Der FC Girona schickt sich an, die größte Überraschung des europäischen Fußballs zu werden. Der Erfolg ist eng mit dem charismatischen Trainer Miguel Ángel Sánchez Muñoz verbunden – hat jedoch auch seine Schattenseiten.
Vor einigen Wochen richtete Trainer Miguel Ángel Sánchez Muñoz, auch bekannt als „Míchel“, seinen Blick auf die Stehtribüne des Stadions im Madrider Stadtviertel Vallecas, das von den „Bukaneros“, den linksradikalen Ultras des Erstligisten Rayo Vallecano, bevölkert wird. In diesem Moment überkamen ihn Gefühle der Ergriffenheit, Dankbarkeit und des Stolzes. Die „Bukaneros“ hatten ein Transparent entfaltet, das Míchels Familiengeschichte und Herkunft thematisierte. Darauf stand zu lesen: „Míchel, Enkel der María: Willkommen im Viertel“. La María ist in Vallecas eine bedeutende Figur, da sie als Gemüsehändlerin Kunden anschreiben ließ, wenn es finanziell eng wurde – eine Situation, die sie selbst gut kannte. Nachdem die Partie vorbei war und Míchel das Spielfeld verlassen hatte, verweilte er lange vor den „Bukaneros“. Dort nahm er nicht nur Ehrbekundungen entgegen, sondern versuchte auch durch Gesten auszudrücken, was er kurz darauf in der Pressekonferenz mit einem oft wiederholten Wort sagen sollte: „Gracias.“ Die Szene berührte besonders, da Míchel im Alter von 48 Jahren schon seit geraumer Zeit nicht mehr bei Rayo Vallecano angestellt ist (wo er einst als Spieler und Trainer tätig war), sondern nun bei dem letzten Gegner. Mit eben diesem Team hatte er die drei Punkte aus dem Arbeiterviertel Vallecas entführt. Dieses Team ist der FC Girona, momentan die größte Überraschung in den großen Ligen des europäischen Fußballs. Obwohl das Saisonziel darin bestand, sich in der Primera División zu etablieren, kann dieses Ziel bereits jetzt als erreicht betrachtet werden. Bis zur Länderspielpause konnte Girona 34 von 39 möglichen Punkten holen, dabei 31 Tore erzielen, in fünf Spielen einen Rückstand aufholen und beeindruckende sechs Auswärtssiege in Folge einfahren. Am letzten Spieltag vor der Pause zum Beispiel lag das Team früh in Vallecas zurück, konnte jedoch durch Tore von Artem Dovbyk und Sávio noch den Sieg erringen. Durch diesen Erfolg verteidigte Girona nicht nur die Tabellenspitze – Real Madrid auf dem zweiten Platz hat nun nach dem 5:1 gegen den FC Valencia einen Rückstand von zwei Punkten – sondern baute auch den Vorsprung auf den fünften Platz auf zwölf Punkte aus. Damit besteht die Möglichkeit einer Qualifikation für die Champions League. Oder geht vielleicht sogar mehr?
Bisher eher durch Basketball bekannt
Der FC Girona erinnert in Spanien schon länger an Leicester City – die Mannschaft also, die 2016 die Premier League gewann und zum Synonym für Cinderella-Meisterteams wurde. „Wenn wir träumen, träumen wir vom Maximum“, sagte Míchel am Samstag, als er das Fußballmärchen Girona um ein neues Kapitel erweiterte. Girona, die Hauptstadt einer Provinz in Katalonien, erlangte ihre Berühmtheit nie durch den Fußball, sondern durch ihre vier Flüsse, die malerischen Gassen und im sportlichen Kontext vor allem durch den Basketball. In der Saison 2006/07 war der renommierte Trainer Svetislav Pesic hier tätig. Darüber hinaus spielt auch die Gastronomie in Girona eine bedeutende Rolle; Ferran Adrià machte die Stadt Roses, die zu Girona gehört, durch sein Restaurant El Bulli weltbekannt. Dieses war lange Zeit im Voraus ausgebucht, bis es schließlich geschlossen wurde. Jetzt ist ein anderes Lokal regelmäßig gut besucht: das „Montilivi“-Stadion, das Platz für etwa 14.000 Zuschauer bietet und nahezu ausgelastet ist, wenn die gesamten 13.000 Vereinsmitglieder vor Ort sind. Dazu zählt auch der ehemalige katalanische Regierungschef Carles Puigdemont, der im belgischen Exil lebt, da die spanische Justiz seit Jahren gegen ihn ermittelt. Dennoch spielt er eine bedeutende Rolle bei der Bildung der künftigen spanischen Regierung. Die Sozialisten sind auf die Unterstützung der katalanischen Separatisten angewiesen. Diese dürften erfreut zur Kenntnis nehmen, dass der Fußball, der in Girona produziert wird, nicht nur den FC Barcelona ästhetisch übertrifft, sondern auch den Fußball des spanischen Staates beeinflusst. Girona ist nämlich eine Hochburg des bürgerlichen, katalanischen Separatismus. Diese Tatsache ist umso bemerkenswerter, wenn man bedenkt, dass der FC Girona noch vor gut einem Jahr Tabellenvorletzter war und im Sommer Schlüsselspieler an andere Vereine abgeben musste. Diese Spieler gehörten zu einer Mannschaft, die nach einer beeindruckenden Aufholjagd beinahe die Qualifikation für die europäische Conference League geschafft hätte. Santiago Bueno spielt mittlerweile für Wolverhampton, Oriol Romeu für den FC Barcelona, und Valentín Castellanos, der im April vier Tore gegen Real Madrid erzielt hatte, ist nun bei Lazio Rom aktiv.
