei der EM 2022 in Tel Aviv mit Ball und Keule schon EM-Bronzemedaillen errungen hatte. Bei den in Düsseldorf Anfang Juli 2023 ausgetragenen deutschen Titelkämpfen hatte sie selbstverständlich alle fünf Wettbewerbe für sich entschieden.
Aber auch schon mit ihren Erfolgen bei der WM 2022 hatte sie ein neues Kapitel deutscher Turngeschichte geschrieben, weil ihr WM-Gold mit den Keulen 2022 der erste deutsche WM-Triumph nach einer langen Durststrecke von 47 Jahren gewesen war.
Zuletzt hatten 1975 Carmen Rischer (die bisherige deutsche WM-Medaillenrekordhalterin aus den 1970er-Jahren mit jeweils dreimal Gold und Silber) und Christina Rosenberg bei der WM in Madrid drei beziehungsweise zwei Titel erringen können. Der letzte deutsche Medaillen-Gewinn bei Weltmeisterschaften vor Daschas WM-Debüt 2022 hatte auch schon 37 Jahre zurückgelegen: 1985 hatte sich Bianca Dittrich aus Dresden im Ball-Finale Bronze sichern können. Eigentlich hätte der Name Varfolomeev daher auch schon bei der Wahl zur Sportlerin des Jahres 2022 ganz oben auf den Zetteln der Sportjournalisten stehen müssen. Dass sie beim Voting schließlich nur auf Platz 18 landete, warf kein besonders gutes Licht auf die Jury. Bei der haben halt Publikumssportarten wie die Leichtathletik noch immer klar die Nase vorn, was durch den Sieg von Gina Lückenkemper vor Malaika Mihambo mal wieder eindrücklich bestätigt worden war. Immerhin war die deutsche Sportgymnastik bei der Gala im Kurhaus Baden-Baden Ende 2022 nicht ganz leer ausgegangen. Denn Daschas aus Belarus gebürtige Trainerin beim TSV Schmiden, Julia Raskina, früher selbst eine olympische Medaillengewinnerin, war vom Deutschen Olympischen Sportbund gemeinsam mit René Spies (Bundestrainer Bob) als „Trainer*in des Jahres“ 2022 geehrt worden.
Corona kostete die Junioren-Zeit
Darja Varfolomeev ist am 4. November 2006 im russischen Barnaul, der Hauptstadt der Region Altai im Süden Westsibiriens, geboren. Ihre Mutter Tatjana (gebürtige Enns) war vormals selbst eine herausragende russische Sportgymnastin. Als Dascha gerade mal zwölf Jahre geworden war, wurde von den Eltern die Entscheidung getroffen, die Tochter ganz allein in die deutsche Heimat der Mutter zu schicken, wo die Großeltern mütterlicherseits in Aschaffenburg ansässig waren. Allerdings führte Daschas Weg Anfang 2019 in der Bundesrepublik nicht ins nördliche Bayern, sondern nach Schmiden, ein Stadtteil der württembergischen Stadt Fellbach. Und zwar, weil sie dort unbedingt bei Julia Raskina und dem TSV Schmiden trainieren wollte, der bundesweiten Hochburg der Rhythmischen Sportgymnastik. Schnell konnte sie hier die deutsche Sprache erlernen, dank des Großvaters auch die deutsche Staatsbürgerschaft erwerben und ohne größere Probleme ihre schulische Ausbildung auf einem örtlichen Gymnasium fortsetzen.
Den Verantwortlichen des TSV Schmiden war sofort klar, dass sie mit Dascha ein ehrgeiziges Mädchen mit riesigem Talent gepaart mit Unbekümmertheit und reichlich Selbstbewusstsein unter ihre Fittiche bekommen hatten. Inzwischen lebt sie mit ihrem Vater und ihrer Chihuahua-Hündin in Fellbach, auch die Mutter kommt sie hier häufig aus Russland besuchen.
„Als sie gekommen ist, hatte sie Potenzial“, so ihre Trainerin Raskina, „Wir haben sie langsam aufgebaut, langsam mit ihr gearbeitet, ohne Stress.“ Als Juniorin sei sie leistungsmäßig „okay“ gewesen, auch wenn sie ihr Können wegen der Corona-Pandemie leider nicht habe unter Beweis stellen können. „Sie hat diese ganze Junioren-Zeit verloren“, so Raskina – und musste stattdessen bei ihren ersten Wettkämpfen gleich im Erwachsenen-Bereich an den Start gehen.
Mit Blick auf Olympia sieht Darja Varfolomeev sogar noch deutlich Luft nach oben: „Ich würde sagen, dass ich im Moment bei etwa 70 Prozent bin, es gibt noch einen Spielraum, um 100 Prozent zu erreichen.“ Sie werde dafür einfach noch ein bisschen am Schwierigkeitsgrad ihrer Übungen drehen, sagt sie.