Am Sonntag empfängt Bayer Leverkusen Borussia Dortmund. Es ist ein wegweisendes Spiel – in dem sich zeigen könnte, ob es zu einer Wachablösung unter den Bayern-Herausforderern gekommen ist.
In den vergangenen knapp 15 Jahren gab es in Fußball-Deutschland auf die Frage nach dem großen Herausforderer des FC Bayern München stets eine Antwort: Borussia Dortmund. Der BVB war als letztes Team außer den Münchnern 2011 und 2012 Deutscher Meister geworden, hatte 2012 gar das Double aus Meisterschaft und Pokalsieg geholt und 2013 gemeinsam mit den Bayern für ein rein deutsches Champions-League-Finale gesorgt. Und in den nun elf Jahren des bayerischen Meister-Abonnements waren die Westfalen siebenmal Vize-Meister geworden. Im DFB-Pokal waren sie in diesem Zeitraum mit fünf Final-Einzügen und drei Titeln auch fast so erfolgreich wie die Münchner, die sechsmal das Endspiel erreichten und es fünfmal gewannen.
Es war also ganz klar: Borussia Dortmund ist die Nummer zwei im Lande. Und die direkten Duelle zwischen dem BVB und den Bayern wurden zum „deutschen Clásico“ hochgejazzt. Was sich zuletzt meist als heiße Luft erwies: Von den jüngsten zehn Liga-Duellen gewannen die Münchner neun, die meisten deutlich, eines endete 2:2. Dennoch schien nahezu allen Fußball-Fans im Land klar: Wenn ein Verein irgendwann den FC Bayern vom Sockel stoßen kann, dann nur Borussia Dortmund.
Vergangene Saison fast am Ziel gewesen
Und in der letzten Saison war es dann auch fast so weit. Nach einer Aufholjagd gingen die Dortmunder als Tabellenführer in den letzten Spieltag, der ein Heimspiel gegen Mainz als scheinbar ideale Vorlage bereithielt. Mit einem 2:2 verspielte der BVB den Titel, weil die Münchner, selbst im damals wackligen Zustand im entscheidenden Moment noch eiskalt gewannen, durch einen Treffer in der 89. Minute mit 2:1 in Köln.
Dennoch schien im Sommer klar: Durch den Frust und die Enttäuschung angespornt, setzt der BVB nun endgültig zum Angriff auf die Bayern an. Und machte daraus auch kein Geheimnis: „Wir werden definitiv angreifen“, sagte Club-Chef Hans-Joachim Watzke. „Die Chance wird wiederkommen. Ganz sicher“, erklärte Sportchef Sebastian Kehl: „Wir haben gezeigt, dass wir nah dran sind.“ Die Rückrunde sei „die eines Meisters“ gewesen. Und Trainer Edin Terzic hatte schon direkt nach dem Mainz-Spiel unter Tränen erklärt, es tue weh, dass man die Fans nicht habe belohnen können: „Aber wir werden das tun, es wird halt nur noch ein bisschen länger dauern. Egal, wie groß der Schmerz heute ist, es wird die Motivation für morgen sein.“
Doch der Start war von Beginn an holprig. Beim 1:0 gegen Köln am ersten Spieltag schien der nun im Tabellenkeller feststeckende FC lange dem Sieg näher, ebenso mit Bochum ein weiterer Abstiegskandidat beim 1:1 am zweiten Spieltag. Und am dritten verspielte der BVB im eigenen Stadion eine 2:0-Führung gegen Liga-Neuling Heidenheim, der nach dem 2:2 den historisch ersten Bundesliga-Punkt bejubeln durfte. Danach setzte Terzic noch mehr auf Stabilität. Und nach den 1:0-Arbeitssiegen gegen Wolfsburg und Bremen stellte er zufrieden fest: „Wir haben versucht, im Sommer unsere Schlüsse zu ziehen. Weniger sexy, mehr Erfolg. Wir haben lange genug in den letzten zehn Jahren schönen und sexy Fußball gezeigt, der am Ende aber nicht dazu geführt hat, unsere maximalen Ziele zu erreichen.“
Was ist im Sommer schiefgelaufen?
In das Heimspiel gegen die Bayern ging der BVB Anfang November mit 17 Ligaspielen in Folge ohne Niederlage. Für viele war das eine Statistik, die wahre Probleme überdeckte, doch Terzic stellte fest, man könne „von einer konstanten Entwicklung sprechen“ und müsse angesichts der Ausbeute in 2023 „in Europa schon gucken, ob das noch einer anderen Mannschaft gelungen ist“. Es folgte ein ernüchterndes 0:4 gegen die Münchener, die drei Tage zuvor noch durch eine Niederlage bei Drittligist Saarbrücken aus dem Pokal geflogen waren. Und weil danach auch noch eine 1:2-Niederlage in Stuttgart mit einer erschreckend schwachen ersten Halbzeit folgte, wurden rund um den BVB nach dem elften Spieltag plötzlich andere Zahlen bemüht: Nur Tabellenplatz fünf, acht Zähler hinter dem FC Bayern und gar zehn hinter Bayer Leverkusen. Und es tauchte sogar eine erschreckende Statistik auf, die Wasser auf die Mühlen jener Kritiker war, die behaupteten, der BVB habe mehr Punkte glücklich gewonnen als unglücklich verloren: Nach den „expected goals“, die beschreiben, wie viele Tore jedes Team aufgrund seiner Chancen eigentlich erzielt haben müsste, kam die Borussia auf einen Wert von 20:21 statt des eigentlichen Torverhältnisses von 21:17.
