Mit ihrer Wahl zur italienischen Premierministerin sorgte Giorgia Meloni für einen Aufschrei in Europa. Die Spitzenkandidatin der postfaschistischen Fratelli d’Italia ist mittlerweile seit einem Jahr im Amt. Und statt der gefürchteten Rechtspopulistin hat die EU eine verlässliche Partnerin gefunden – bisher.
Am 27. April 1945 wird der Tross Benito Mussolinis nahe der Ortschaft Dongo von kommunistischen Partisanen aufgehalten, die den „Duce“ samt seiner Geliebten Clara Petacci erschießen, die Leichen nach Mailand überführen und dort kopfüber am Dach einer Tankstelle aufhängen. Wenige Tage später kapituliert auch Verteidigungsminister Rodolfo Graziani. Was folgt, ist eine Zeit mit vielen Umbrüchen, die Abschaffung der Monarchie, Verfassungsreformen, europäische Integration – das Ende des Faschismus in Italien.
Dementsprechend groß sollte der Aufschrei sein, als im Oktober 2022 ausgerechnet die Kandidatin der Fratelli d’Italia, der „Brüder Italiens“, eine Vielzahl der Wählerstimmen für sich gewinnen konnte. Und in der Tat ist die Verbindung der als postfaschistisch geltenden Fratelli d’Italia und der 1943 bis 1945 bestehenden Staatspartei PFR eng, gründeten ausgerechnet deren Ex-Funktionäre die Vorgängergruppierungen der 2012 gegründeten „Brüder Italiens“.
Als „Wölfin im Schafspelz“ oder gar „gefährlichste Frau Europas“ sollte Spitzenkandidatin Giorgia Meloni schließlich bekannt werden, nachdem sie tatsächlich das Amt der ersten Premierministerin Italiens eingenommen hatte – als erste Politikerin mit neofaschistischen Wurzeln, zu denen sie bis heute steht. Gerade mit den Themenfeldern Migrations- und Sicherheitspolitik hatte die gebürtige Römerin aus der rechten Ecke im Wahlkampf (erfolgreich) geworben. Doch das ist mittlerweile ein ganzes Jahr her – und bisher blieb die große Panik aus.
Denn politisch ist es in den vergangenen zwölf Monaten überraschend ruhig geblieben. „Ich bin ziemlich angenehm überrascht“, sagt Polit-Experte Piero Ignazi von der Universität Bologna. „Es war viel Schlimmeres zu befürchten angesichts der Vorschläge ihrer Partei im Wahlkampf.“ Ignazi verfolgt Melonis Werdegang seit vielen Jahren und betont, dass man die Römerin keinesfalls unterschätzen dürfe.
Großer Zuspruch in der italienischen Bevölkerung
Doch bisher ist von der gefährlichen Rechtspopulistin nicht viel zu sehen. Bürgernah, sogar mit eigenem Podcast, und ruhig gibt sich die 46-jährige. Mit 29 Prozent hat die Fratelli d’Italia ihr Wahlergebnis aus dem Vorjahr (26 Prozent) laut Umfragen überbieten können – und ist somit nun rund zehn Prozentpunkte stärker als die größte Oppositionspartei Partito Democratico – und auch Meloni selbst ist Befragungen zufolge die beliebteste Politikerin des Landes. Die Zustimmung für Meloni im Land selbst wächst. Auch, weil sie sich in Vorsicht übt. Entscheidungen, die sie angreifbar machen könnten, vermeidet sie bislang weitgehend. Auch rhetorisch zeigt sie sich bedacht und weniger angriffslustig als manch anderer Vertreter des rechten Spektrums. Als „angenehm gemäßigt“ wird sie beispielsweise vom Chef der Konrad-Adenauer-Stiftung in Rom, Nino Galetti, bezeichnet. Eine harte Hand hat sie dabei im vergangenen Jahr immer nur dann gezeigt, wenn sie unter Druck geriet. So zum Beispiel auch jüngst mit ihrer Entscheidung, für Migranten ohne Bleiberecht die Abschiebehaft auf 18 Monate zu verlängern und Kaution von ihnen zu verlangen.
Migration. Was einst das Kernthema im Wahlkampf war, plätschert mittlerweile eher so vor sich hin. Denn auch Meloni hat auf die harte Tour lernen müssen, dass es sich in der Opposition leichter fordern als in der Regierung umsetzen lässt. Und so wurde aus dem Hauptwahlversprechen, die illegale Einwanderung einzudämmen, bisher nichts. Im Gegenteil, im laufenden Jahr kamen bereits 140.898 Flüchtlinge (Stand: 19. Oktober 2023) an der italienischen Küste an – doppelt so viele wie 2022. „Die Resultate sind nicht, was wir erhofft haben“, so Meloni selbst. Sie hatte gewollt, dass Tunesien die Überwachung seiner Grenzen verstärkt – im Austausch gegen finanzielle Hilfen der EU. Das hat – bisher – nicht funktioniert. Zum einen, weil Tunesien sich als wenig kooperationswillig herausgestellt hat, zum anderen aber auch, weil es keine wirkliche europäische Einigung gibt. Auch von ihrer viel beworbenen Seeblockade, die sie gemeinsam mit den Regierungen in Afrika etablieren wollte, ist keine Rede mehr. Eine Wende in der Migrationspolitik sei nur in Zusammenarbeit mit den Mittelmeeranrainerstaaten zu erreichen, begründet sie. Um ihre Vision eines Marshallplans für Afrika dennoch durchzusetzen, suche sie „ständig nach Unterstützung in Brüssel“.
