Als Schutzmacht und „Weltpolizist“ waren die USA auf dem Rückzug. „America First“ galt nicht nur in der Ära Trump. Sicherer geworden ist die Welt nicht – und von einer neuen Ordnung, wie es scheint, weiter entfernt als zuvor.
Die Reaktion war schnell, klar und unmissverständlich. Nach dem Terrorangriff der Hamas beorderte US-Präsident Joe Biden den Flugzeugträger „USS Gerald R. Ford“ ins östliche Mittelmeer. Eine Woche später folgte der Befehl an die „USS Dwight D. Eisenhower“. Zwei Flugzeugträger samt Zerstörern und Lenkwaffenkreuzer als Abschreckung, um einen Ausweitung des Nahostkonflikts zu verhindern. Die USA also wieder ganz in ihrer Führungsrolle als „Weltpolizist“?
Diese Art der massiven und sichtbaren militärischen Entschlossenheit war zuletzt in dieser Region selten geworden.
Die USA, so schien es, hatten keine Lust mehr darauf, sich in allen Krisen und Konflikten zu engagieren – und zu verschleißen. US-Bürgerinnen und -Bürger waren zunehmend kriegsmüde, und der US-Politik fiel es zunehmend schwer, zu erklären, warum die USA, salopp formuliert, für andere die Kohlen aus dem Feuer holen sollten. Und es fiel zunehmend schwer, eine außen- und sicherheitspolitische Linie auszumachen.
Einen Höhepunkt erlebte diese Entwicklung in der Amtszeit von Präsident Donald Trump, dessen nationale Sicherheitsstrategie, 2017 vorgestellt, letztlich nur ein Motto kannte: „America First“. Engagement nur noch in den Fällen, wo es US-amerikanischen Interessen nutzt, gemeint waren vor allem wirtschaftliche Interessen. Selbst der Austritt aus der Nato schien ein mögliches Szenario, hatte Trump doch reihenweise internationale Abkommen verlassen.
Die Kriegsmüdigkeit und Unlust, sich auf weitere militärische Abenteuer einzulassen, gründete sich auf eine Reihe von Interventionen mit zweifelhaften Ausgängen. Analytiker zählen reihenweise Beispiele dafür auf, dass anschließend die Unordnung eher zugenommen hat, etwa Irak, Afghanistan, Libyen. Keine guten Zeugnisse für eine Ordnungsmacht.
Kriegsmüde nach Misserfolgen
US-Außen- und Sicherheitspolitik war immer schon ein Schwanken zwischen Isolationismus, Weltmachtambitionen und Multilateralismus. Als Bill Clinton seine Präsidentschaft antrat (1993), hatte sich die globale Situation grundlegend verändert. Der Eiserne Vorhang war gefallen, die Sowjetunion löste sich auf, ebenso wie die klare Aufteilung zwischen zwei konkurrierenden Blöcken. Clintons Außen- und Sicherheitspolitik wird als gemäßigt beschrieben: Eine Aufwertung internationaler Abkommen und Institutionen, letztlich mit dem Ziel, die wirtschaftliche Prosperität zu fördern. In seiner zweiten Amtszeit zeichnete sich aber bereits ab, dass sich die USA (und ihre westlichen Verbündeten) mit einer neuen Dimension von Herausforderung auseinanderzusetzen hatten, dem Internationalen (islamistischen) Terrorismus. Der 9. September 2001 brachte die endgültige Zäsur.
Für Clintons Nachfolger George W. Bush war die Bekämpfung des weltweiten Terrorismus oberste Priorität – natürlich unter Führung der USA. Der Kongress verweigerte Bush zwar eine gewünschte Blankovollmacht, genehmigte zwar alles, was der direkten Terrorbekämpfung diente, war aber auf der Hut, wenn die Bekämpfung des Terrorismus als Vorwand für andere Maßnahmen herhalten sollte. Allzu imperiale Ansprüche des Präsidenten sollten eingehegt werden.
Gleichzeitig wurde das Verhältnis zu China nehmend konfrontativer, ebenso gegenüber Russland. Bush wollte einen Raketenabwehrschirm installieren und drängte auf eine Nato-Osterweiterung. Die Beziehungen zu den europäischen Partnern waren angespannt, Bush kritisierte mangelndes Engagement der Europäer, die wiederum als „Friedensdividende“ nach 1989 ihre Verteidigungsetats reduzierten.
