Je älter, desto besser, sagt Heinrich Jung. Der 67-jährige Elektriker aus Ingelheim am Rhein repariert seit 40 Jahren Waschmaschinen, Geschirrspüler oder Staubsauger.
Es ist acht Uhr früh, da klingelt zum ersten Mal das Telefon. Mit spitzen Fingern rückt Heinrich Jung das Headset auf seinen langen, dunkelgrauen Haaren in die richtige Position. „Blitzblumejunggutentag?“ – er spricht die vier Wörter wie eines. Heute wird der 67-Jährige die Welt verändern. Wie jeden Tag seit 1983 natürlich nur ein bisschen. Aber immerhin.
Jungs Büro ist nur 14 Quadratmeter groß. Freie Fläche gibt es eigentlich nicht, zur Werkbank führt eine Schneise zwischen einem monströsen Eckschreibtisch und überquellenden Regalen. Aber Vorsicht! Nicht über die kaputte Nähmaschine am Boden stolpern. Hier also sitzt Heinrich Jung im Erdgeschoss seines Wohnhauses in Ingelheim am Rhein, einer 24.000-Einwohner-Stadt westlich von Mainz. Seit 1983 führt er die Blitzblume, einen Reparaturservice für Elektrogeräte. Heinrich Jung ist gelernter Elektriker, sein Büro ist gleichzeitig Werkstatt. Zwischen Aktenordnern, Zetteln und Zeitschriften liegen Zangen, Schraubenzieher, ein Haargummi, ein Stück Kupferdraht.
Der Anrufer sagt, sein Trockner funktioniere nicht mehr. Er drehe nur noch, wenn man ihn anschubse. Jung blickt durch seine runden Brillengläser auf eine Exceltabelle. „Wie alt ist denn das Gerät?“ – „Fünf Jahre erst.“ Jung seufzt. „Schade.“ Er erklärt dem Anrufer das, was er allen erklärt: sein Je-älter-desto-besser-Prinzip. Wenn ein Gerät 20 Jahre alt geworden ist und dann kaputtgeht, hat es bewiesen, dass es gut funktioniert. Wenn es allerdings nach fünf Jahren schon defekt ist, ja, was sagt das über die Qualität aus? „Tja. Sehnse“. Er verspricht, trotzdem einen Blick drauf zu werfen.
Er, Heinrich, gegen sie, die moderne Wegwerfgesellschaft – das ist sein Kampf, seit 40 Jahren schon. Repariert hat er mit der Blitzblume bereits mehr als 13.000 Waschmaschinen, 7.400 Geschirrspüler, 2.000 Trockner, 1.000 Kühlschränke und 400 Staubsauger.
Aber was nützt das eigentlich, wenn die Leute da draußen in großem Stil trotzdem lieber wegwerfen und neu kaufen, statt alte Geräte zu reparieren? Jedes Jahr verschrotten die Deutschen etwa 853.000 Tonnen Elektroteile, etwa die Hälfte der Geräte wird entsorgt, um sie durch Neuware zu ersetzen. Die großen Hersteller, vermutet Jung, bauen bewusst so, dass Produkte sich immer schneller abnutzen. Mit einem Neukauf verdienen sie mehr als mit der Reparatur. Belegen kann Jung das nicht. Aber er hört und sieht es doch, wie er sagt, jeden Tag: Je jünger das Gerät, desto anfälliger ist es für Fehler. Und desto schwieriger zu reparieren.
Etwa 30 Leute rufen an, bevor Heinrich Jung zwei Stunden später an die Mailbox übergibt. Ungefähr die Hälfte der Anrufer erhielt Tipps, um sich selbst zu helfen. Mit der anderen Hälfte vereinbarte er einen Hausbesuch oder bat darum, das Gerät vorbeizubringen.
Um zu demonstrieren, warum die großen Hersteller ihn so wütend machen, stellt er sich an die Werkbank und hält ein quietschorangenes Plastikgehäuse hoch. „Ein Handmixer aus den 50ern. Schau mal, die Schrauben.“ Vier Stück, Kreuzschlitz, oben, unten, links, rechts. „Die sprechen mit mir. Die rufen: Schraub mich auf!“
Er hat den Mixer schon repariert, ein feiner Draht an der Spule war gerissen. Läuft wieder. Jetzt kramt er etwas Längliches, Graues aus der Pappschachtel: Ein Mixstab der Firma Braun, ein paar Jahre alt. „Und jetzt guck dir das an. Das Teil hat keine einzige Schraube.“ Er schüttelt den Kopf, wird lauter. „Sieht super aus, aber ich zerstöre ihn wahrscheinlich schon beim Versuch, ihn zu öffnen. Die Firma Braun will nicht, dass ich den repariere.“ Er lässt den Mixstab auf die Werkbank fallen. „Das nehme ich zutiefst persönlich!“
Nach der Telefonseelsorge, wie er seine Morgensprechstunde nennt, geht er auf Hausbesuche.
„Alte Siemens. Mach ich immer gern“
Die erste Patientin: Waschmaschine. Fehlerkürzel: „dn.“ (dreht nicht). Eine ältere Dame grüßt an der Tür, sie ist Stammkundin, er war schon oft hier, ein Dutzend Mal bestimmt. Es riecht nach geschmorten Zwiebeln, an den Fenstern hängen Spitzengardinen. Ob sie ihn allein lassen könne, sie habe eben das Mittagessen fertig. Er sei ja quasi daheim. Im Keller steht eine betagte Miele-Waschmaschine, er nennt sie „alte Bekannte“. 87er Jahrgang. Er setzt sich in den Schneidersitz, betrachtet sie kurz, holt den Kreuzschlitz, schraubt das Frontgehäuse ab. So steht sie nun vor ihm, nackt, er kann alles sehen, die blauen und gelben und schwarzen Kabel, ihre Arterien, liegen um die Trommel.
