Seit dem erneuten Krieg in Nahost ist die Zahl der antisemitischen Straftaten in Deutschland massiv angestiegen. Juden in Deutschland leben in Angst. Doch von der bürgerlichen Mitte ist wenig zu hören.
Wer die politisch schwierige Gemengelage im Nahen Osten erahnen will, muss nicht erst die gut 3.000 Kilometer nach Tel Aviv fliegen, sondern kann das auf einer der Nahost-Demonstrationen in Deutschlands Städten erleben. Bei einer Großdemonstration auf dem Berliner Alexanderplatz beispielsweise gibt es bereits vor dem offiziellen Beginn der Pro-Palästina-Kundgebung reichlich Reibereien zwischen den Gruppen. Auffällig ist, dass auch zwei israelische Gruppierungen daran teilnehmen wollen.
Den ersten Ärger gibt es, nachdem durchgesickert ist, dass auch ein Vertreter der Marxistisch Leninistischen Partei Deutschlands (MLPD) eine Rede halten will. Das lehnt eine der beiden israelischen Gruppierungen kategorisch ab, da die MLPD als antisemitisch gilt, was aufgrund der Aussagen der Partei nicht ganz von der Hand zu weisen ist. Die andere israelische Gruppe, die der Bewegung der Kibbuziner – also mit einer eher sozialistischen Ausrichtung – zugerechnet wird, will die MLPD dabeihaben. Aber dazu kommt es nicht. Die Marxistisch Leninistische Partei darf nicht dabei sein.
Frage nach der Solidarität
Unterdessen rumort es bereits an anderer Stelle. Diesmal geht es darum, wer bei dem Aufzug vorne läuft. Der palästinensischstämmige Anmelder beansprucht dieses Recht logischerweise für seine Gruppe. Doch eine weitere Gruppe, die weit mehr Menschen auf die Straße gebracht hat als der Anmelder, beansprucht ebenfalls, einfach aufgrund der mitgebrachten Menschenmenge, dieses Recht für sich. Der Veranstalter lehnt dies unter Hinweis auf die angebliche Nähe der Gruppe zum mittlerweile verbotenen Netzwerk Samidoun ab. Die umstehenden Reporter können dies nicht wirklich überprüfen, die Berliner Polizei selbstverständlich auch nicht, und die entscheidet dann nach dem Anmelder-Prinzip. Dann gibt es noch einige Diskussionen mit einer Gruppe, die angeblich der Fatah nahesteht, einer Partei in den Palästinensischen Autonomiegebieten. Besagte Gruppe sieht sich ebenfalls benachteiligt. Am Ende dieses Samstags zieht die Polizei eine positive Bilanz mit ein paar Freiheitsbeschränkungen, was bei einem Aufzug mit über 8.000 Menschen normal sei.
Eine Teilnehmerzahl, von der die Pro-Israel-Kundgebungen nur träumen können. Vertreter der jüdischen Gemeinde und des Zentralrats der Juden sind darüber nicht minder entsetzt als auch einige Deutsch-Israelische Vereine. Während Bundeskanzler Olaf Scholz mehrfach das Existenzrecht Israels als deutsche Staatsräson unterstrichen hat, scheint dies in Teilen der Bevölkerung komplett zu verhallen. Abgesehen von den spärlich besuchten Pro-Israel-Demonstrationen fragt sich der Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschen, Josef Schuster nicht ganz zu Unrecht, wo die Solidaritätsbekundungen der bürgerlichen Mitte in Deutschland bleiben. „Vor anderthalb Jahren, nach dem russischen Angriff auf die Ukraine, hingen von Hunderttausenden Balkonen ukrainische Fahnen in den deutschen Städten. Doch wo sind jetzt die israelischen Fahnen? Wo sind die Lichterketten? Wo sind die kritische Künstler?“
Für Zentralratspräsident Schuster zeugt das von einer unterschwelligen Form eines latenten Antisemitismus in Deutschland, der nicht weniger schlimm ist als die judenfeindlichen Ausschreitungen in den muslimisch geprägten Vierteln deutscher Großstädte nach dem Hamas-Massaker vom 7. Oktober.
Latenter Antisemitismus
Auch für den Beauftragten der Bundesregierung für Jüdisches Leben in Deutschland, Felix Klein, ist das fehlende Engagement der bürgerlichen Zivilgesellschaft alarmierend. „Ein antisemitisches Grundrauschen, mit regelmäßigen Ausschlägen nach oben, ist leider Gottes seit Jahrzehnten für die in Deutschland lebenden Juden ein Normalzustand. Aber das, was wir derzeit erleben, ist Judenhass auf einem in Deutschland seit Jahrzehnten nicht mehr erlebten Niveau“, so Felix Klein im FORUM-Gespräch. Diese Aussage kann auch als unterschwellige Kritik an das linksgrüne Bürgertum verstanden werden, von dem derzeit nur wenig bis gar nichts bis zum latenten Antisemitismus zu hören ist. Außer Sonntagsreden. Da wirkt es für die in Deutschland lebenden Juden obendrein wie Hohn, dass ausgerechnet im kommenden Bundeshaushalt für die Bundeszentrale für politische Bildung 20 Millionen Euro gestrichen werden sollten. Davon hat man inzwischen aber wieder Abstand genommen.