Generell scheut sich Meloni, die einst als strikte Euro-Gegnerin galt, nicht davor, in Brüssel anzuklopfen. Nicht nur in Sachen Migration, auch, wenn es um finanzielle Hilfen geht, um das gebeutelte Land nach der Pandemie und in Zeiten steigender Energiekosten und Inflation wieder voranzubringen. Doch Meloni fordert nicht nur von der EU, sie hat sich auch als verlässliche Partnerin entpuppt – und das ausgerechnet in Sachen Ukraine-Krise. So unterstützte sie nicht nur die Stärkung der Ukraine durch die Nato oder billigte eine Verlängerung der Waffenlieferungen an Kiew, sondern nahm auch selbst großzügig aus der Ukraine geflüchtete Menschen auf. Wo Kritiker von Doppelmoral im Hinblick auf Geflüchtete aus dem afrikanischen Raum sprechen, zeigt die EU sich begeistert. Und auch in Italien selbst stößt dieses Tun bisher auf wenig Widerstand. Doch während sie den Abstand zu Putin deutlich macht, mangelt es an Abgrenzung zu anderen rechtsnationalen Staatschefs wie Ungarns Ministerpräsident Viktor Orbán, der Meloni gern auch mal öffentlich als eine „Freundin“ bezeichnet.
Dennoch: Die Römerin hat das geschafft, was vielen Politikern nicht gelingt. Sie hat den Wandel geschafft, sich an herausfordernde Zeiten anzupassen. „Meloni wirkt heute weniger als eine aggressive Führungspersönlichkeit und scheint erfahrener als andere, eher durchschnittliche populistische Führer“, sagt Lorenzo Castellani, Professor für Geschichte der politischen Institutionen an der Luiss University in Rom und spricht von einem „ganz neuen Stil der politischen Führung“: „Es scheint eine Mischung zu sein aus einem medial sehr präsenten nationalistischen Aufritt und einer von viel Arbeit geprägten schweigsamen Regierung.“
Also alles richtig gemacht? Am Ende waren es wohl auch die nahezu idealen Bedingungen in den vergangenen zwölf Monaten, die Meloni zum Erfolg verhalfen. Keine größeren internen Krisen, keine zwingenden Entscheidungen. Zudem hat Meloni kaum Konkurrenz. Die italienische Opposition ist gespalten wie nie, der Auftritt eher orientierungslos als zielführend. Es gibt schlicht keine Alternative zur aktuellen Mitte-rechts-Regierung. „Italien erlebt seit zehn Jahren politische Instabilität“, so Castellani. „Erstens ist Matteo Salvini viel schwächer als zuvor und kann ihre Führung nicht gefährden. Und zweitens: Der Verlust von Silvio Berlusconi hat ein Machtvakuum innerhalb der Partei Forza Italia geschaffen.“
Traditionelles Familienbild
Also alles halb so wild? Unterschätzen dürfe man nicht, dass Italien sich bisher eher in ruhigem Fahrwasser bewegte, warnen Experten wie Ignazi. Denn dass Giorgia Meloni durchaus auch anders kann als das Bild der volksnahen Freundin, hat sie bereits gezeigt. Hält die Mutter einer Tochter doch eisern am traditionellen Familienbild fest – und setzte dieses auch in diesem Jahr durch: Im März leitete die Regierung Meloni Maßnahmen ein, die ein durch Leihmutterschaft im Ausland geborenes Kind nicht zum rechtlichen Nachkommen eines gleichgeschlechtlichen Paares machen. Zwar gab es nie ein Gesetz in Italien, das dies explizit einforderte, doch zeigten sich viele Gemeinden offen und trugen beide Elternteile in die entsprechenden Dokumente ein. Damit ist nun Schluss und es soll nur noch der biologische Elternteil Anerkennung finden. „Meloni hat ausdrücklich gesagt, dass Frauen mit mehr als zwei Kindern einen Beitrag zur Gesellschaft leisten. Es besteht die Vorstellung, dass die natürliche Familie, die aus heterosexuellen Verbindungen hervorgeht, die Grundlage der Gesellschaft ist, während gleichgeschlechtliche Paare, Alleinerziehende oder Personen, die sich gegen Kinder entscheiden, diskriminiert wurden und für den Staat einen geringeren Wert haben“, kritisiert auch Luiss-Professor Gianfranco Pellegrino.
Auch ihre bereits im Wahlkampf angekündigte Streichung des Bürgergelds sorgte für kurze Proteste, die sich aber eher regional begrenzt hielten. Und das, obwohl es in Italien keinen Mindestlohn gibt und somit eine große Zahl gerade auch junger Menschen von dieser Streichung betroffen sind.
Das sei noch nicht alles gewesen, warnt Ignazi. „Sie bleibt die gefährlichste Frau Europas, trotz ihres freundlichen Auftretens“, betont er. „Man darf sich vom Anschein nicht täuschen lassen. Wenn es eine Situation der Krise, der Schwierigkeiten, der Spannungen gibt, werden wir sehen, ob das, was lange Zeit ihr Wesen war, zum Vorschein kommen wird.“