Warum das Symbol für Nachdruck der Verzweiflung nachdrücklich nahe ist
Das Ausrufezeichen verharrt auf einer Parkbank. Es hat das Gesicht in beide Hände vergraben und starrt auf den Teich gegenüber, wo Enten gleichmütig ihre Kreise ziehen und Frösche in chaotischem Orchester quaken. „Die Welt hat den Verstand verloren!“, ärgert es sich. „Sie schubsen mich von Posting zu Posting, zerren mich von Spalte zu Spalte.“
Früher wurde es bei bedeutsamen Ereignissen wie der Mondlandung oder gewonnenen Fußballweltmeisterschaften engagiert. „Heute genügt es, wenn der Wendler seine Flamme bei Onlyfans anmeldet oder Münchens Oberbürgermeister beim Oktoberfestanstich mit zwei Schlägen einen Rekord aufstellt. Von den Beziehungsdramen Heranwachsender auf Whatsapp und den verbitterten Bubbles auf X, ehemals Twitter, ganz zu schweigen.“
Das punktierte Wesen beklagt sich unverhohlen weiter – und packt über Kollegen aus: „Ein Semikolon, mit dem ich gemeinsam das Duden-Diplom erworben habe, genießt seinen vierten Urlaub in diesem Jahr. Es lümmelt auf Jamaica in einer Hängematte, raucht genüsslich Cohibas und schickt mir Selfies von seinem Glück. Ein befreundeter Gedankenstrich macht ein eigenwilliges Sabbatical: Er cruist Tag für Tag im Cadillac durch West Hollywood und pfeift Klammeräffchen, wie er die @-Zeichen frivol nennt, hinterher. Rauten und Sternchen bekommen dank Hashtags und gendersensibler Sprache zwar immer mehr Aufträge, aber sie hatten nie viel zu tun und sind froh, jetzt über die Runden zu kommen. Und ich? Muss unzählige Überstunden ableisten – und werde obendrein falsch eingesetzt. Es schlaucht und frustriert mich.“
Das Sonderzeichen erhebt sich und macht einige Schritte, ehe es voller Zorn einen Stein gegen einen Stahlmülleimer kickt. „Wann begreift die Menschheit, dass nicht der Lauteste Recht hat, sondern derjenige mit den treffendsten Argumenten? Manchmal habe ich das Gefühl, die Qualität eines Satzes nimmt proportional zu meiner Buchung ab. Die Leute leiden an kommunikativer Labilität.“
Der Weg des Ausrufezeichens führt aus dem Park hinaus, direkt zur „Buchstabensuppe“, einer Beratungsstelle für ausgebrannte Satzzeichen. Dort entlädt es im Einzelgespräch mit einem Komma den Rest seiner Rage: „Was die Menschen lesen, beeinflusst ihre Vorstellung von ‚Normalität‘. Wird immer schriller und beleidigender formuliert, scheint das erlaubt, akzeptiert oder gar angesagt zu sein.“
Die Therapeutin nickt, reicht ihrem Klienten ein Taschentuch und schöpft aus ihrem Erfahrungsschatz: „Neben einer gewissen Gelassenheit dienen auch Nebensätze einem ausgewogeneren Dialog. Ich weiß, wovon ich rede. Unser Job kann aber nicht sein, denen aus Fleisch und Blut das beizubringen.“
Das Ausrufezeichen fühlt sich bestärkt und fährt trotzig fort: „Wenn alles unheimlich wichtig ist, was lösen Begriffe wie ‚Tod‘, ‚Krieg‘ und ‚Terror‘ überhaupt noch aus in den Köpfen? Wie sehr haben sich Sensibilität und Empathie bereits abgeschmirgelt? Die verbliebenen Schreiber mit Fingerspitzengefühl müssen standhaft bleiben und der Versuchung der Emotionalisierung widerstehen.“
Die Worte des Ausrufezeichens decken sich mit seinem Arbeitsvertrag, der besagt, dass es nach Ausrufen, Wünschen, Aufforderungen und bedingten indirekten Fragen zum Einsatz kommt. Dennoch wird es zusehends missbräuchlich verwendet, sei es in sozialen Medien, in der Boulevardpresse oder in der Werbung. Wollen wir zulassen, dass Social-Media-Narzissten, Sensationsjournalisten und tollwütige Texter wildes Geschrei kultivieren?
Die Zeit ist reif, aufzustehen und für Bedingungen zu kämpfen, unter denen das Ausrufezeichen stolz seiner Rolle in der Interpunktion nachgehen kann. Ohne sich überfordert oder schuldig zu fühlen. Jeder Einzelne trägt dazu bei, indem er das Symbol sparsamer und bewusster nutzt; und andere darauf hinweist, dass überzeugende Botschaften heller leuchten, wenn sie ohne Verstärker aufwarten.
Denn ein Argument gewinnt niemals an Güte, wenn es gebrüllt wird. Im Gegensatz liefert der Absender einen Grund, es umso kritischer zu hinterfragen. Punkt.