Auf das Entsetzen über den Terrorangriff der Hamas folgt die große Sorge vor einer Ausweitung des Konflikts. Krisengipfel werden von Krisendiplomatie flankiert. Zugleich sorgt der Nahost-Konflikt für innenpolitische Auseinandersetzungen.

Es waren Sätze von großem Ernst, die sich eindrucksvoll von vielem abhoben, was in diesen Tagen die öffentliche Debatte dominiert. Sätze zu Ereignissen, die eigentlich mit Worten nicht auszudrücken seien, sagte der Schriftsteller Salman Rushdie bei der Verleihung des Friedenspreises der Deutschen Buchhandels. „Wir leben in einer Zeit, von der ich nicht geglaubt hätte, sie erleben zu müssen“, sagte Rushdie und ergänzte, dass Frieden, „so mühselig er auch zu finden ist, so unmöglich es scheinen mag, zu unseren großen Werten zählt, die es leidenschaftlich zu verfolgen gilt“. Auch wenn er angesichts der Realitäten im Nahen Osten oder in der Ukraine sagen musste: „Frieden will mir im Augenblick wie ein dem Rauch der Opiumpfeife entsprungenes Hirngespinst vorkommen.“
Derart poetisch formulierte Gedanken dürften den Teilnehmern am sogenannten Friedensgipfel einen Tag zuvor in Kairo eher fremd gewesen sein. Dass dieses Krisentreffen ohne konkrete Ergebnisse endete, war kaum überraschend. Nach allem, was berichtet wird, war es eher eine bittere Bestandsaufnahme von jahrzehntelang ungelösten Problemen.
UN-Generalsekretär António Guterres konnte schon zuvor seine Verzweiflung und Verärgerung kaum verbergen. Am geschlossenen Grenzübergang Rafah hatte er eindringlichst dazu aufgerufen, humanitäre Hilfe für die Menschen im Gazastreifen zu ermöglichen.
Ägypten hatte den Grenzübergang geschlossen. Präsident al-Sisi hatte dies mit der Angst vor einer Flüchtlingswelle begründet. In Ägypten leben bereits neun Millionen Flüchtlinge (Gesamt-Einwohnerzahl aktuell über 110 Millionen) und Ägyptens Wirtschaft bröckelt ohnehin und würde durch erwartete zusätzlich Hunderttausende Flüchtlinge überlastet.
Zwischen Terroristen und Zivilbevölkerung unterscheiden
Neben dieser offiziellen Version vermuten Experten aber auch die Sorge, dass mit Flüchtlinge auch radikale Kräfte ins Land kommen könnten. Die Hamas steht in enger Verbindung mit der Muslimbruderschaft, die einst in Ägypten gegründet wurde und dort heute als Terrororganisation eingestuft wird.
Einige Hilfslieferungen liefen offenbar an, während der Krisengipfel in Kairo tagte. Dort musste sich die deutsche Außenministerin Annalena Baerbock harsche Kritik an Israel anhören. So äußerte beispielsweise Jordaniens König Abdullah II mit Blick auf Israels Vorgehen: „Es ist eine kollektive Strafe für eine belagerte und hilflose Bevölkerung.“ Israels Verteidigungsminister Yoav Gallant hatte nach dem Terrorangriff der Hamas angekündigt, es werde keinen Strom, kein Wasser, keine Nahrung und keinen Treibstoff geben. Baerbock selbst rief dazu auf, „zwischen Terroristen und Zivilbevölkerung zu unterscheiden“.
Unterstützung gab es von EU-Ratspräsident Charles Michel, der forderte, Zivilisten und deren Infrastruktur zu schützen. Die französische Außenministerin Catherine Colonna verband mit ihrer Erwartung auf einen humanitären Korridor die Hoffnung, dies könne dann ein Schritt zu einem Waffenstillstand werden.
Sowohl EU-Ratspräsident Michel als auch UN-Generalsekretär Guterres sprachen sich für eine Zwei-Staaten-Lösung aus, also einen unabhängigen Staat Palästina neben Israel. „Wir können und dürfen den größeren Kontext dieser tragischen Ereignisse nicht ignorieren“, betonte Guterres. Die Idee einer Zwei-Staaten-Lösung geht zurück bis in die 1970er-Jahre. Es gab eine Vielzahl von Anläufen, dies auf Internationalen Konferenzen voranzubringen, ohne dass es zu einem Durchbruch gekommen wäre. Zuletzt scheiterten israelisch-palästinensische Friedensgespräche vor zehn Jahren.