„Bist Du überzeugt, dass er der Richtige ist?“
Auf den ersten Blick steht also einem Fußballmärchen nichts im Weg. Der FC Girona ist zwar Teil der „City Football Group“ (CFG), der von Manchester City angeführten Holding, zu der weltweit Dutzende von Vereinen gehören. Die CFG ist 2017 eingestiegen und besitzt derzeit 47 Prozent, während der Rest (außer einem kleinen Anteil, der Kleinaktionären gehört) im Besitz des bolivianischen Multimillionärs Marcelo Claure (35 Prozent) sowie Pere Guardiola (16 Prozent), dem Bruder von City-Trainer Pep Guardiola, liegt. Trotz der finanziellen Unterstützung der CFG aus Abu Dhabi durchkämmt Sportdirektor Quique Cárcel weiterhin die unteren Ebenen des Transfermarkts. Die Ablösesummen der Startelf vom vergangenen Samstag beliefen sich auf gerade einmal 20,2 Millionen Euro, wobei allein 7,7 Millionen Euro auf den Stürmer Dovbyk entfielen. Der Großteil des Kaders wurde ablösefrei verpflichtet, darunter der ehemalige Bayern-München-Profi Daley Blind oder Stürmer Sávio, der bei seinen vorherigen Stationen PSV Eindhoven (Niederlande) und ES Troyes (Frankreich) nie auf die 13 Saisonspiele und vier Tore kam, die er jetzt bereits verzeichnet hat. Entgegen der Vorstellung einer Filiale wurden beim Triple-Sieger Manchester City derzeit nur zwei Spieler ausgeliehen. Die Entwicklung dieser Spieler spricht Bände über die Arbeit von Trainer Míchel und das Vertrauen, das in ihn gesetzt wurde, als der Abstieg zu drohen schien. „Bist du überzeugt, dass er der Richtige ist?“, fragte Guardiola Manager Cárcel und beendete die Diskussion, als Cárcel zustimmte. Dies hat zur Folge, dass Míchel in Girona bald genauso unvergessen sein wird wie Großmutter María in Vallecas.
Der Einfluss von Míchel ist unbestritten – der Einfluss der CFG wird aber derzeit gern ein wenig unter den Tisch fallen gelassen. Es steht diesem Fußballmärchen des kleinen Underdog einfach zu sehr im Weg. Es gibt aber noch ein weiteres Kapitel: Alle Clubs, die Teil der Holding-Gesellschaft sind, bekommen Einblick in das sogenannte Guardiola Playbook. Gemeint ist damit eine zentralisierte Datenbank mit Informationen, die es den Trainern von Mumbai bis Montevideo ermöglichen, von den Ideen Pep Guardiolas zu profitieren.
Darüber hinaus werden Neuheiten in vielen anderen Bereichen wie der Talentförderung, Scouting, medizinischer Versorgung oder Infrastruktur miteinander geteilt. Für Vereine, die vor der Übernahme stehen, ist die Aussicht auf Informationen von enormer Bedeutung und entsprechend verlockend. Und: In den letzten Jahren diente Girona in erster Linie als Ausbildungsstätte für die „Skyblues“: Seit der Übernahme wurden 15 Spieler aus Manchesters Profimannschaft sowie der U23 in den Nordosten Spaniens transferiert. Zum Vergleich: Den viel kritisierten Weg im Red-Bull-Kosmos aus Salzburg nach Leipzig gingen im selben Zeitraum nur sieben Fußballer. Größtenteils handelte es sich dabei um junge, entwicklungsfähige Spieler, die auf hohem Niveau Spielpraxis sammeln sollten. Premier-League-Clubs verfügen anders als Bundesligisten nicht über Zweite Mannschaften. Da kommt so ein kleiner Ausbildungsverein in einem anderen Land gerade recht.