Jung murmelt: „Es ist der Motor … Ich hab’s geahnt.“ Er schraubt das Gehäuse wieder dran, steht auf, kippt die Maschine seitlich an die Wand. Legt sich auf die staubigen Kellerfliesen. Sagt: „Ich versuch es erst minimalinvasiv“ und leuchtet ihre Unterseite an. Nein, er habe den passenden Schlüssel nicht dabei. Da müsse er noch mal wiederkommen.
Waschmaschinen sind seine häufigsten Patienten, etwa jeder dritte Einsatz, schätzt er. In ganz Deutschland machen Waschmaschinen ein Viertel des gesamten Elektroschrotts eines Jahres aus. Dabei sind es oft nur kleine Einzelteile, die nicht länger zu gebrauchen sind.
Nächster Termin. Blick auf den Zettel. Patientin: Geschirrspülmaschine. Fehlerkürzel: „und.“ (undicht). „Ah, jetzt kommt eine alte Siemens. Mach ich immer gern“, sagt er und drückt die Klingel. Im Dachgeschoss steht eine junge Frau barfuß im Türrahmen. Sie führt Heinrich in die Küche, er geht vor die Spülmaschine, wieder Schneidersitz. Auf einem kleinen weißen Aufkleber liest er das Baujahr ab. 1990. Er sieht hoch zur Besitzerin, nickt anerkennend. „Geile Nummer. 31 Jahre, nicht schlecht. Super Teil.“
Der Schalter ist abgebrochen. „Schwierig, den kann man jetzt nicht mehr kleben. Ich werde mich auf Ebay nach einem Ersatzteil umsehen.“ Im besten Fall habe er so einen Schalter noch in einer seiner Schubladen rumliegen. „Ich hebe ja alles auf. Deshalb sieht es bei mir auch so grausam aus.“
Von der Dachwohnung zurück ins Erdgeschoss nimmt er den Fahrstuhl. Ruhig steht er da, Blick nach unten, schmunzelt. Eigentlich sei er kein geselliger Typ; gehe nicht auf Geburtstage oder Volksfeste, lade keine Freunde zum Kaffee ein. Da fühle er sich unwohl, wisse nicht so recht: Wie sich verhalten? Worüber denn reden? Aber mit der Kundschaft, da habe er „viel Spaß“. In der Rolle des Elektrikers kennt er seine Position, weiß, wo er hingehört und welche Aufgabe er hat. Das gibt ihm Sicherheit, und er kann lustig sein und locker. „Das Gerät ist mein Türöffner zum Kontakt mit anderen Menschen.“
Krebsdiagnose vor 16 Jahren
Außerdem, sagt er, sei da ja noch das mit den Geräuschen. Heinrich Jung liebt Geräusche. Genau genommen liebt er Musik. Eine kränkelnde Waschmaschine hat einen anderen Sound, einen veränderten Rhythmus, als eine gesunde. Daran erkennt er viele der Fehler. Für die Ferndiagnose fragt er manchmal Kunden am Telefon: „Und wie hört sich das an, wenn ihre Waschmaschine nur schwergängig dreht?“ Viele sagen dann nur: „Laut.“ Das frustriert ihn. Wie leblos. „Machen Sie mir das Geräusch doch mal vor! Hört es sich so an? RrrRrrRrr – so?“ Hat nicht die deutsche Sprache eine Fülle an Wörtern, die Geräusche beschreiben? „Schnarren, ranzen, rirren, schnörzen, sprutzeln“, zählt er auf und klingt dabei wie ein Poetry-Slammer. Die Hände am Steuer, redet der 65-jährige Heinrich Jung sich in einen Zustand irgendwo zwischen Passion und Rage. Er gurgelt die Rs und lässt die S-Laute zischen.
Die letzte Patientin für heute: Waschmaschine. Fehlerkürzel: „schwerg.“ (schwergängig). Heinrich Jung kennt den Mann, der jetzt öffnet, seit 25 Jahren. Er wirft nur einen Blick in die Waschtrommel, hat gleich einen Verdacht, sagt „abgeschliffene Türmanschette“ und holt einen schmalen, verbogenen Eisenstab aus seinem schwarzen Koffer. „Mein wichtigstes Werkzeug: ein Einweg-Drahtbügel. Ich sag’s ja, die einfachen Dinge sind die besten.“ Er schiebt ihn zwischen Trommel und Gehäuse und friemelt ein bis zur Unkenntlichkeit zerfetztes, nasses Stück Stoff heraus. „Wenn die Türmanschette abgeschliffen ist, rutschen da schnell Socken rein. Ist aber nicht weiter schlimm. Ich empfehle ein Wäschenetz.“ Heinrich Jung glaubt: Die Leute geben ihr Gerät viel zu schnell auf. Ihm gelinge es noch fast jedes Mal, seine Patienten zu retten.
Vor etwa 16 Jahren war Heinrich Jung selbst Patient. Fehlerkürzel: Krebs. Sein HNO-Arzt ertastete eine Metastase an seinem rechten Lymphknoten. Der Primärtumor saß am Zungengrund. Erst OP, dann Bestrahlung und Chemo. „Ich habe meinen Körper den Chirurgen überlassen wie eine kaputte Waschmaschine.“ Er steuert sein Auto in den Feierabend. „Ich habe ihnen vollkommen vertraut“, sagt er. Zögert kurz. „Wir sind alle Tüftler.“