Schon vor dem Kairoer Krisengipfel hatte eine intensive Besuchs- und Gesprächsdiplomatie auf höchster Ebene eingesetzt. Zentrales Ziel aller Bemühungen war und ist, einen „Flächenbrand“ zu verhindern. Italiens Ministerpräsidentin Georgia Meloni hatte bei der Konferenz in Kairo ihre und die Sorge der meisten anderen Teilnehmer davor zusammengefasst, dass es „zu einem weit größeren Konflikt, einem religiösen Krieg, einem Krieg der Kulturen“ kommen könnte. Sie habe den Eindruck, dass der Terrorangriff der Hamas genau darauf abziele.
Die Warnung vor einem „Flächenbrand“ zieht sich von Beginn an durch praktisch alle Äußerungen und Bemühungen. Das dürfte auch mit ein Grund dafür gewesen sein, dass Kanzler Scholz das Treffen mit dem Emir von Katar trotz aller Kritik nicht abgesagt hatte. Jeder Gesprächsfaden, der mit der Hoffnung verbunden ist, zur Beruhigung der Lage beizutragen, wird gesucht. Jeder Auftritt eines deutschen Spitzenpolitikers ist mit dem ausdrücklichen Hinweis verbunden, dass Deutschland „unverrückbar“ an der Seite Israels stehe und dies zur Staatsraison Deutschlands gehöre.
In Deutschland selbst haben Sicherheitsbehörden und das Bundesinnenministerium bereits früh von einer „erhöhten Gefährdungslage“ für jüdische Menschen und Einrichtungen gesprochen. Entsprechend wurden Sicherheitsmaßnahmen hochgefahren. Schon zu Beginn des Konflikts hatte der Antisemitismusbeauftragte der Bundesregierung, Felix Klein, die Befürchtung geäußert, „dass sich die Stimmung in den Schulen deutlich gegen Israel wenden wird“. Und das zeigt sich inzwischen fast täglich, nicht nur auf Deutschlands Straßen.
Tatsächlich werden immer wieder Vorfälle gemeldet, wo Schüler mit einer palästinensischen Flagge zum Unterricht kommen. Nicht nur Schulsozialarbeiter wissen aber, dass es an Schulen nicht nur antisemitischen, sondern auch antimuslimischen Rassismus gibt und Lehrkräfte oft nur unzureichend auf den Umgang mit gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit vorbereitet sind.
„Auf Hass mit Liebe antworten“
Wie verbreitet antisemitische Einstellungen sind, haben unterschiedliche Studien in der jüngsten Zeit aufgedeckt. Bundestagspräsidentin Bärbel Baas räumte dazu selbstkritisch ein: „Vielleicht waren wir zu naiv.“ Man hätte mehr für Prävention tun müssen. „Da müssen wir deutlich besser werden.“ Kurzfristig fordert sie deutlich mehr Polizeipräsenz und hält auch ein Verbot von Pro-Palästina-Kundgebungen für vertretbar, da es dabei immer wieder zu Gewaltausbrüchen und antisemitischen Hassparolen gekommen sei. Das aber sei eine Gratwanderung. Schließlich gebe es ein Demonstrationsrecht, auch für Menschen, die für Palästina demonstrieren.

Nach massiven Ausschreitungen wurden in der Folge einige Demonstrationen wegen der Gefährdungslage verboten, zugleich hoben aber auch Gerichte wie etwa der Bayrische Verfassungsgerichtshof Verbote wieder auf. Zwar wurde anerkannt, dass es bei anderen Kundgebungen „zu Straftaten in Form der Billigung von Straftaten, Volksverhetzung und Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte sowie zu Verstößen gegen das Versammlungsrecht gekommen sei“, eine Gefährdung müsse aber in jedem einzelnen Fall ausreichend begründet dargelegt werden. Entsprechend fand eine Vielzahl von friedlich verlaufenden Demos statt, der Zentralrat der Palästinenser in Deutschland hat Ausschreitungen verurteilt. Ebenso fanden Kundgebungen statt, die sich auf die Seite Israels stellten.
Gleichzeitig geht die innenpolitische Diskussion weiter: Während Bundeskanzler Scholz bei der Einweihung der neuen Synagoge in Dessau mahnte: „Wir müssen alles daran setzen, dass diese Saat nicht aufgeht“, forderte CDU-Chef Friedrich Merz in Braunschweig bei der Jungen Union, die Anerkennung des Existenzrechtsrechts Israel zur Voraussetzung für eine Einbürgerung zu machen. Dies gehöre schließlich zur deutschen Staatsraison. „Wer das nicht unterschreibt, hat in Deutschland nichts zu suchen.“
Salman Rushdie mahnt gerade in diesen Zeiten: „Wir sollten weiterhin und mit frischem Elan machen, was wir schon immer tun mussten: schlechte Rede mit besserer Rede kontern, falschen Narrativen bessere entgegensetzen, auf Hass mit Liebe antworten und nicht die Hoffnung aufgeben, dass sich die Wahrheit selbst in einer Zeit der Lügen durchsetzen kann.“