Was ist also schiefgelaufen im Sommer? Da sind sicher einige Dinge zu nennen. Zum einen hat der knapp verpasste Titel, den viele unbewusst wohl tatsächlich direkt als derzeit einmalige Chance eingestuft hatten, offenbar mehr genagt als erhofft. Zum zweiten verloren die Dortmunder mit dem 19-jährigen Jude Bellingham, der bei Real Madrid direkt zum Mittelfeld-Chef aufstieg und sogar die Torschützenliste in Spanien anführt, nach Stürmer Erling Haaland im Vorjahr den zweiten künftigen Weltstar innerhalb kurzer Zeit. Drittens tat sich der BVB auf dem Transfermarkt schwer, lehnte offenbar Spieler wie den in Leverkusen als fehlendes Puzzlestück ausgemachten Granit Xhaka ab und holte dafür Spieler wie Felix Nmecha und Marcel Sabitzer, die Eingewöhnungsprobleme offenbarten. Und viertens fielen gerade offensiv im nach seiner Krebserkrankung eigentlich so bemerkenswert zurückgekommenen Sébastien Haller sowie Youssoufa Moukoko und Karim Adeyemi viele Spieler in ein Formtief. Und im Umfeld wird quasi seit dem Heidenheim-Spiel im September immer wieder gefragt, ob der aus der eigenen Kurve stammende Terzic die Probleme beheben kann. Er hat viele starke Befürworter, allen voran Boss Watzke, der kurz vor dem Saisonstart klargestellt hatte: „Wir gehen die nächsten Jahre den Weg mit Edin Terzic. Punkt, aus.“ Aber die Zahl der Kritiker mehrt sich.
Neuer Bayern-Rivale im Rennen
Insgesamt sind das nicht nur ein paar Probleme zu viel, um den Bayern Paroli bieten zu können. Der BVB ist gerade drauf und dran, seinen Status als Nummer zwei in Deutschland zu verlieren. Denn knapp 100 Kilometer südlich ist bei Bayer Leverkusen bisher quasi all das perfekt gelaufen, was in Dortmund hakte. Die Transfer-Phase mit den Verpflichtungen der voll eingeschlagenen Leistungsträger Xhaka, Jonas Hofmann, Victor Boniface oder Alejandro Grimaldo verlief perfekt. Trainer Xabi Alonso entwickelt das Team in beeindruckender Art und Weise, junge Spieler wie Florian Wirtz entwickeln sich prächtig, die Bank scheint stärker besetzt als in Dortmund. Die Leverkusener spielen begeisternden Offensiv-Fußball, der von einer großen Selbstverständlichkeit geprägt ist, und sie sind defensiv außer bei Standards dennoch sehr stabil. So gewann Bayer 16 der ersten 17 Pflichtspiele –
und das eine nicht gewonnene war fast der größte Sieg. Denn das 2:2 beim FC Bayern war Leverkusen dem Liga-Primus nicht nur ebenbürtig. „Das hat es glaube ich die letzten zehn Jahre nicht gegeben, dass eine Mannschaft die Bayern in München beherrscht“, sagte Sky-Experte Dietmar Hamann: „Und das haben sie über 70 Minuten gemacht.“ Weshalb sich sein Kollege Lothar Matthäus auch festlegte: „Für mich ist Bayer Leverkusen sogar der größte Rivale der Bayern.“ Und eben nicht mehr der BVB.
All das steht am kommenden Sonntag nun auf dem Prüfstand: Denn dann muss Borussia Dortmund in Leverkusen antreten. Dann messen sich der natürliche Rivale der Bayern und der neu gewachsene direkt. Bei einem Leverkusener Sieg lägen nach 13 Spielen 13 Punkte zwischen beiden, im Falle eines Dortmunders nur noch sieben. Der BVB kann die Verhältnisse also einigermaßen zurechtrücken und sich Selbstvertrauen für eine erneute Aufholjagd wie im Vorjahr verschaffen, als er nach damals nur 15 Spielen als Sechster in die Winterpause gegangen war.
Eine Niederlage würde die Diskussionen aber richtig anheizen: Darüber, ob Terzic noch der Richtige ist. Darüber, ob Watzke sich zu früh und zu deutlich zu ihm bekannt hat. Darüber, ob Kehl im Sommer zu schlecht eingekauft hat. Darüber, ob bei dem einen oder anderen Spieler die Qualität reicht. Und sollten nach weniger als der Hälfte der Saison gefühlt schon zwei der vier Champions-League-Plätze unerreichbar sein, müssten die Dortmunder aufpassen, sich angesichts der Stärke von RB Leipzig und der Entwicklung von Eintracht Frankfurt überhaupt in die Königsklasse zu retten, die als absolutes Mindestziel gilt.
Deshalb steht vor diesem Duell fest: Beide haben am Sonntag einiges zu gewinnen. Dortmund hat aber eindeutig mehr zu verlieren.