„Wir müssen uns den gemeinsamen Sicherheitsbedrohungen durch Regime stellen, die durch die Schaffung von Instabilitäten gedeihen, deren Ehrgeiz im Besitz von Massenvernichtungswaffen liegt, und die auf gefährliche Weise unberechenbar sind. In Europa sind Sie diesen Herausforderungen näher als die Vereinigten Staaten. Sie sehen den Blitz lange bevor wir den Donner hören.“ mahnte Bush die Europäer bei einer Rede im Juni 2001. Spätestens seit der Annexion der Krim durch Russland (2014) klingt dieser Satz im Nachhinein wie eine ungute Vorausahnung.
Zugleich ließ das Interesse der Bush-Administration am Israelisch-Palästinensischen Konflikt deutlich nach. Die USA werde nur noch assistieren, nicht mehr selbst initiativ werden, ließ Bush durchblicken. Das Augenmerk lag eher auf Irak und Iran.
Am Ende geht es um Glaubwürdigkeit
Nach 9/11 änderte Bush seine Strategie. Der Eindruck „west against the rest“ sollte unbedingt vermieden werden. Das internationale Netzwerk gegen den Terror sei eine Allianz auf Augenhöhe, wurde immer wieder beteuert. Gleichzeitig war klar, dass die USA die Führungsrolle beanspruchten, schließlich war sie angegriffen worden. Es war aber auch Ausdruck eines unilateralistischen Selbstverständnisses, also eben der Führungsrolle. Nach 9/11 zeigte sich der Kern der weiteren Entwicklungen. Dass auch Gegner und Rivalen in einer Koalition gegen den Terrorismus eingebunden wurden, galt vielen als diplomatischer Erfolg. Dahinter zeigte sich aber die US-amerikanische Haltung im Verhältnis und dem Verständnis der UNO.
Noch im Sommer 2001 hatte der damalige UN-Generalsekretär Kofi Annan einen Beitragsrückstand der USA von 2,2 Milliarden Dollar angemahnt. Die USA hatte sich zu diesem Zeitpunkt zu einer Teilzahlung bereit erklärt, aber eine Bedingung genannt: Die Internationale Gemeinschaft sollte US-Bürger von einer Bestrafung durch den Internationalen Gerichtshof ausnehmen. Annan konterte, er erwarte eine Zahlung ohne Bedingung, „wie es von jedem UN-Mitglied erwartet wird“.
Monate später wurde die UNO wieder für die weltpolitischen Ambitionen wichtig. Der US-Kongress genehmigte immerhin eine Teilzahlung von 1,2 Milliarden Dollar, die UNO unterstützte den Anti-Terrorkampf. Die USA lehnte aber ein ausdrückliches Mandat durch den UN-Sicherheitsrat dafür ab. Der damalige US-Verteidigungsminister Rumsfeld betonte, die USA befinde sich nach dem Angriff in einem Abwehrkampf. Tatsächlich dürfte hinter der Ablehnung eines ausdrücklichen Mandats gesteckt haben, dass die USA frei handeln wollte. UN-Mandate sind üblicherweise mit einem klaren Auftrag an klare Bedingungen geknüpft.
Einmal mehr wurde deutlich, dass die USA internationale Organisationen dann akzeptieren, wenn sie auf deren Arbeit maßgeblich Einfluss haben, ansonsten aber eigene Allianzen schmieden – und anführen.
Trotzdem war es eine Zeit, in der Optionen offen schienen: Keine der Großmächte (USA, Russland oder China) wollte sich terroristischen Bedrohungen aussetzen. Der Kampf gegen Al-Quaida, Taliban – später auch den IS – schien kurzzeitig auch Chancen für eine neuen Multilateralismus und ein Wiedererstarken internationaler und supranationaler Organisationen zu bieten. Also das Paradox, dass der Internationale Terror die Internationale Gemeinschaft wieder näher zusammenbringen könnte. Es kam bekanntlich anders.
Präsident Barack Obama begann aufgrund stetig wachsender Kriegsmüdigkeit, die wiederum wohl auch damit zu tun hatte, dass US-amerikanische militärische Engagements nicht zu mehr Ordnung in der Welt geführt hatten, mit Rückzug, zum Beispiel 2016 aus Afghanistan. Ziel war, die Engagements beziehungsweise Verstrickungen der USA zu reduzieren und keine neuen Abenteuer einzugehen. Ausnahme blieb der Kampf gegen den internationalen Terrorismus. Der Kern der Obama-Doktrin: Die USA engagieren sich nur noch, wenn unmittelbare eigene Interessen auf dem Spiel stehen. Damit wuchsen auch Zweifel, ob die USA weiter bereit seien, eine internationale Führungsrolle zu übernehmen.
Die US-Politik kam auch aus anderer Sicht immer mehr unter Druck. Die Interventionen waren in aller Regel immer auch von der Begründung begleitet, Menschenrechten und Demokratie zur Geltung zu verhelfen. Die National Security Strategy, 2015 veröffentlicht, spricht von der Förderung und der Kooperation zwischen Demokratien als Basis einer neuen Weltordnung. Carlo Masala, Professor für Internationale Politik an der Bundeswehrhochschule in München, spricht in diesem Zusammenhang allerdings von der „Illusion militärischer Interventionen“ und bezieht sich in seinen Analysen auf den Begriff des „liberalen Imperialismus“, um die Entwicklungen der letzten zweieinhalb Jahrzehnte zu beschreiben (Quelle. „Weltunordnung“, aktualisiert 2022). In anderen Regionen der Welt werde das Engagement der USA (und des „Westens“ insgesamt) als „doppelbödig“ empfunden.
In der Präsidentschaft von Donald Trump schienen sich die USA endgültig zu verabschieden. Zahlreiche internationale Abkommen wurden gecancelt. Dazu zählten auch Abrüstungsabkommen mit Russland und der sogenannte „Iran Deal“. Nach Einschätzung von Experten hat sich kein Präsident seit dem Zweiten Weltkrieg derart deutlich von einer Führungsrolle, die auf internationalen Organisationen und Menschenrechten gründet, verabschiedet. Seine Begründungen im Sinne der „America First“-Politik war, die USA wolle sich in ihren Handlungsfreiheiten nicht einschränken lassen. Trump drohte mit Ausstieg aus der Nato, zeigte gelegentlich in Trumpscher Rhetorik eine Sympathie für Putin, und ein offenbar bereits angeordneter Angriff auf den Iran wurde in buchstäblich letzter Minute dann doch nicht ausgelöst. Später wird darauf hingewiesen, dass die USA in den vier Jahren Trump keinen neuen Krieg begannen.
Für den Nahen Osten legte Trump einen „Friedensplan“ (2020) vor, der die Legitimierung jüdischer Siedlungen, eine Hauptstadt Jerusalem und für die Palästinenser einen entmilitarisierten Staat vorsah. Offenbar unterstützte Trump auch, dass erst die vereinigten Arabischen Emirate, später auch Bahrain, diplomatische Beziehungen zu Israel aufnehmen wollten. Ein norwegischer Abgeordneter der rechtspopulistischen Freiheitspartei hatte Trump da schon als friedennobelpreisträchtig angesehen. Heute wird vermutet, dass es ein Ziel des Hamas-Terrorangriffs vom 7. Oktober dieses Jahres war, die Annäherungen arabischer Staaten an Israel zu torpedieren.
Narrative und Interessen
Nach Trumps erratischer Amtszeit kündigte Joe Biden zu Beginn seiner Amtszeit an, Profis für die Außen- und Sicherheitspolitik einzustellen. Schon das wurde überwiegend mit einem Aufatmen registriert. Und Joe Biden meldete die USA wieder zurück, in einer Führungsrolle des Westens und der Demokratien angesichts der Bedrohung durch den Autoritarismus (autokratische Staaten). Nach dem Überfall von Russland auf die Ukraine hat die USA dies klar unterstrichen. Jetzt gilt die Aufmerksamkeit zusätzlich der Entwicklung im Nahen Osten.
Die USA sind weiterhin mit Abstand die militärisch stärkste Nation der Welt, sowohl was Verteidigungsausgaben betrifft, als auch bezogen auf die qualitativen Faktoren (beispielsweise Ausbildung). Aber: „Der Besitz militärischer Machtmittel allein ist im 21. Jahrhundert nicht mehr automatisch mit der Fähigkeit verbunden, eigene Interessen mittels des Einsatzes oder der Androhung von Gewalt durchzusetzen“, unterstreicht Carlo Masala. Moderne Kriege werden nicht mehr nur auf dem Schlachtfeld entschieden.
Hybride Kriege beziehen nicht nur irreguläre Taktiken und terroristische Mittel ein. Es ist auch eine Auseinandersetzung der Narrative, der großen Erzählungen. Die Außen- und Sicherheitspolitik der USA in den letzten Jahrzehnten hat in vielen Teilen der Welt dazu geführt, dass die westliche Narrative (Demokratie, Menschenrechte) an Glaubwürdigkeit eingebüßt haben, mehr noch, sie werden inzwischen zum gezielten Feindbild. Dass Putin verbreitet, er ziehe in der Ukraine gegen einen dekadenten Westen zu Felde, ist dabei noch eine ziemlich harmlose Variante im Vergleich zu dem, was in der arabischen Welt derzeit der Fall ist.
Vor dem Hintergrund der beschriebenen Entwicklungen (und da sind Mega-Themen wie Klimaschutz und Migration noch gar nicht erwähnt) blicken nicht nur die westlichen Staaten mit großer Spannung auf die US-Präsidentschaftswahl im nächsten Jahr.